Jan Röhnert (Hrsg.): Poesie und Praxis

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jan Röhnert (Hrsg.): Poesie und Praxis

Röhnert (Hrsg.)-Poesie und Praxis

DIE DREIEINHALB ELEMENTE DES RAOULESKEN

Manchmal genügt ein winziges Stück Leder, um zu einer Reise um die halbe Welt aufzubrechen. Bei Bruce Chatwin ist es der runzlige Hautfetzen eines vermeintlichen Brontosaurus im Schrank der Großmutter, der im Erzähler den Wunsch aufkeimen lässt, Feuerland zu sehen. Herausgekommen ist eines der schönsten Reisebücher des 20. Jahrhunderts, In Patagonien, das nicht einmal dann enttäuscht, wenn man am Ende erfahren muss, dass die Haut des Brontosaurus nur von einem Riesenfaultier stammte. Die Engländer haben für diese Art zu erzählen das Adjektiv „chatwinesk“ erfunden – analog zu ähnlich singulären Phänomenen wie dem Dantesken, Chaplinesken, Darwinesken, Pythonesken oder Kafkaesken. Beinah wäre ich geneigt gewesen, den Autor, um den es hier geht, als Vertreter der chatwinesken Schule vorzustellen, wenn da nicht noch etwas anderes wäre, etwas Eigenes hinzukäme, das eine ganz neue Wortbildung nötig macht.
Raoul Schrott heißt er österreichisch-offiziell, und es ist immer wieder Aufhebens um Dichtung und Wahrheit seines Lebenslaufs gemacht worden, dass ich uns nicht weiter damit behelligen will, sondern lieber zum Wesentlichen komme. Das Wesentliche – das ist die Frage, wie wir das Besondere an ihm zu fassen kriegen. Wie nennen wir, was diesen Dichter so einmalig macht? Mit seinem Nachnamen kommen wir, fürchte ich, nicht weit: Schrottesk? Schrottig? Schrott-reif? Damit sind seine Vorzüge in unserer Alltagssprache kaum zu benennen. In dieser Lage ist sein Vorname der Rettungsanker. Raoul gibt es, soweit ich sehe, in unserer Gegenwartsliteratur nur diesen einen, und der andere Raoul, der Hausmann Raoul aus der Dada-Avantgarde, Gott hab ihn selig, um den hat sich Schrott Raoul mit seinen Dada-Dokumentationen schon zu Anfang der neunziger Jahre so verdient gemacht, dass ihm nicht nur von Rechts wegen die Ehrenbürgerwürde von Tirol gebührt, sondern auch jetzt und hier das Namensvorrecht vor dem Avantgardenvetter. Ich plädiere also, um mit einem Wort das Besondere an diesem Dichter zu benennen, fürs Raouleske. Was aber ist das Raouleske – und woran erkennt man es?
1. Eine mit Hingabe, Einfühlungsvermögen und Entdeckerlust betriebene Übersetzertätigkeit aus alten und neuen Sprachen, die ihm die Leser und Liebhaber der Poesie zu danken wissen, wohingegen die Nichtleser und Kritiker darüber ein kumulatives Zetermordio anstimmen, dass ihnen die Hahnenkämme anschwellen – wenn sie welche hätten auf ihren kahlen Häuptern. Ich kenne keinen spannenderen Roman, der gut viertausend Jahre umspannt, von Mesopotamien bis zu den britischen Inseln reicht und der den Wunsch nach Verewigung des menschlichen Geistes im via Schriftsprache festgehaltenen poetischen Bild so anschaulich vermittelt wie Die Erfindung der Poesie, Schrotts Anthologie mit Perlen sumerischer, griechischer, lateinischer, arabischer, jüdischer, provenzalischer, italienischer und walisischer Poesie – ganz nebenbei ist diese Auswahl der beste Beweis dafür, dass über Jahrtausende und Kulturen hinweg die Liebe ein Hauptimpuls fürs Gedichteschreiben war.
Schon damals, als 1995 Die Erfindung der Poesie in der Anderen Bibliothek Hans Magnus Enzensbergers – einem Polyhistor und Enzyklopädisten aus Schrotts Ahnenreihe – herauskam, begegnete man einem Phänomen, wie man es über die Jahre bis heute, anlässlich des Erscheinens seiner Ilias-Neuübertragung, in den Zeitungsredaktionen beobachtet: selbsternannte Experten traten beckmesserisch auf den Plan, besserwisserisch tadelten ihn Vertreter der Philologenzunft, als sähen sie durch Schrotts klare und sinnliche Schreibart die Diskurshoheit ihrer Fußnotendisziplin in Frage gestellt. Wer die DDR noch erlebt hat, mag sich an Franz Fühmann erinnert fühlen, dem linientreue Ideologen seine antiken Adaptionen gleichermaßen als belanglose Eskapaden und Kinderkram verunglimpft hatten.
Raoul Schrott seinerseits hat keine Scheu, seinen Kritikern triftige Argumente entgegenzuhalten, und so verzeichnet der an ästhetischen Debatten erstaunlich arme deutsche Literaturbetrieb seitdem in regelmäßigen Abständen poetologische Diskussionen auf höherem Niveau. Vor allem aber bleibt Raoul allen Anfeindungen zum Trotz seinem Programm der Reaktualisierung des Antiken, der individuellen Aneignung des Fremdsprachigen treu, wie seine Verdeutschungen der „Bakchen“ des Euripides sowie des Gilgamesch-Epos, aber auch seine kongeniale Übertragung des Langgedichts Mittsommer von Nobelpreisträger Derek Walcott aus dem karibischen Englisch verdeutlichen.
2. Das Raouleske hat den ganzen Globus als Metapher. Wenn schon Literatur, dann eine, die von allen Kontinenten erzählt – wo doch die Waren, die wir täglich konsumieren, auch wie selbstverständlich global kursieren. Als ich ihn fragte, ob er unsere Reihe mit einer Vorlesung bereichern mag, war er gerade von seinem irischen Küstendomizil unterwegs zu einem Segeltörn über den Pazifik, in der Zwischenzeit mailte er mir aus Neuseeland und dem Inneren Australiens, heute kommt er aus dem Alpenvorland angereist – das klingt wie ein Roman, ist aber nur Ausdruck einer kosmopolitischen Lebenspraxis, die selbstverständlich auch kosmopolitische Literatur erzeugt. Wo etwa einer seiner berühmten deutschen Kollegen tränenvollen Auges auf der Gangway des Teheraner Airports umkehrte, fing für Raoul das Abenteuer erst an – und es führte ihn bis an die afghanische Grenze, wie man in seinem persischen Tagebuch nachlesen kann, das in der Essaysammlung Handbuch der Wolkenputzerei erschien.
Sein erster Roman Finis terrae hingegen spielte – nach einem Prolog im Europa der Keltenzeit – in der zentralafrikanischen Savanne der Gegenwart; Afrika und den Wüsten bleibt er auch treu in dem Erzählband Khamsin, vor allem aber im Logbuch, wie er es nennt, Die fünfte Welt, das sich mit nichts geringerem als der hautnahen Entdeckung des vielleicht allerletzten weißen Fleckens auf diesem Globus befasst. Die Antarktis, Amerika, Afrika und Europa sind die Kontinente, die ein Anrecht auf die Inselgruppe Tristan da Cunha erheben, die im Zentrum seines letzten, schwergewichtigen Romans gleichen Titels steht – und all diese Kontinente spielen mit in seinen Roman hinein.
Sagte ich: schwergewichtig? Nichts so leicht und gewinnbringend obendrein, mit Raoul um die halbe Welt zu reisen; man braucht nur seine Bücher aufzuschlagen und ist schon mittendrin. Die Welt ist seine Bibliothek, im doppelten Sinn: einmal, wie bei Borges, den er auch übersetzt und mitherausgibt, wegen der Bücher, die wie Schatztruhen des Geistes überall auf der Welt verborgen sind, und einmal wegen der ganz konkret erlebten Welt, die er wie ein offenes Buch zu lesen vermag.
3. Das bezeichnendste Element des Raoulesken ist, aller Prosa zum Trotz, das Gedicht. Das Gedicht ist, um es fachmännisch auszudrücken, der Genotyp des Raoulesken, oder, mit Goethe gesprochen, das „Urphänomen“ seiner Literatur. Es liegt in der Natur der Gattung Gedicht, dass es sich beinah zwangsläufig einem augenblicklichen Impuls verdankt: Jedes Gedicht kennt seine, nur ihm anvertraute Gelegenheit. Damit daraus jedoch ein veritables Werk entstehen kann, das im vornehmen französischen Sinn ein Œuvre darstellen will, ist mehr vonnöten als einfach die richtige Gelegenheit fürs nächste Gedicht abzupassen. Jedes Gedicht eines bestimmten Autors trägt in sich die Voraussetzungen und Wesenszüge aller vorangegangenen und künftigen Gedichte desselben Autors; es enthält verkapselt in Bildlichkeit, Rhetorik und Motivwahl die dem Dichter genuine Poetik, sein implizites Programm, Duktus und Thema, woran man ihn wiedererkennt. Andernfalls wäre jeder Gedichtband nur eine Ansammlung beliebiger Hervorbringungen einer beliebigen Person.
Bei Schrott jedoch ist nichts beliebig. Seine bislang erschienenen drei großen Bände Hotels (1995), Tropen (1998) und Weissbuch (2004) sind konzise entworfene, mit subtiler Eleganz komponierte Meisterwerke an Weltdurchdringung und Weltwahrnehmung mit den Möglichkeiten des poetischen Bilds, das ihn als universal gültige, wenngleich in den einzelnen Sprachen verschieden realisierte Ausdrucksform fasziniert. Ihre besondere Strahlkraft erhalten die Gedichte jeweils durch einen bestimmten Nukleus, um den herum sie kreisen. War Schrott in den Hotels auf der Suche nach „wahren Residenzen des 20. Jahrhunderts“, so waren die Tropen dem Begegnungsfeld von Wissenschaft, vor allem physikalischer Optik und Poesie gewidmet – dass ein Zusammenhang zwischen Optik und Poesie besteht, braucht an einem Ort wie Jena kaum betont zu werden. Der Nukleus seines Weissbuchs ist das Heilige, wie es sich als erhabene Kategorie menschlichen Erlebens immer wieder neu im alltäglichen Kontext realisiert.
Dies führt auch schon zum finalen Element des Raoulesken, ein Halbpunkt nur, weil es ohnehin in allen drei genannten Kategorien reichlich vorhanden ist und alle drei gleichermaßen in sich einschließt. Das Raouleske nämlich ist ganz gegenwärtig, lebendig, und wie alles Lebendige in stetem Wandel begriffen. Geistesgegenwärtig vermag er seiner gedankenarmen Gegenwart etwas Eigenes, Selbst-Bewusstes entgegenzusetzen, kann, wo immer nötig, Rede und Antwort stehen. Es ist das Lebenselement des Dichters Raoul Schrott, das aus unserer Literatur längst nicht mehr wegzudenken ist. Davon dürfen wir uns auf den folgenden Seiten überzeugen.

