Jan Goczoł: Die abgewandte Seite des Mondes

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jan Goczoł: Die abgewandte Seite des Mondes

Goczoł-Die abgewandte Seite des Mondes

*** (DIE CHRONIK DEINER LETZTEN ILLUSION)

Die Chronik deiner letzten Illusion
zählt 2200 Tage (die Nächte in diesem wuchernden
Geschenk der Worte könntest du dreifach rechnen,
aaaaawenn du
das blinde Herzjagen bedenkst).

Die letzten Körner der Erwartung wurden aus dir
für die Spatzen gefegt. Sie werden darüber einen halben Tag
schilpen, vielleicht auch kürzer.

Leer jetzt, wird dich vielleicht jemand erstehen können
im Ausverkauf. Für die Rumpelkammer unbequemer Erinnerungen
zum Beispiel. Also täusche Stärke vor.

 

 

 

Jan Goczoł und sein Schlesien

Es gibt sie wirklich – Menschen, die ihre Gegend nie dauerhaft verlassen haben, die in der Nähe ihres Geburtsortes ihr Leben verbringen, die ihre Heimat nicht nur im Herzen und in der Erinnerung tragen, sondern sie Tag für Tag empirisch und haptisch erfahren und dadurch zu authentischen und unmittelbaren Chronisten ihrer Heimat werden. Zu solchen Menschen, von denen es im zwanzigsten Jahrhundert, gekennzeichnet durch riesige Migrationsbewegungen als Folge der Armut und kriegsbedingte Flüchtlingsströme als Folge der geopolitischen Grenzverschiebungen, nicht allzu viele gab, gehört Jan Goczoł, der Dichter aus dem Oppelner Land, der in seinen lyrischen Momentaufnahmen von der Reise durch die kleine, heimatliche Welt, mit fotografischem Gespür den Spuren der Vergangenheit nachgeht und versucht, sie kenntlich zu machen, sie offen zu legen und sie für die Gegenwart festzuhalten, um sie vor dem Gedächtnisschwund der großen Welt zu bewahren. Diese „große Welt“, ein abstrakter Begriff, setzt sich aus vielen „kleinen Welten“ zusammen, die ein Refugium vor der bedrohlich um sich greifenden „globalisierten“, alles nivellierenden und gleichschaltenden Welt sind, die im Informations- und Wertechaos versinkt und den Menschen ihre mentale und regionale Identität raubt. Die kleine Welt, in die Jan Goczoł vor der großen flüchtet und in der er Halt und Trost sucht und wohl manchmal auch findet, ist sein schlesisches Haus, wo er die „weise schweigende Vergangenheit“ fühlt und mit dem er „heimliche Gespräche führt“, wo er aus dem Fenster blickend sich vorstellen kann, was sich hinter dem nächsten Horizont verbirgt, nämlich die leise klingende Landschaft der Dörfer Rozmierz, Brynica, Dąbrówka Łubniańska und seines heutigen Wohnortes, der Oppelner Vorstadt Półwieś (Halbdorf), also seiner „konkreteren, näheren, häuslichen Heimat“, die er in seinem 2002 erschienenen lyrischen Prosaband Na brzozowej korze (Auf Birkenrinde) einfühlsam und liebevoll beschreibt, ohne in Rührseligkeit zu verfallen. In dieser häuslichen Heimat fühlt er sich sicher und geborgen, wie „hinter Herrgotts Ofen“. Seine Heimat, das ist vor allem die Natur, die rauschenden Wälder und Bäche, die blühenden Rapsfelder und Wiesen, die Sträucher und Obstbäume in seinem Garten, die Spinnen und Libellen, Vögel, Eichhörnchen und ein Fischotter, dem er im Winter heimlich Forellen bringt und mit dem ihn eine stumme Freundschaft verbindet. Die Natur ist für denjenigen, der ihrer wortlosen Sprache mächtig ist, auf Anhieb verständlich. Sie ist für den Dichter eine Zuflucht „vor dem sich überall verbreitenden Lärm der leeren Worte“ seiner Zeitgenossen. Die Gespräche, die er mit der heimatlichen Natur, mit seinen Nächsten und Freunden, also mit einem Kreis außerhalb der leeren Worte führt, vermitteln ihm das Gefühl, über das ganze Universum zu sprechen, also „über die Mitte der Welt, die wir Schlesien nennen“. Unser Schlesien. Dort empfindet er manchmal Momente des vollkommenen Glücks, in denen seine „entlegenste Vergangenheit, alle Erlebnisse und Erinnerungen wieder lebendig werden, sie umhüllen mich und verbinden sich so innig, dass ich sie nicht mehr trennen kann und ich nicht weiß, ob ich das Zeitgefühl völlig verloren habe oder ob die Ewigkeit sich für eine Weile vor mir öffnete. Solche Augenblicke, einige Stunden der echten Freiheit für das Herz und die diffusen Gedanken“, spenden ihm Trost und geben ihm Halt, um in der Welt zu bestehen, die man auch aus dem Fenster seines Hauses immer öfter sehen kann:

