Jakob Leiner: Gewetter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jakob Leiner: Gewetter

Leiner-Gewetter

Gewetter 23.10.
Colmar, Altstadt
11–12 Uhr

metallisches Licht
das man mit grau beschreiben
würde
aber eigentlich unbunt meint
heller als Schwarz
dunkler als Weiß
subtraktive Mischung
C=M=Y
und manchmal Strahlenbüschel
im Abkühlungsnebel das ist doch
[…]
plus Tyndall-Effekt.

sanfte
Böen oder der eigene Laufwind
beim Pflastersteingang
um die angenagte Ecke
Sankt Martins
Krone
gebettet auf Aerosol
Produkt der übersättigten Luft
kein Himmel darüber
Helligkeit
[…]
auffliegend.

 

 

 

Jakob Leiners neuer Gedichtband

wirft sich der Natur an den Hals, mal bedürftig, mal ungestüm. Es ist eine Hommage an das langsame Reisen und Begreifen, quer durch die Jahreszeiten, kreuz und quer durch Deutschland und Europa – der Versuch einer veränderbaren Weltwahrnehmung, indem an ein zyklisches Zeitempfinden erinnert wird. Kairos und Chronos. Was bleibt? Kann sich das anthropozentrische Spiegelbild (Wer findet das Schönste im ganzen Land?) überhaupt noch mit echter Schönheit anfreunden? Welche Chronik des Vermeidenswerten zeichnet sich ab? Warum schleicht sich andauernd ein hinterhältiges Ich in die Zeilen? Wer braucht hier wen? Maul halten und staunen – wenn es so einfach wäre.

Quintus Verlag, Ankündigung

 

Tapanuli-Orang-Utans in der Pfalz

– Jakob Leiners Lyrik, die Wetter und Landschaft ihre Stimme gibt, steht im Zeichen des Anthropozäns und der Spätromantik gleichermaßen. –

Wetter und Landschaft – allzu oft bilden sie die Kulisse für unsere Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen. Nur was passiert, wenn sie unversehens aus dem Hinterland in den Vordergrund treten, ja bisweilen gar als Akteure auftreten? Davon gibt Jakob Leiners Lvrikband Gewetter kund. „Werdende[s] Licht […] schmeichelt dem Glimmer“ und Lavendel und Immortellen suchen nach Bienen. Gleich einem arkanen Innenleben regen sich Kräfte in allen Erscheinungen und Phänomenen der Natur. Damit die Leserinnen und Leser gleichfalls verstehen, wo derlei Eindrücke entstanden, überschreibt der 1992 geborene Autor und in Freiburg im Breisgau ansässige Arzt seine Gedichte mit Ort und Datum, darunter beispielsweise mit „10.02. / Heidelberg / 4 Uhr“ oder „23.01. / Nationalpark Harz / 11–13 Uhr“. Dadurch stellt der Schriftsteller sicher, dass seine Texte vor allem  subjektiven Impressionen entspringen. Manchmal, muss man einschränkend sagen, ein wenig zu viel, wenn er wie in 29.09. / Landau / Pfalz / 17 Uhr“ eine allzu beliebige, schwer nachvollziehbare Assoziationskette entwirft. Von „Po’ouli / Hawaii / Verdrängung durch invasive Fremdarten / Achatinella apexfulva“ ist darin die Rede oder vom „Tapanuli-Orang-Utan“. Was diese Wahrnehmungen und Gedankensplitter mit der südpfälzischen Weinbaugemeinde verbindet, erschließt sich bis zum Schluss nicht.
Und dennoch lohnt die Lektüre der dichterischen Miniaturen. An Intensität gewinnen sie vor allem bei der Darstellung von vermeintlich nebensächlichen Beobachtungen. Mal treibt ein Holz am Rheinufer in Neuwied, das eine „staun[ende] Weh-mut“ hervorruft, mal beschwören Nebelstreifen ein Gefühl des Heimkehrens herauf. Nie ist die Szenerie für sich, immer erweist sich das lyrische Ich als Gegenüber der Beobachtung oder als Dialogpartner. Wer unterdessen in den Gedichten spricht, lässt sich nie klar bestimmen, heißt es doch in dem Text „08.07. / Weltnaturerbe Aletschgebiet, Berner Alpen / 14–17 Uhr“: „am Ufer übten / zu Stein verkleidet und / äußerst zahlreich / lockend die / Gewaltschwingung / welcher ich andächtig / ]lausche[ / oder sie mir.“
Woran Leiners Schreiben sichtlich anknüpft, ist eine spätromantische Tradition. Statt die Natur zu verklären oder zu idealisieren, wird sie in ihrer Wildheit, Zartheit und bisweilen Rätselhaftigkeit präsentiert. Sie zeigt sich in Wiesen, Mooren, Wäldern und stets auch als Teil urbaner Topografien. Dass die Zonen mithin ineinander übergehen können und Unterschiede im Fluss des Wetters verschwimmen, mag wohl auch einer gleitenden Sprache zu verdanken sein. Manche Texte stürzen kaskadenartig über die Seiten hinweg. Das hat einen gewissen Drive, eine manchmal auch sogartige Dynamik. Der Schwung macht überdies deutlich, dass die Grenzziehung zwischen Mensch und Natur längst künstlich geworden ist. Leiners Poeme stehen daher ganz im Zeichen einer zeitgenössischen Lyrik des Anthropozän. Das Klima erhält darin das Wort: verspielt, aber nie ohne den nötigen Ernst.