Jan Röhnert, Einführung

 

DAS HEILIGE IN DER POESIE

Um Ihnen eine Vorstellung zu geben, was ich vom Gedicht halte, kann ich Ihnen vielleicht als Einleitung eine Bildbeschreibung vorlesen; ganz im Horaz’schen Sinne: ut pictura poesis – wie die Bilder so sind auch die Gedichte.
Es ist die Beschreibung eines Bildes, das Sie alle kennen, und das mit dem Gedicht mehrere Dinge gemein hat. Zum einen ist das Bild – anders als ich es mir als Junge immer dachte – relativ klein. Weil es ein so berühmtes Gemälde ist, hab ich immer gedacht, dass es ein Riesenschinken sein muss – so zwei Meter mal drei Meter – und war dann eigentlich sehr enttäuscht, als ich es zum ersten Mal sah. Zum anderen ist es relativ schwierig, es sich lange ansehen zu können, weil im Museum vor dem Bild nicht nur dickes Glas, sondern meistens auch eine Schlange von dreißig bis vierzig Japanern ist, die ebenso auch wieder hinter einem stehen und dazu drängen, das Bild schnell abzuhaken.
Das Gedicht hat ja auch mit den Bildern gemeinsam, dass es eigentlich sehr klein ist; auf diesem kleinen, engen, genau beschriebenen Raum aber eine ähnliche Tiefenschärfe präsentiert, wie es die Gemälde zumindest früher einmal taten. Es teilt mit diesem Gemälde nicht nur die Tatsache, dass im Hintergrund Landschaft auftaucht, die das Motiv mit einer ganzen Kosmogonie im Vordergrund verankert – wobei der Hintergrund auch das Werden und Vergehen von Land und Meer schildert −, sondern gleichzeitig auch das naturwissenschaftliche Interesse des Malers: Die Locken der Frau, die dort dargestellt ist, drehen sich so perfekt, weil der Maler damit auch demonstrieren wollte, wie Fliehkraft und Schwerkraft ineinanderwirken indem sie diese perfekt geformten, spiralförmigen Locken drehen. Oder: Warum die Stirne so glänzt? – Weil der Maler damit das Reflexions- und Brechungsgesetz des Lichtes darstellen wollte. Über die Landschaft und die naturwissenschaftlichen Gesetze und das ganze Dekorum hinausgehend, ist das Schöne an den Gedichten und an den Bildern natürlich, dass sie immer das Menschliche in den Vordergrund rücken. Bei diesem Bild ist es par excellence das Menschliche und auch das Fremde, das dann das Heilige auf seine ganz eigene Art zu verkörpern beginnt.
Dabei ist es natürlich für mich geschlechtsspezifisch als Dichter ganz schön, dass dieses Bild eine Frau darstellt. Gedichte werden ja meistens von Männern geschrieben – warum die Männer in der Überzahl sind, weiß ich auch nicht −, was aber andererseits den positiven Nebeneffekt hat, dass das Weibliche immer sehr schön dargestellt wird und letztlich auch immer zu einer der Symbolfiguren des Heiligen wird. Den Bogen von der Natur- und Kulturgeschichte zur Frau versuche ich Ihnen auch in meinen Gedichten zu schlagen. Ich hoffe, Sie halten mit mir aus bis wir zum Weiblichen kommen.
Ich lese Ihnen das Gedicht natürlich jetzt vor. Wobei mich überrascht, dass ich Ihren Gesichtern jetzt ablesen kann, dass sie alle längst wissen, von was für einem Bild ich rede.