Glatte und dreckige Schlingen der Strassen und Gassen, auf denen wir, Erniedrigte, zu den täglichen atemlosen Terminen und ziellosen Zielen hetzen.

Wunden in der Landschaft
Solche befreienden Augenblicke werden jedoch immer seltener, denn auch in der Mitte der Goczołschen Welt, die er Schlesien nennt, ist die Zeit nicht stehen geblieben. Den „glatten und dreckigen Schlingen der Strassen und Gassen“, den neuen städtischen und dörflichen Wohnbaugebieten, aber auch den Naturkatastrophen sowie dem ewigen Lauf des Irdischen, der besagt, das alles vergeht, ist das private Paradies des Dichters zum Opfer gefallen, vom Hochwasser des Sommers 1997 zerstört. Die heutigen Bewohner Schlesiens mühen sich mehr oder weniger ziellos und atemlos, der neuen Wirklichkeit Herr zu werden und sind vor allem damit beschäftigt, im wirtschaftlichen Kampf ums Überleben nicht unterzugehen. Der Dichter beobachtet, dass die Toten auch nicht verschont wurden: Die alten Friedhöfe verkommen, denn die Nachfahren der dort Bestatteten waren gezwungen, das Weite zu suchen, genauso wie die neuen Bewohner dieser Gegend, die ebenfalls unfreiwillig ihre alte Heimat räumen mussten, sodass die Gräber ihrer Vorfahren dort dasselbe Schicksal ereilte. Auf der persönlichen „Landkarte des Oppelner Landes“ von Jan Goczoł schneidet die „Welt der Säge“ tiefe und nie wieder heilende Wunden ein und ihr Geräusch übertönt seine leise klingende Landschaft. Vor dieser Säge konnten schattige Linden und mächtige Eichen nicht bestehen, sie vollstreckte auch das Todesurteil über die riesige Birke, die, wie ein Kult- oder Wappenbaum, seit eh und scheinbar für immer über dem Dorf Siolkowice thronte und thronen sollte. Da ist es schon ein kleiner Trost, dass die Birken seiner Kindheit, die die Straße von Strzelce Opolskie (Groß Strehliz) nach Opole (Oppeln) säumten, von einem Sturm vernichtet wurden und der schönste Baum in Opole, die uralte Kastanie auf dem Plac Wolności, dem Freiheitsplatz, sich die Freiheit nahm, eines natürlichen Todes zu sterben, genauso wie der Pflaumenbaum vor dem Haus seiner Eltern in Rozmierz. Die Vernichtung und Veränderung scheinen also wesentliche Merkmale der realen Welt zu sein, die sich unveränderlich erneuert und immer neu entsteht. Ein Sinnbild dieser unveränderlichen Erneuerung, also des Bestehens allen naturgewaltigen und zivilisatorischen Widrigkeiten zum Trotz, ist das Vergissmeinnicht, das seit eh und je die Straßengräben des Dorfes Rozmierz bewächst.