Björn Hayer, Tageblatt Luxemburg, 7.10.2022

Der Kaffee in Omas Küche und das große Weltgetöse

– Der Südpfälzer Jakob Leiner hat seinen neunten Gedichtband vorgelegt: Gewetter ist eine Art Reisebericht.
Gewetter heißt der neue Gedichtband von Jakob Leiner, und dieser Titel summiert perfekt das, was in ihm steckt. Wetterkapriolen und Gedankengespinste, Staunen und Stöhnen, Bewegung und Verharren – und eine Natur in oft gefährlicher Schieflage. –

Leiner ist grade mal 30 Jahre alt, aber er schreibt schon seit 15 Jahren Gedichte. Der Sohn des viel zu früh verstorbenen Landauer Trompeters Peter Leiner hat nicht nur die Musikerseele seines Vaters geerbt, sondern besitzt – neben seinem Beruf als Mediziner – auch eine literarische Ader. So führt er nun ein Doppelleben als Assistenzarzt für Musikermedizin am Uniklinikum Freiburg und erfolgreicher Schriftsteller.
Gewetter ist sein neunter Lyrikband und der mit der stärksten Erdung. Denn alles, was sich darin in einer Art Reisebericht aufblättert, hat mit unserer Erde, der Natur, dem Wetter, der Flora und Fauna zu tun. Leiner nimmt den Leser mit auf seine Touren durch Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien, lässt ihn dort innehalten, wo er selbst Station macht, richtet sein Augenmerk auf die Dinge, die ihm ins Auge fallen. Die Gliederung ist klar, die Sprache direkt, der Ton unaufgeregt, und doch entsteht in jedem einzelnen Gedicht zu jedem einzelnen Ort – quasi parallel zu den sich hier entwickelnden Gedanken – eine ganz besondere Dynamik.
„02.07. / Freiburg / Breisgau, Stadtwald / 13 Uhr“ – heißt die erste „Station“ im Gewetter-Reigen, der den Bogen über ein ganzes Jahr spannt und mit der Aufzeichnung „30.06. / Hornisgrinde / Nationalpark Schwarzwald“ ausklingt. Dazwischen 40 Aufenthalte in deutschen und europäischen Städten, Gärten und Schutzgebieten, an Flussufern und Straßenrändern, auch ein Abstecher in ein Bierzelt in München und ein kurzes Versinken in einen Traum.
Südpfälzer können besonders gut Schritt halten bei den Stippvisiten: auf der Kleinen Kalmitim Herbst (14.10.), im Bienwald (28.03.) und am Slevogtfelsen (19.04.) im Frühling oder aber in Landau, wo man den Ich-Erzähler sogar zum Kaffee in die Küche seiner Oma begleiten darf. Ausgerechnet hier wird man in exotische Länder entführt und mit frevelhaften Missständen konfrontiert: „Spix-Ara / Brasilien / Lebensraumverlust und illegaler Handel / (jaja in Gefangenschaft nachgezüchtet)“. Und:

Stummelfußfrösche
eingeschleppter Pilz
(nicht alle manche)

Andernorts geht es poetischer zu, zum Beispiel in Mainz, wo um 17 Uhr in der Ritterstraße wohl grade der perfekte Augenblick war:

Zur rechten Zeit
lösen
sich Sorgen
in Kirschblüten auf

In Köln hingegen wird’s ungemütlich:

Scheiße
jetzt hat es uns überrascht
das garstige Wetter
weil wir nicht optimal
vorbereitet waren
weder kleidertechnisch noch
psychologisch…

Worte, kurze Sätze, manchmal auch direkte Fragen an den Leser, die als Einstieg in ein neues Revier oft ganz einfach und unkompliziert daherkommen, türmen sich manchmal wie Kumuluswolken zu Gedankenbergen, die Konzentration abverlangen. Dann kann es vorkommen, dass sich das lyrische Ich in komplizierten Betrachtungen verliert und auch seine Sprache aus den Fugen gerät, sich ohne Punkt und Komma verflüchtigt, jeder Fassung entrinnt.
Umgekehrt gibt es Momentaufnahmen, die – wie beim Betrachten der „gespachtelten Rückenberge“ im Parc national des Écrins – das innige Erleben im Druckbild des Textes widerspiegeln. Und natürlich blitzt auf der ganzen Wegstrecke auch ab und an der Mediziner durch, der manchmal ganz pragmatisch klingt.

Wussten Sie
dass
gegen Erfrierungen und Verbrennungen
ein Absud aus Blättern
der großblättrigen
Buche hilft
bei Ungenießbarkeit
stets Wässern.

Ein Genuss ist übrigens auch das Cover: Beim Aufklappen entfaltet sich eine weite Landschaft.

Brigitte Schmalenberg, Die RHEINPFALZ, 3.11.2022

So leise, so groß

Das Wetter hat seinen Status als leichtes Gesprächsthema verloren. Gerade deshalb gilt es, niemals die Magie zu vergessen, die von unzähligen Arten des Regens, den Farben des Lichts und Wolkenformationen ausgeht. In Worte gefasst kann dabei ein Buch wie Gewetter (Quintus) von Jakob Leiner herauskommen. Es sind Verse wie Landschaftsgemälde, und das faszinierendste: Man wird beim Lesen Teil von ihnen, ist mittendrin.

Barbara Weitzel, Welt am Sonntag, 18.9.2022

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

katkaesk: Gewetter versteht sich als Ansammlung…
instagram.com 25.10.2022

 

 

 

5 Fragen an Künstler*innen: „Kunst und Perspektive sind in vielerlei Hinsicht miteinander verknüpft“. Onlineinterview mit Walter Pobaschnig am 2.9.2022

 

Lisa Discher: Der Freiburger Autor Jakob Leiner zwischen Psychosomatik und Schriftstellerei

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Facebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00