M’ONNA LISA

wie sie aussah als er sie malte ist nicht mehr zu sagen
sie trägt den dunklen flor des lacks die haarisse
seines craquelés wie jahrhunderte von feinen verletzungen
die nie vernarben sich nur tiefer eingraben
ins unbestimmte ihres gesichts · die skizze
all der einsamkeiten einer liebe · nichts zu erwarten
an nichts zu denken jede erinnerung zu stunden
und trotzdem beherrscht · ob als frau mutter noch zu jung oder
jemandes geliebte oder kurtisane die viele umwarben
sie hebt die brauen · der schleier jedoch zeigt den rückzug
der trauer in sich selbst · nur die um sie fallenden tage
hält sie fest · das lächeln schal geworden
manchmal aufgesetzt zweideutig ist der hingabe
müde und voll nacht: das was von den in den nacken
geflüsterten namen blieb · aber geborgen
selten · beide arme an den bauch gepreßt bis zum erwachen
unruhig widerstrebend und doch angezogen von allen
die scheiterten an ihr · und trotzdem festzuhalten
in dem wissen sie wurde weniger geliebt
um ihrer selbst willen als dafür daß sie keinem sich verriet

Mit diesem sich-nicht-verraten-wollen; dieser Projektion von etwas, das als rätselhaft angesehen wird, beginnt eigentlich schon die Begriffgeschichte des Heilligen. Aber das Heilige hat zunächst für einen Dichter eine völlig andere Dimension, weil das Heilige oder das Metaphysische; die Transzendenz oder dieser Projektionsgestus vom Konkreten ins Eingebildete, zu einer Art Berufskrankheit der Dichter gehört. Zur Geschichte der Poesie gehört es, dass sie sich erst langsam von der Religion lösen konnte. Sprachlich besteht ja auch noch heute kein Unterschied darin, ob man ein Gebet oder ein Gedicht spricht; ob es sich um Marienverehrung handelt oder ob es Romeo ist, der Julia anhimmelt – es ist immer dieselbe Art der Sprache, die gebraucht wird in einem Akt der Invokation, der Anrufung. Und obwohl ich mit dem Religiösen nichts zu tun habe, weil ich, ganz banal gesagt, nicht an Gott glaube, gehört dennoch diese Art von Heiligem zu den, selbst von mir unbeabsichtigten, Nebenwirkungen der Poesie, die mit der Sprache selbst zu tun haben.
So produziert zum Beispiel eine Metapher, die das Gedicht benutzt, bereits dieses Metaphysische: Wir können uns alle darauf einigen, was Erde ist, das ist konkret genug um es in die Hand zu nehmen; wir können uns alle darauf einigen, was blau ist, das lässt sich an vielen Beispielen demonstrieren und auch über das, was eine Orange ist, herrscht kein Zweifel. Sobald man diese Worte aber miteinander verkoppelt – durch einen einfachen Gestus, durch ein ist oder durch ein wie −, um zu einem Satz zu kommen, den Paul Éluard berühmt gemacht hat: „Die Erde ist blau wie eine Orange“, dann stellt sich plötzlich ein Bild im Kopf ein, das eigentlich nicht mehr zu fassen ist; das selbst mit dem besten Computer nicht einmal mehr virtuell herstellbar ist, weil es sich um ein Bild handelt, das permanent oszilliert. Je nachdem wie man den Fokus in diesem Satz anlegt, ist das Bild einmal größer und einmal kleiner; einmal wirkt die Erde darauf so groß, als wäre sie vom Mond aus fotografiert, einmal wirkt sie klein wie eine Orange; einmal ist sie blau; einmal ist sie orange. Und obwohl sie letztlich aus drei Worten bestehen (und ja auch das ist ein Wort ist, das Realität verspricht und das wie ein zeigender Gestus, der ebenfalls auf etwas Konkretes hinweist), sind es oszillierende Kippbilder.
All diese de facto konkreten Begrifflichkeiten stellen bei uns etwas im Kopf her, das chimärenhaft ist; das nicht mal mehr malbar ist – weder fotografierbar noch abfilmbar. Es wird dann plötzlich irreal. Dem nachzugehen ist eine Aufgabe des Dichters.
Der Unterschied zur Religion und letztlich auch der Stolz der Dichtung liegt darin, dem Projektionsgestus der Religion, die diese irrealen Dinge in einer Personifikation festbindet, zu folgen, ihn aber nicht in einer Person oder einem Ritus oder einem Kult zu binden, sondern offen zu lassen.
Ich kenne kein schöneres Symbol, um zu zeigen, was der Unterschied zwischen Religion und Dichtung ist, als einen griechischen Tempel in Sizilien, in Segesta: Eine Stunde westlich von Palermo geht es im Vorland langsam rauf; das Tal schneidet ein und dort oben steht ein Tempel, der besser erhalten ist als die Akropolis – zwar nicht ganz fertig, aber perfekt erhalten und der, anders als alle anderen Tempel die ich kenne, nie einem Gott geweiht wurde; der also wirklich nur eine Architektur ist, die aus Raum und Licht und der Leere dazwischen besteht.
Als ich das auf einer Reise, als das Jahr 2000 begann – als man von Compurerspezialisten gewarnt wurde, dass nichts mehr funktionieren würde, hab ich mir gedacht: „dann fahr ich nach Sizilien“ – gesehen habe, hat es mich sehr beeindruckt.
Das Gedicht, das ich Ihnen jetzt vorlese, wäre natürlich nur eine Beschreibung von altem Gemäuer und relativ trocken, wenn sich diesem Heiligen, das sich da zeigt, nicht auch eine andere Art von Personifikation anbieten würde, die aber im Gegensatz zu Jesus Christus oder zum Herrgott oder zur Jungfrau Maria, den Vorteil hat, dass sie real ist – nämlich eine reale Frau. Wobei die Pointe des Gedichts dann letztlich auch wieder mit dem Stolz der Dichtung zu tun hat, nämlich damit, dass man sich nicht gegen diesen Drang nach dem Transzendenten zu wehren braucht, weil es wie ein natürlicher Instinkt scheint, das Metaphysische im Physischen zu sehen; das Heilige in der Frau – auch wenn sie es einem manchmal nicht leicht macht.

ÜBER DAS HEILIGE I

ins ende gebaut · und an jeder schwelle das land fuß fassend
in den ackersohlen bis unter den riegel des karstes
wo es seinen kniefall macht · der talschluß als fundament
eines tempels in dem man keiner gottheit je ein standbild
aufstellte · nur die im absterben hoch aufragenden agaven
säumen den steig: jahrhundertpflanzen wie man sie auch nennt · du warst es
derer dieses steinere schweigen gewahr wurde · das raffen
des kleides in den schoß sein rascheln bei jedem schritt
der stöckelschuhe und wie es sich an der achsel straffte erhielt
die nähe einer gegenwart in der sich all das vereinzelte verriet
und hart hervortrat · an den säulen war der mantel
unabgeschlagen die fältelung nicht ausgekehlt · der stirnfries
und das giebelfeld wie ein vom salz zerfressenes paneel
blieben leer unter zuviel himmel · aber da war ein umriß
das rot deines kleides tiefer eingedunkelt als die blütenstände
das weiß deiner arme verletzlich · dein unbefangenes bewahrte all dies:
dem göttlichen zu widerstehen das sich hier in diesem tempel vollendet wähnte
ohne sich diesem göttlichen zu widersetzen nahm dann der ohnmacht ihr all das erstarrte