Land des Schweigens
Rozmierz, das bis 1936 Rosmierz hieß und in der Zeit des Nationalsozialismus in Angerbach umbenannt wurde, liegt dreißig Kilometer von Opole entfernt und ist Jan Goczołs Geburtsort. Dort kam er am 13. Mai 1934 zur Welt. Seine Familie lebte in diesem Dorf seit geraumer Zeit, „vielleicht von Anfang an: mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater – und vielleicht weiter in die Tiefe der Familiengeschichte – waren in diesem Dorf geborene Zimmerleute. Die Säge, der Hobel, das Beil tauchten seit den jüngsten Jahren vor mir als Stammeswerkzeuge auf die den Männern unserer Familie Ruhm und Achtung brachten. Ich sah meinen Vater während seiner Arbeit, konzentriert und andächtig, Worte leise an sich flüsternd, im Innern erhellt. Ich sah das Entstehen des Hauses. Wir waren gleichzeitig Bauern, in beseelender Einigkeit mit dem übermächtigen Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten“, bekennt Jan Goczoł in seinem Wort des Dichters (Oberschlesische Dialoge. Kulturräume im Blickfeld von Wissenschaft und Literatur. Peter Lang Verlag. Frankfurt am Main. 2000). Es war eine archaische und patriarchalische Welt. Die Männer der Familie Goczoł bauten, sie verfügten also über das „Bewusstsein der Substanz und ihres Widerstands, über das Bewusstsein des Verfahrens, mit welchem man diesen Widerstand beherrscht und bewältigt“. Ihr Handwerk bestand darin, den Widerstand der Substanz, also der Materie zu brechen und sie in eine neue, nützliche Form zu zwingen. Das Handwerk sicherte ihren Familien den Unterhalt. Da sie zugleich auch, wie auf dem Dorf so üblich, Bauern waren, bauten sie an, was ihrer Selbstversorgung diente. Ihr Leben war mit der „konstruierten“ und ,,natürlichen“ Arbeit, bei der sie wenige Worte verloren, aufs Engste verbunden „vom Sonnenaufgang bis zum Aufgang der Sterne“. Sie und ihre Natur waren schweigsam: die gepflügte Erde, der Roggen, der Bauer über dem Roggen und der Himmel über ihnen schwiegen im Einverständnis. Wenn die Dorfbewohner sprachen, benutzten sie Worte, mit denen sie ihr Leben, ihre Gefühle und ihre Umwelt schilderten; sie deckten sich mit den Objekten ihrer Schilderung, sie waren konkret und „so total, dass sie keinen Zusatz oder Kommentar duldeten. Die Worte, mit denen man über diese Wirklichkeit informierte, auch die, mit denen man sie mystifizierte, dämonisierte oder verherrlichte, waren nicht in Frage zu stellen; sie sprachen von einer wirklichen Wirklichkeit“. Die Worte, mit denen die Menschen in Rozmierz ihre Welt ausdrückten, entstammen der schlesischen Mundart, „dunkel und hart, wie Holz, das lange im Wasser lag“.

Atemberaubende Sprache
Weil Rozmierz, wie sein Dorf seit 1945 heißt, in dem Teil Schlesiens lag, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs polnisches Staatsgebiet wurde, begann der künftige Dichter die Sprache, in der er seine Dichtung später verfassen wird, erst in der vierten Grundschulklasse zu lernen. „Die Urgeschichte meines literarischen Selbstbewusstseins begann bereits im Januar 1945, als von Sonntag zu Sonntag in spontanen Kirchengebeten und Kirchengesängen, so deutlich, als ob plötzlich und unerwartet ein unterirdischer Fluss mich überschwemmte, eine ganz andere Sprache erschien: die polnische Sprache. Das war eine erschütternde Betäubung. Die mir bis dahin nur aus häuslich gedämpftem Gemurmel und Geräuschen bekannten mundartlichen Worte räsonierten jetzt in Gebets- und Psalmentexten mit einer übermächtigen, pulsierenden Energie. Ich war in dieser Zeit Messdiener: Tag für Tag bestrahlte mich diese Energie mit einem unbekannten, ergreifenden Schauer.“ Dieses neue Sprachgefühl nahm ihm den Atem, um den er in seiner künftigen Dichtung immer wieder ringen wird. Zumal er schon bald merkte, dass in seiner neuen Welt, die außerhalb seines Heimatdorfes lag, sehr häufig leere Worte in aller Munde waren, also Worte, von denen „ihre Bedeutung wie krankes Fleisch vom Knochen wegfällt“ und wo die Menschen nur noch im Jargon sprachen.

Bis 1949 lebte Jan Goczoł in seinem heimatlichen Rozmierz. Dort wurde er, der Älteste unter seinen fünf Geschwistern in der elterlichen Landwirtschaft dringend gebraucht, denn sein Vater, der wegen eines Fußleidens vor der Wehrmacht verschont und – damals eine nicht seltene Grausamkeit der Geschichte – von den Sowjets in die UdSSR verschleppt wurde, starb in Georgien an Typhus. Nach der Beendigung der Grundschule im Jahre 1949 begann Jan Goczoł als Erster in seinem Dorf eine Ausbildung am Handelsgymnasium in Strzelce Opolskie. 1953 machte er dort sein Abitur und wollte an der Warschauer Universität Journalistik studieren. Die elterliche Bauernstelle – sechs Hektar wurde jedoch als Großgrundbesitz eingestuft, und man verwehrte ihm das Studium. Er arbeitete als Buchhalter in verschiedenen Staatsgütern, als Bahnarbeiter und schließlich als Lagerleiter in einer Schuhfabrik. 1960 heiratete er Małgorzara Witoń, mit der er zwei Töchter hat. 1962 begann er sein Polonistikstudium an der Pädagogischen Fachhochschule in Opole. In dieser Zeit veröffentlichte er seine ersten Gedichte, war Kolumnist der Tageszeitung Trybuna Opolska und wurde Mitglied des Polnischen Schrittstellerverbands. Von 1965 bis 1970 arbeitete er als Journalist der Zeitschrift Poglądy (Ansichten) in Katowice (Kattowitz). Er gründete die Monatsschrift Opole und war seit 1975 ihr Chefredakteur.