Das wäre dann das Heilige der Poesie – etwas starr noch und statisch. Im Gegensatz zu den Figurierungen der Poesie ist die Religion – wenn man es etwas provokant sagen will – nur da, um das Heilige zu administrieren, es zu kultivieren und es im Kult zu inszenieren. Aber das Erste, was die Religion mit dem Heiligen macht, ist gewissermaßen eine Grenze zu setzen und zu sagen: „Da ist etwas, das Tabu ist und da ist etwas, was weltlich ist“, um in dieser Spaltung etwas zu schaffen, was plötzlich die Welt aufteilt in Gebot und Verbot; in das Heilige und das Profane; in das, was ritualisiert wird und das, was Alltag ist. Und was sich dann zeigt, ist hinter dieser Grenze die Religion. Das Heilige ist also etwas, das ebenso sehr anzieht, wie es gleichzeitig auch Ehrfurcht und Schrecken erweckt.
Das beste Beispiel, das ich für diese Anziehungskraft des Schrecklichen und des Gütigen gleichzeitig fand, ist der höchste Christus, den man auf dieser Welt hat – der Christus in Rio de Janeiro, oben am Corcovado in dieser großen Geste, aus Beton gebaut. Alles auf einem riesigen Betonsockel, der mitten im Urwald steht, wo man auch Messen feiern kann, während man rundherum den Dschungel hört. Und wenn man untertags da hinauf geht, ist das Symbolische an diesem Christus, dass dort Hunderttausende von toten und verbrannten Insekten herumliegen, die nachts in die riesigen Scheinwerfer, die jenen Christus anstrahlen, fliegen, um dort zu verbrennen. Das war – zumindest für mich – ein schönes Sinnbild für das, was Religion tut; für diese Anziehungskraft, die, auch in einem sehr politischen Sinne, zerstört.

ÜBER DAS HEILIGE III

vorfabrizierte elemente
die eisen-armierten segmente
übereinander auf gewuchtet dreißig meter
hoch zu hundert tonnen christus aus massivbeton
seine arme ausgebreitet nicht um ein blau berstendes meer

die stadt an sich zu ziehen sondern um ans kreuz des himmels genagelt zu werden
einen kranträger anzubeten
vom bunker seines sockels aus · die wandlung auf dem altar
lallend immergrün der dschungel · pater
peccavi · allein im glauben dadurch zu sein · herr geworden
der nacht und ihrem zungenreiz
auf der aussichtsplattform kehrt der wind
die von den scheinwerfern angesengten insekten
flimmernd unter der skulptur

des erlösers zusammen · drohnen · manche noch sich regend
die flügel kleinblättrig verstreut ein schwarzer flor
laub wie von einem buchsbaum die nackten
leiber in ihrem blinden ahnen
verwirbelt zu girlanden

Wo dieses Heilige dann aber dinglich wird, manifestiert es sich plötzlich in den seltsamsten Gegenständen: Hierzu gehören nicht nur Votivgaben, sondern auch Relikte der Heiligen – so verkaufte man im Mittelalter soviel Holz als Splitter vom Kreuz Jesu Christi, dass man damit eigentlich einen ganzen Wald wieder zusammensetzen hätte können.
Das beste Beispiel, das ich für diese Manifestation des Heiligen in Dingen fand, ist eine Kirche im Süden von Kuba. Es ist eine sehr große Kirche westlich von Santiago de Cuba in El Cobre, die der heiligen Jungfrau Maria gewidmet ist. Wenn man dort rein kam, war das Erste, was man bemerkte, dass oben an der Decke lauter Wachsnachbildungen von den verschiedensten Körperteilen hingen, die man der Jungfrau Maria gestiftet hatte, um sich gesund zu beten oder als Dank, dass man wieder gesund geworden war: Es gab aus Wachs gegossene Nieren, Augen, Ohren, Beine – alle möglichen Körperteile, die krank werden können (was ungefähr alle sind). Sobald dann die Türe aufging und jemand reinkam, wehte der Wind hinein, so dass oben die Organe zusammenschlugen – aber völlig lautlos, weil sie ja aus Wachs waren. Den einzigen Krawall machten die Billigfassungen: Dieselben Körperteile konnte man nämlich auch aus Blech gestanzt vorfinden. Diese hingen, an Nägeln aufgehängt, an der Wand, und wenn der Wind durchfuhr, machte es dann plötzlich „klirr, klirr, klirr, klapper, klapper, klapper“. Hinter dem Altar gab es eine Vitrine, wo all diese Dinge, die man plötzlich für heilig erklärte – die plötzlich zu Manifestationen dieser fremden Macht des Heiligen wurden – ausgestellt waren.
Dies ist nun ein Gedicht, das lediglich diese Dinge aufzählt. Nur zwei Sachen konnte ich im Gedicht nicht unterbringen: Zum Einen (des Reimes wegen) einen Fernseher, den ein Student aus Angola gestiftet hatte – wobei ich mir schon damals dachte, dass er ihn wahrscheinlich nur der Jungfrau Maria gestiftet hatte, weil er ihn nicht mehr im Flugzeug unterbringen konnte −, und zum Anderen den berühmtesten der Gegenstände: jene Medaille, die Hemingway gestiftet hatte zum Dank für den Nobelpreis für Der alte Mann und das Meer, das auch in Kuba spielt. Diese Medaille gab es aber nicht mehr, denn sie war in der Zwischenzeit geklaut worden. Was also heißt, dass es doch einen Preis gibt, bei dem man sich traut, an das Heilige heranzugehen und es sich ins Wohnzimmer zu stellen.

ÜBER DAS HEILIGE VII

schatullen aus lackholz haarzöpfe
und ein roter sturzhelm unter glas
paßbilder brillen messingknöpfe
und ein vereinzelter chrysopras
im choraufgang hinter dem altar

auf schwarzem samt das exemplar
einer tausendseitigen doktorarbeit
stethoskope und ein lotterieeinsatz
alles gottes dreifaltigkeit geweiht
zweckentlehnt und fehl am platz

ausgelegt jedoch als glaubenssatz
zeigt sich in ihrer dinghaftigkeit
die fremde gegenwart des heiligen

als können sie uns daran beteiligen
beten wir und betteln wie mündel
blut und fleisch ihm zur pfründe

an stahlnägeln wie schlüsselbünde
aufgehängt weißwächserne organe
vorgestanzte körpetteile im bündel:
das uns so unzugängliche humane

Die eigentliche Begriffsgeschichte des Heiligen, wenn man sie aus dem Katholischen oder Protestantischen und überhaupt aus dem Religiösen herausdividiert, ist dann aber letztlich etwas vollkommen anderes, das mich sehr fasziniert und für einen ganzen Band von Gedichten beschäftigt hat. Wenn man zunächst mal den Etymologien nachgeht, ist das erste, was auffällt, dass das Heilige immer durch eine Grenze markiert ist.
Mir ist dies zum ersten Mal richtig bewusst geworden, als ich durch Deutschland gefahren bin, um als Mainzer Stadtschreiber einen Film über Deutschland zu drehen und mir gedacht hatte: „Ich fahr jetzt einfach durch Deutschland und schau mir die ganzen Orte an, die Himmel heißen.“ – Himmelreich, Himmelstadt… da gibt es ein ganzes Dutzend. Wobei für die Begriffsgeschichte ganz interessant ist, dass all diese Städte, die mit dem Heiligen zu tun haben, entweder bei den Schwaben oder ganz oben in Norddeutschland liegen, während es im katholischen Bayern kaum einen Himmel gibt – dort heißen alle Orte mit Hölle. (Diese gibt es dann umgekehrt bei den protestantischen Schwaben und im Norden nicht.) Was mir als erstes auffiel, war, dass all diese Orte, die Himmelreich, Himmelstadt, Himmelirgendwas hießen, nach gar nichts Besonderem aussahen; aber in dem Moment, wo es da ein Stadtschild gab, das den Himmel deklarierte, sah plötzlich jeder alte Birnbaum, der fünf Zentimeter hinter diesem stand, aus wie der Baum im Paradies. Das Ganze bekam plötzlich eine Signifikanz, die nur durch die Grenzziehung erschaffen wurde.
Wenn man sich die Begriffsgeschichte des Heiligen ansieht, hat die Grenze wesentlich mit dem Heiligen zu tun: Schon das Wort templum rührt ja daher, dass die alten Vogelschauer, um einen Vogelflug deuten zu können, ein Operationsfeld bestimmen mussten, das entweder auf der Erde lag, was die Gänse betraf, oder am Himmel lag, was den Flug der Vögel betraf. Nur wenn man am Himmel genau das Koordinatensystem markierte – d.h. den Ausschnitt, der für heilig erklärt wurde – dann machte es einen Sinn zu sagen: „Wenn die Vögel von rechts nach links fliegen, bedeutet das dies, und wenn sie von links nach rechts fliegen, bedeutet das das.“ Diese Bestimmung wo rechts und links; wo oben und unten ist, ist eigentlich die Wurzel des Wortes für Tempel, das templum. Während alles, was außerhalb dieses heiligen Gevierts oder Bezirks lag, interessanterweise für tescum erklärt wurde, was soviel bedeutet wie Einöde oder Wüste (so als wäre all das wirklich nur leeres Ödland), schien alles, was innerhalb des heiligen Bezirks lag, als wäre es magisch mit Realität angereichert.
Wenn man sich nun fragt: „Was zeigt sich denn innerhalb dieses Viertels; dieses Gevierts; dieses templums?“, so ist hierbei ein lateinisches Wort ganz interessant: Das Profane ist nämlich nur das, was vor dem fanum – dem Heiligtum – liegt. Und fanum hat ein und dieselbe Wurzel wie phaino oder das diaphane – das Durchscheinende, das Licht eigentlich. Das, was sich innerhalb dieses Gevierts zeigt, ist also Licht; ist etwas, das sich zeigt. Und wenn man dem nachgeht, was sich da zeigt, dann merkt man, dass sich zum Einen aus diesem Lichtphänomen deus ableiten lässt – das lateinische Wort für Gott hat ein und dieselbe Wurzel mit dem Tag und ein und dieselbe Wurzel mit dem Licht. Wenn man aber auf das Griechische zurückzeigt, so zeigt sich zum Anderen am griechischen Begriff theos, dass er sich von einem indoeuropäischen Wort ableiten lässt, das etwas völlig anderes bezeichnet, nämlich atem – als gäbe es da eine Art von Lebenskraft, die sich innerhalb dieses Gevierts manifestiert. Wenn man sich dann fragt – als dritte Manifestation des Heiligen – woher das deutsche Wort heilig kommt, dann merkt man, dass es sich ableitet von der Wurzel heil, was etwas bedeutet, was in sich ist in sich geschlossen, unantastbar, unverletzlich ist. Das ist eigentlich der interessanteste Begriff, weil er auf einen Realitätsbegriff verweist, der nicht von unseren Sinnen kontaminiert ist – als gäbe es eine Realität außerhalb der Sinne, die ja beständig filtern. Und das, glaube ich, ist letztlich das Paradethema jeder Kunst oder jeder Literatur, die Welt so darzustellen, wie sie wäre, wenn wir sie nicht durch die Begrenzung unserer Sinne sehen könnten. Oder als Anekdote, wie es Bishop Berkeley einmal gesagt hat: „Was passiert mit den Bäumen im Park, wenn es dunkel ist und keiner hinsieht?“ Also: Was für eine Art von Realität ist das, die da wäre, wenn wir sie nicht durch unsere Augen, durch unsere Ohren – die ja immer nur eine bestimmte Frequenzbreite von Reflexionen erfassen können – wahrnehmen würden? Was ist das wirklich draußen?
Das ist natürlich gleichzeitig auch das älteste Thema der Mystik, das da draußen in all seiner Widersprüchlichkeit und Paradoxalität herzustellen. Man macht zwar als Dichter manchmal mythische Erfahrungen – und mystische vielleicht auch – aber so richtig bewusst wurde mir die Fremdheit dessen, was man da vor Augen hat, nicht etwa nach einem langem Fastenexerzitium, sondern nach einem zweitägigen Flug nach Papua Neuguinea, bei dem man schon durch den Jetlag etwas ins Mystische verrückt oder zumindest desorientiert genug war, um das, was man sieht in einem anderen Licht wahrzunehmen. Nach dem sehr langen Flug ging es mit dem Schiff noch weiter auf eine Insel, wo man beim Tauchen so viele Fische im Wasser über sich sehen konnte, dass das Tageslicht nicht mehr durchkam. Und. so sitzt man dann auf dieser Insel und bemerkt das Meer in einer Fülle auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Dschungel auf dieser Insel, ebenfalls in einer Fülle und dazwischen diese glatt spiegelnde Fläche des Meeres; diese Grenzzone des Ufers und man selbst, der da ist und der sich dabei nur fremd und verloren fühlt, weder zu diesem, noch zu jenem gehört und merkt, dass man keinen Anknüpfungspunkt an nichts hat. Und plötzlich entsteht dann da der Eindruck, als könnte man den Himmel in sich selber zusammenfallen sehen; als könne man das sehen, was hinter dem Blau des Himmels ist – nämlich ein Nichts. Daraus ist dann eine Reihe von Gedichten entstanden, von denen ich Ihnen nun eines vorlesen möchte.

ÜBER DAS HEILIGE IX

das gelb der abende hier auf dem gewässer
aaaaadem himmel ruhig und für lang · die fische
aaaaaaaaaawie brunnen ehe sie noch aus dem wasser

springen · spritzer und hierauf eine bresche
aaaaaim meer im wind · über den steinen schwebend

die hitze · aber jetzt der uferlinie entlang
aaaaaseltsam fühllos wie noch nicht angekommen
aaaaaaaaaawars als ob auf einmal alles im leeren hing

und der himmel von weit in sich zusammen
aaaaafiel: das nichts dahinter gleichsam vor augen
aaaaaaaaaarückend ·

darauf hatte die see keine oberfläche mehr
aaaaadoch würde der geringste riß sich auftun
aaaaaaaaaaim geschlossenen des blicks rund um diese pier

könnte mit einmal alles sich überallhin
aaaaaleeren splitternd nord nach süd wie glas
aaaaaaaaaaund einen allein und nackt zurücklassen dann

die augen ausgelöscht von diesem weiß
aaaaaim dunkelnden des lichts · in den bäumen hörte
aaaaaaaaaadann plötzlich das lärmen auf der wind ließe sie aus

und von der nacht die darauf zurückkehrte
aaaaabliebe nur ziellose einsamkeit spreu gleich
aaaaaaaaaaverwirbelt am boden · schreib den tag die orte

und namen oder nenn meinetwegen auch
aaaaadich selbst: die dinge sind · wir es die tun
aaaaaaaaaadazwischen das was wird: fremd · uneigentlich