Gebannte Dämonen
Jan Goczoł war also der Erste in seiner alteingesessenen ländlichen, der „mündlichen“ und „natürlichen“ Tradition seit eh und je verbundenen Familie, dem ein Sprung in die Stadt gelang und der es zugleich schaffte, in die obersten Kreise der intellektuellen, die Kultur der Region prägenden Elite aufgenommen zu werden. Was nicht heißt, dass er sich auf Anhieb in einen richtigen „Städter“ verwandelte, denn er war als Dorfauswanderer kein Bauer mehr und noch kein Stadtmensch.

Im Vermächtnis fiel mir die Stadt zu. Jeden Tag aufs Neue ging ich hinaus in diese unfruchtbare, aller Bäume und Vögel beraubte feindselige Brache. Unser Sprung in die Stadt gelang nicht. Die Stadt wurde zum Ort unserer beispiellosen Niederlage. Er fühlte sich wie ein Zwischenmensch, Leugner und Neubekehrter zugleich, der sich zwischen der ehemaligen ländlichen, noch lesbaren aber schon fremden Ordnung des Universums und dem Relativismus, der Lockerheit des rundherum anonymen Stadtlebens bewegte.

Die neue, zugleich faszinierende und als bedrohlich wahrgenommene städtische Welt, bevölkert von beliebigen, austauschbaren Menschen, deren „leere Worte“ häufig Ausdruck der politischen Opportunität waren und die Wirklichkeit schön reden wollten, raubten ihm erneut den Atem, sodass er begann, seine Sprachlosigkeit zu überwinden, indem er um seinen persönlichen Atem, also um jedes seiner Worte rang und zum Dichter wurde.

Die Worte des Gedichts brachten wieder den Atem – wenigstens für eine bestimmte Zeit. Sie bannten die städtischen Dämonen der zwischenmenschlichen Beziehungen und andere, die Dämonen des Einstweiligen, der Anonymität, der Intrigen hinter den Kulissen, der raubgierigen Habsucht des Molochs. Das Gedicht lähmte sie, indem es diesen Dämonen einen Namen gab. Das Gedicht wurde zum neuen moralischen Gesetz und zur Alternative des alles übertönenden, neuen Geschwätzes.

Indem Jan Goczoł Dichter wurde, setzte er gewissermaßen die handwerklich-ländliche Tradition seiner männlichen Vorfahren fort: Die Materie, deren Widerstand er brach, war die ihm immer vertrautere polnische Sprache, seine lyrische Mundart, in der er seine eigentliche Heimat und sein Feld fand, auf dem er immer neue Gedichte anbauend, ein immer handwerklich ausgefeilteres Gebilde baute. Davon zeugen bedeutende Auszeichnungen, mit denen man sein lyrisches Werk bedachte: 1963 wurde er mit dem ersten Preis des angesehenen Lyrikwettbewerbs Rote Rose in Danzig, elf Jahre später mit dem Stanisław-Piȩtak-Preis geehrt, der an Dichter verliehen wurde, die der ländlichen Poesie auch unter den Bedingungen des Arbeiter- und Bauernstaates die Treue hielten. In einer Zeit, in der lesende Arbeiter Fragen stellten, war es erforderlich, einen schreibenden Bauernsohn zu finden, der durch die neue Gesellschaftsordnung zu einem Intelligenzler geworden, sie bodenständig beantworten konnte.