Um den Bogen wieder in Richtung des Menschlichen zu schlagen: theos – der griechische Gott – leitet sich von einer indoeuropäischen Wurzel ab, die, wie gesagt, auch Atem bedeutet, im Deutschen aber zum Wort Tier geführt hat und im Englisch zum deer, zum Hirsch; was man besonders als Tiroler zu schätzen weiß, da auch der weiße Hubertushirsch, der das Kreuz im Geweih trägt, ein altes Symbol des Heiligen ist.
Interessant ist, dass zu den ersten Manifestationen des Heiligen keine Darstellungen von menschlichen Figuren gehören (und auch keine Darstellungen von Natur an sich), sondern dass es sich immer um Bilder handelt, die mit Tieren zu tun haben. Wenn man sich die ältesten Felszeichnungen ansieht in Lascaux, in Altamira oder in der Grotte Chauvet, findet man, wo immer man hinstößt in dieser 40.000 Jahre alten Kunst, Tiere, die dort zum Symbol werden (auch wenn man nicht mehr weiß, was der rituelle Kontext war), während die menschliche Darstellung erst sehr spät, meist nur in Verbindung mit Tieren und grundsätzlich nur als Ausnahme vorkommt.
Wie die Präsenz des Tierischen als Manifestation von etwas Heiligem gedeutet werden kann, hab ich nur einmal erlebt: Auf einer Reise in die Wüste nach Algerien (als man dort noch hinfahren konnte) bekam ich plötzlich im Hoggar-Gebirge, einem Vulkangebirge, das fast 4.000 m hoch wird, zwei der scheuesten Tiere zu Gesicht – Mufflonschafe.
Man sagt, Mufflonschafe trinken nichts, sondern nehmen all ihre Flüssigkeit von den grünen Pflanzen auf und leben monogam, was man auch daran sieht, dass sich der Partner, wenn das Männchen oder das Weibchen stirbt, nebendran legt, um selber zu sterben. Es sind riesige, schwere Tiere, die ich nach ein Dutzend Wüstenreisen eben nur dieses eine Mal zu Gesicht bekommen habe. Sie so plötzlich zu sehen, hatte etwas von diesem wirklich Einschüchternden und überaus Realen der Begegnung mit etwas, das anders war. Und das in der Wüste, die zum Einen die menschenfeindlichste Umgebung überhaupt ist und zum Anderen letztlich nichts anderes als der Ausdruck von ganz viel Zeit – weil sie ja ehemals Meeresboden war. Einem Raum also, wo jeder Schritt über Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen von Jahren führt, während man selbst nur mit einer ganz kurzen Zeitspanne sein Leben bemisst. Und dieser Gegensatz von dem eigenen kurzen Leben und dem, was man dort in jedem Meter manifestiert sieht, war sehr… erschreckend.

SZENEN DER JAGD XII

zeugenberge · blöcke und brocken glänzend schwarz
tags zuvor hatte ich sie im feldstecher hinaufjagen gesehen
flanke an flanke innehaltend witterung aufnehmen
und wieder weiter durch diesen glast seitwärts

sich schlagend · es waren schwere tiere das auflohen
ihrer mähne das einzige was sie vom fels aufhob
den wind an der wange kletterte ich in diesen abwegsamen
den klüften entlang · geröll das frost gesprengt

und sand zerschliffen hatte und das so liegen blieb
in jenem flüchtigen gleichgewicht das eine zeit bedingt
die nicht in atemzügen mißt oder im blut das klopft
ihr ausmaß war diese steinhalde hier · ich kauerte im morgenlicht

regungslos unter einem überhang und wartete
in einer anspannung die nur im ausharren sich erschöpft
glaubte steine gegeneinanderschlagen zu hören ein schnauben
und meinte sie von mir längst schon verscheucht

weil ich den blick dafür verlor sich alles um mich verhärtete
und sah eines davon armlängen vor mir ein horn reiben
an den trümmern · den gelben ring der augen
das fell wie dunkler hafer nein: wie sand zurückbeugen

das genick und den kopf wegneigen · und hielt still
nach wie vor als könnte man diesen moment mit allem
vergangenen verschränken · dann der nachhall
von hufen im schutt der eine silhouette ausfüllte plötzlich mit reellem

Und jetzt wird es Zeit, dass wir zu den Frauen kommen.
Die Religionsgeschichte ist dabei insofern interessant, als dass nach diesen ganzen Tierdarstellungen die ältesten Darstellungen des Heiligen immer Frauen sind: Das beginnt bei der Venus von Willendorf, die man so interpretiert hat, und all diesen Muttergöttinnen, die die ersten Manifestationen von etwas zumindest Symbolischem sind, das über das Konkrete hinausweist.
Wenn man sich dann fragt: „Wer war denn der erste Gott, den man mit Namen kennt?“, so ist bezeichnend, dass dies auch wieder eine Frau ist. Der Umstand, dass man überhaupt den Namen eines ersten Gottes kennt, hängt dabei nicht damit zusammen, dass eine bestimmte Kultur diesen Namen erfunden hätte, sondern damit, dass dieser Name in einer Kultur überliefert ist, die als erste die Schrift besaß: Damit meine ich die sumerische Kultur, die ungefähr im vierten Jahrtausend v. Chr. im Zweistromland (dem heutigen Irak) die Schrift erfand. Und dort ist passender Weise im ersten und ältesten Gedicht, das uns bekannt ist, der Name dieser Göttin überliefert. Diese Göttin hieß bei den Sumerern Inanna und bei den Babylonern dann die Ishtar. Diese Ishtar war die Göttin der Fruchtbarkeit, der Liebe, der Sexualität, des Morgen- und des Abendsterns, aber gleichzeitig auch des Krieges – also eine sehr potente Mischung.
Das Gedicht bezieht sich auf diese Inanna. Schön nicht nur für die Religions- sondern auch für die Poesiegeschichte ist auch, dass dieses älteste Gedicht, das wir haben, passender Weise von einer Frau geschrieben wurde. Leider wissen wir aber nicht mehr ihren Namen, weil mitten durch diese Tontafel ein Riss läuft. Das hat einen sehr realen Grund: Als die Engländer damals im Irak zu graben anfingen und überall Tontafeln sammelten, bekamen das die jungen Burschen dort schnell mit und wenn sie eine Tontafel fanden, schlugen sie diese – zumindest in diesem speziellen Fall – einfach entzwei, um dafür den doppelten Lohn zu bekommen. Deswegen läuft durch den Namen Il[…]ummiya ein Riss.
Man weiß von ihren Gedichten, von denen man drei, vier gefunden hat, dass sie Hofdichterin war und – das ist auch ganz schön – dieses Gedicht geschrieben wurde für ein Zeremoniell, das sich „heilige Hochzeit“ nennt. Es war das Neujahrfest in der sumerischen Kultur, was man im Juni feierte, weil dann die Gerstenernte eingebracht wurde. Um die Fruchtbarkeit für das nächste Jahr zu garantieren – was im Zweistromland ja sehr sinnvoll ist – wurde dieser Ritus inszeniert, bei dem die höchste Frau als höchste Priesterin diese Göttin der Liebe, der Sexualität, der Fruchtbarkeit und des Krieges verkörperte und bei dem der König die Funktion des Widerparts einnahm. „Heilige Hochzeit“ auch deshalb, weil die Beiden dann miteinander schliefen. Wie real oder symbolisch das war, weiß man nicht mehr – es gibt allerdings plastische Darstellungen, aus denen man schließen kann, dass es sich um einen sehr realen Akt handelte, der da die Fruchtbarkeit garantieren sollte. Aufgabe der Hofdichterin war es, in einer Art von religiösem Rollenspiel ein Gedicht dazu zu schreiben. Und so preist das älteste Gedicht, das uns da überliefert ist, die Schönheit der Frau (und auch ihre sexuellen Vorzüge), damit der König kommt, um sie zu beschlafen und so die Fruchtbarkeit für das nächste Jahr zu sichern.
Es gibt dann natürlich auch schon die ersten Übersetzungsprobleme.: Das Geschlecht der Frau ist hier sehr plastisch mit einem Wort beschrieben, das man korrekterweise mit Salat übersetzen müsste. Das ist nun nicht besonders poetisch. Es stellt sich also die Frage: „Was für eine Art von Salat könnte das gewesen sein?“. Ich habe versucht die verschiedensten Möglichkeiten durchzuspielen: Da es in der Wüste wächst, muss es also eher Lattich sein – nicht besonders poetisch – oder eine Art Radichio – womit einem auch nicht geholfen ist – oder Endivien – auch nicht besser. So hab ich das Bild mit einer anderen Pflanzenart anatomisch leicht nach oben verschoben, damit die gewisse notwendige Nuancierung erhalten bleibt. Weiter gibt es dann auch noch den dubdub Vogel, von dem klar ist, dass er die Klitoris meint (der Vogel, der in der Furche des Ackerfeldes steckt), von dem aber bis jetzt die Assyriologen nicht genau wussten, was für eine Vogelart das ist. Inzwischen haben sie sich darauf geeinigt, dass es eine Mandelkrähe sei.

Mein krauses haar
aaaaaist die kresse ist die krause kresse
aaaaain ihrem beet der beine −
aaaaaer wird sie mir wässern
und den
dubdub
aaaaaden vogel der aus der furche der
aaaaaerde mit dem schnabel
aaaaaschaut ihn wird er mir streicheln

Meine amme hat
aaaaasich wirklich viel mühe gegeben
aaaaamein krauses haar hat sie
aaaaageflochten zu einem flügel
sanft hat sie’s
aaaaagekämmt und mit öl eingerieben
aaaaaund den harnisch der brüste
aaaaamir gerade gerückt

Laß ihn nur kommen
aaaaadie kresse ist nirgendwo grüner
aaaaaich werde ihm blicke zuwerfen
aaaaaund allein mit ihm
werde ich durch dieses feld gehen
aaaaaund die lust werd ich ihm zeigen

Süß wie honig ist er
aaaaaso süß wie honig ist er zu mir
aaaaaund süßes macht er mit mir

Wie honig so ist er
aaaaamein herr und mein könig
aaaaaund der liebling seiner mutter
Seine hand ist honig
aaaaaund wie honig sind seine füße?
aaaaaund süßes macht er mit mir
Sein Körper ist süß
aaaaaso süß ist mir sein körper
aaaaaund süßes macht er mit mir

Er hat mir plötzlich
aaaaaso süßes getan ich spürte es
aaaaabis zum bauchnabel herauf
Meinen bauch hat er
aaaaaden wüstenhonig des bauches
aaaaagewässert und meine kresse

Es ist also auch noch das erste vegetarische Gedicht.
Nun will ich versuchen, von dieser Ishtar wieder in die Gegenwart zu kommen – was nicht gerade leicht ist, vor allem, wenn man die Entwicklungsgeschichte dieser Göttin betrachtet, deren Rollenmodell gleichzeitig Liebe, Sexualität, Fruchtbarkeit, Astronomie und Krieg umfasst. (Wie gesagt: Eine sehr potente Mischung.)
Aus der babylonischen Ishtar wurde bei den Phöniziern die Astarte. Die Griechen aber, die eine sehr misogyne Gesellschaft hatten, konnten mit einer so machtvollen Göttin nichts anfangen und spalteten sie fein säuberlich auf: Aphrodite übernahm den Part der Schönheit und der Liebe, Athene und Artemis übernahmen den kriegerischen, Demeter den fruchtbaren Teil. Bei den Römern blieb dann nicht mehr viel übrig: Da ist nur noch diese Venus, die eigentlich nicht mehr als aus dem Bad raussteigen kann. Im Mittelalter zeigt sich noch ein bisschen was davon am Marienkult. Da wurden dann auch plötzlich die Engel, die in der Bibel ja meist männlich sind, eher weiblich gezeichnet. Und wenn man sich heute fragt: ,,was ist davon noch übrig geblieben?“ oder: „wo gibt es heute so ein Rollenbild oder -modell einer Frau, die gleichzeitig Krieg, Liebe, Sexualität und Astronomie verkörpert?“ – dann wird es schwierig. Claudia Schiffer ist es sicherlich nicht. (Madonna wäre eine Idee – so als Kommerzversion.) In der Dichtung aber war diese Frau immer präsent: Von der Lulu Wedekinds bis zur femme fatale; von Dantes Beatrice bis zur Laura des Petrarca; von der Bathseba, die David beim Baden beobachtet; bis zur Julia des Romeo und der Judith des Holofernes.
Das folgende Gedicht zählt all diese Frauenfiguren am Anfang auf – nicht weil es meine persönlichen Eroberungen wären, sondern weil es literaturhistorische Anspielungen und Anknüpfungen sind. Dabei ist ganz interessant, in welcher Beziehung Frauen und Dichtung zueinander stehen. Ich glaube, es gibt da zwei grundsätzlich komplementäre Haltungen: In der einen sieht man alle Frauen in einer – das ist quasi die poetische Haltung – und in der umgekehrten versucht man in allen Frauen die eine zu suchen: das ist dann die Haltung des Don Giovanni, des Don Juan, des Casanova.
Wovon dieses Gedicht handelt, werden Sie dann schon sehen. Die Namen sind, wie gesagt, alle historisch verbürgt und kontextualisierbar.

ÜBER DAS HEILIGE XV

und ich suchte nach dir und dich in allen
ina hatte deine an ihre hände ins laken zu ballen
anna deinen rauhen mund und isha diesen hunger auf alles
was nach harz und honig schmeckt

eva roch wie du an ihrer kerbe am schlüsselbein
batseba hielt gleich dir den schoß bedeckt
und judit und julia hatten deinen gang
die sehnsucht auf das unstillbare die stimmen und den wein

einige waren schöner auf ihre je eigne weise
und in aller unerbittlichkeit doch du warst es die nachtlang
neben mir im leeren dämmern vor dem fenster lag
am tisch ein krug und brot als speise

es ist da in diesem hotel hier jetzt und die vielen vorauf
ihre gestalt dir liehen hatten teil daran bis zum tag
und doch fand ich dich nie: deine schönheit
zerbrochen las ich nur scherben auf

durchs milchglas des badezimmers seh ich wie du am becken
bauch und achsel wäschst die tür offen bloß fingerbreit
und seh dich für sie stehen sie dir
ähneln alle und mich den arm ausstrecken

lange her seit eine fremde frau an meiner seite schlief
und das nackte nah war ohne begier
die linie deines schulterblattes wie die rinde von eukalypten
am lauf der zwei ströme ihr bett mannstief

der morgen noch in den ästen draußen ohne einen übergang
weißt du an meinen augen woran verrat wir übten
ich an den deinen was von uns blieb
die liebe etwas vollendetes das mißlang

in allen suchte ich dich nach dir in alljeden
und deins in ihnen zu erkennen ohne es abzureden
und ich lernte zu berühren ohne etwas noch zu halten mit einjeder
deren namen ich als deinen schrieb

Und um nicht mit so einer Note aufzuhören und die Stunde voll zu machen, gebe ich Ihnen nun noch ein ganz kurzes, dreiminütiges poetisches Pflichtprogramm. Es sind alles Gedichte, die nicht länger als maximal zwanzig Worte sind.
Zu jedem Pflichtprogramm eines Dichters gehört ein Gedicht über Vögel. Dies ist meines, das es ganz kurz macht:

die spiralen der
sperlinge · mit der
kante des flügels
schälen sie den
himmel in streifen
wie einen apfel