Entwurzelte Zwischenmenschen
Trotz der bis heute in den Kreisen der polnischen Literaturkritiker gelegentlich unternommenen Versuche, Jan Goczołs Gedichte in die dörflich-verklärte Ecke zu zwingen, haben sie damit nichts zu tun. Die lyrische Welt, in der sich dieser Dichter bewegt, der seine Herkunft nie leugnete, ist von allgemeiner Bedeutung. Es ist zwar eine heimatliche Dichtung, weil sie die dem Dichter vertraute Umgebung widerspiegelt, also die Gegend, in die er eingeboren wurde, die er am besten kennt und die er seit sieben Jahrzehnten ergründet. Die individuellen, wirklichen und lyrischen Sujets seiner kleinen Welt, in denen sich sein Leben abspielt: die Schönheit und die Vernichtung der Natur, der Verlust der dörflichen und die Schwierigkeiten mit der städtischen Identität, die Geschichts- und Gesichtslosigkeit der alten und neuen Bewohner seines Oppelner Landes, jener Zwischenmenschen, die sich in der Gegenwart nicht mehr oder noch nicht zurechtfinden können, drücken zugleich universelle Probleme aus. In unserer schönen neuen Welt gibt es eben keine Einheimischen mehr, alle sind zugewandert, auch wenn sie in ihrer Gegend seit Jahrhunderten ansässig sind. Die Verwurzelten sind genauso entwurzelt, wie die Neuankömmlinge, die aus ihrer alten Heimat durch die geopolitischen Folgen des letzten Weltkriegs mit Wurzeln ausgerissen wurden. Für diese Zwischenmenschen stehen in Jan Goczołs Dichtung zwei Protagonisten: der alte Schlesier, ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten „wie ein Sioux im Reservat in Indianapolis“ und Janina Ptak, Tochter polnischer, nach Paderborn verschleppter Zwangsarbeiter, die heute Rektorin einer Grundschule in Opole ist. Doch ihre Tochter, Vertreterin der ersten im polnischen Schlesien geborenen Generation und die Kinder und Enkelkinder des alten Schlesiers haben zum Mittelpunkt ihrer Welt Westdeutschland gewählt, als sie deutsche Männer oder Frauen heirateten.

Das Schweigen des Heiligen
Mehrere Gedichte widmet Jan Goczoł dem schlesischen Schutzheiligen Jan Nepomuk, dem der böhmische König Wenzel 1393 die Zunge ausreißen und ihn von der Brücke in die Moldau stoßen ließ, wo er ertrank. Dieser Märtyrer, der als Brückenheiliger verehrt wird, taugt als Zungenloser am besten zum Schutzheiligen einer Gegend, deren Bevölkerung ebenfalls eine „beschnittene Zunge“ hat. Im Gedicht „An meinen JN“ fordert Jan Goczoł seinen Jan Nepomuk auf, endlich das Wort zu ergreifen. Der Heilige schweigt jedoch beharrlich, denn was soll er sagen angesichts dessen, dass diejenigen, die „unsere Dörfer mit breiten Reifen zermalmten“ und „mit harter Währung die letzten Zeugen bestechen“, meistens zu den Nachkommen der alten und neuen Schlesier gehören? „Nicht gefesselt an diesen einen unseren Ort seit eh und je“ haben sie den Mittelpunkt ihrer Welt zwar nach Deutschland verlagert, doch sie setzen die beständige Tradition der Zwischenmenschen fort: keine Schlesier mehr keine Polen mehr und noch lange keine Deutschen. In beliebig austauschbaren, heimatlosen Zwischenraum zu Hause.

Urszula Usakowska-Wolff, Nachwort

 

Jan Goczoł

ist ein Lyriker, der seine bäuerliche Herkunft nie leugnete. Die Sujets seiner kleinen lyrischen Welt: die Schönheit und die Vernichtung der Natur, der Verlust der dörflichen und die Schwierigkeiten mit der städtischen Identität, die Geschichts- und Gesichtslosigkeit der alten und neuen Bewohner seines Oppelner Landes, jener „Zwischenmenschen“, die sich in der Gegenwart nicht mehr oder noch nicht zurechtfinden können, drücken zugleich universelle Probleme aus. In unserer schönen neuen Welt gibt es eben keine Einheimischen mehr, alle sind zugewandert, auch wenn sie in ihrer Gegend seit Jahrhunderten ansässig sind. Für diese „Zwischenmenschen“ stehen in Jan Goczołs Dichtung zwei Protagonisten: der alte Schlesier, ein Relikt längst vergangener Zeiten und Janina Ptak, Tochter polnischer, nach Paderborn verschleppter Zwangsarbeiter, Rektorin einer Oppelner Grundschule. Jan Goczołs Lyrik besticht durch eine knappe, sparsame Sprache und beeindruckende Landschafts- und Menschenbilder, die sich tief ins Gedächtnis einprägen.

Pop Verlag, Klappentext, 2008

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin
Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
Fakten und Vermutungen zum Autor

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