Das ist das obligate Herbstgedicht:

der fuchs ist ein stück glut
das der wind über den
weizen in den herbst bläst

Das Gedicht, das nun kommt, ist eigentlich überhaupt kein Gedicht, aber es ist das einzige, das ich je geträumt habe: Ich habe sehr viel von H.C. Artmann gelernt – ein österreichischer Dichter, der vor nicht langem leider etwas jung gestorben ist. Er hat für mich immer das Maskenspiel der Sprache und die Lust daran symbolisiert. Bevor ich die erste Lesung mit ihm hatte – die mir vorkam wie ein Ritterschlag, ich dachte, „jetzt darf ich neben dem mal lesen“ – habe ich oft geträumt, ich sitze so wie hier auf der Bühne und muss ein Gedicht nach dem anderen erfinden zusammen mit ihm, der links von mir sitzt. Während ihm ein elends langes Gedicht um das andere einfällt – eins schöner als das andere – bring ich überhaupt nichts raus. Diese Art von Alpträumen kennt man ja. Als ich dann endlich einmal mit einem Gedicht aufgewacht bin, war es dieses und ich war erleichtert, dass mir auch mal etwas Poetisches eingefallen war. Das Gedicht hat nur acht Worte, ist aber durchaus quantenphysikalisch deutbar und lautet:

der mond ist
schwarz
und
innen
ein gedicht

Und nun noch eins für die Buchhändler, das auch übertragbar ist auf die Frankfurter Buchmesse und den Lärm, der dort um Bücher gemacht wird. Es lebt allerdings auch nur vom Reim. Semantisch ergibt es nichts und ist, glaub ich, für literaturwissenschaftliche Interpretation weiter nicht tauglich – ein einmaliges akustische Phänomen und dann fertig:

und die nachtigallen
im regal
schlagen
solch einen krawall

Als Abschlussgedicht auch ein kurzes Gedicht – es ist das übliche Sonnenuntergangsgedicht:

die sonne rutscht vom dach
mit ihrem nackten arsch
voll roter striemen und

ich schlafe bis auf weiteres
auf der tenne des waldes
mit einem in der krone

Raoul Schrott

transkribiert von Christoph Borgans
Anmerkung: Gestus und Satzbau der gesprochenen Rede wurden für den Druck behutsam angepasst. Der Inhalt der Gedichte folgt dem gesprochenen Wort; die Form den an anderen Stellen bereits abgedruckten Vorlagen. Bisweilen unterscheiden sich die Gedichte bzgl. des Inhaltes sehr stark von den bereits publizierten Vorlagen.

 

 

 

Poesie und Praxis. Ein Entwurf

Aber mein Lieber! Verse macht man doch nicht aus Ideen,
sondern aus Worten.
Stephane Mallarmé an Edgar Degas

Poesie und Praxis: Dass ein Autor zum Wie und Was, gelegentlich auch zum Warum seines Schreibens öffentlich, wohldurchdacht und publikumsgewogen Auskunft geben soll, ist in Deutschland unter dem Namen „Poetikvorlesung“ inzwischen eingebürgerte Tradition. Ort ihrer Austragung sind in neunzig Prozent der Fälle die deutschen Universitäten, und in diesen wiederum gewöhnlich deren neuphilologische oder germanistische Abteilungen. Wie es eigentlich zu dieser wohl nach Ende des Zweiten Weltkriegs in beiden deutschen Staaten, am nachhaltigsten jedoch im Westen aufgekommenen Tradition kam, ist hier nicht zu erörtern. Es sei immerhin die Hypothese gestattet, dass je mehr die sogenannte schöne Literatur, ob sie sich kritisch dagegen sträubte oder nüchtern dazu bekannte, Teil eines sich selbst regulierenden Kulturbetriebs und -marktes geworden und ihr damit die Möglichkeit direkter, unvermittelter Einflussnahme auf Lebenswelt und Gesellschaft versagt war, ihr umso mehr gewissermaßen ,künstlich‘, von oben herab ein Podium eingerichtet werden musste, auf dem die Autoren über ihr Tun und Lassen Rechenschaft ablegen konnten. Ob sich diese auch ohne die Einladung auf akademische Gastrednerschaft je aus innerster Notwendigkeit zu ihrem professionellen Treiben geäußert hätten oder überhaupt vor sich selbst poetologisch hätten rechtfertigen müssen, sei dahingestellt.
Egal wie es sich damit verhält, die Tradition der Poetikvorlesungen blühte und blüht nach wie vor an jeder deutschen Uni, die etwas auf sich hält und solang sie es sich leisten und den rechten Mäzen dafür aufbieten kann, als schmückendes Beiwerk der akademischen Lebenskultur – eine willkommene Abwechslung für den von handfesten Lehr- und Lernverpflichtungen sowie klar umrissenen Forschungszielen bestimmten Unialltag, die so gut wie nirgendwo jedoch Teil etwa des neugermanistischen Curriculums geworden oder an entsprechende Seminarangebote gekoppelt wäre: eine Einzelerscheinung innerhalb der Einzelkämpferkultur der deutschen Geisteswissenschaften. Wo nicht wie in Frankfurt am Main mit Suhrkamp ein entsprechender Verlag oder wie etwa mit dem Tübinger Studio Literatur und Theater eine besondere institutionelle Basis für nachhaltige Publizität und Kontinuität sortgen, bleiben Poetikvorlesungen bestenfalls als Highlights und Events in Erinnerung, bei denen sich die betonte Jovialität des akademischen Gastgebers glänzend mit der Selbstdarstellungsabsicht des eingeladenen Poeten paart.
Einen entscheidenden Schritt weiter war da schon Edwin Kratschmer gegangen, als er zwischen 1993 und 2001 die von ihm initiierte und betreute Jenaer Poetikvorlesungsreihe durch deren Verankerung im fächer-, institutions- und personenübergreifenden Collegium Europaeum Jenense und die thematische Fokussierung auf die Komplexe „Schreiben in Diktaturen“ sowie „Erinnern und Gedächtnis“ einer wirklich breiten urbanen Öffentlichkeit zuführte, die ihm das auch nicht so schnell vergessen wird. Nicht zuletzt dank Kratschmers Engagement, das der widerständigen poetischen Praxis im totalitären Staat galt, ist diese Art von breitem Öffentlichkeitsinteresse noch immer das gegenüber vielen anderen Universitäten hervorstechende Kennzeichen der Alma mater jenensis geblieben.
Etwas anderes auf dem von der Formel Poesie und Praxis angeschnittenen Sektor meint das sogenannte ,kreative‘, ,freie‘ oder ,poetische‘ Schreiben, das als Schreibpraxis bislang höchst selten Gegenstand des akademischen Interesses geworden ist – es sei denn an eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen, deren Studenten schon allein durch ihren besonderen Status vom gewöhnlichen Studienalltag abgeschirmt sind, die aber auch von sich aus jede Verquickung mit dem üblichen akademischen Leben peinlichst zu vermeiden bemüht sind. So sehr man sich auch an Orten wie Hildesheim oder Leipzig dagegen sträuben mag, sind doch spezielle Schutzzonen für den literarischen Nachwuchs wie der Lehrstuhl für Kulturjournalismus oder das Deutsche Literaturinstitut trotz – oder gar wegen? – ihrer äußeren akademischen Einbindung und auch bei ihnen anzutreffenden curricularen Strukturen letztlich zu sehr aufs Schreiben als Technik, Handwerk oder erlernbare künstlerische Ausdrucksform beschränkt, als dass dort der Poetik als ästhetischen Signatur eines ganz bestimmten – eines und nur dieses einen – Autors oder einer ganz bestimmten Autorin noch eine zentrale Rolle zugestanden sein könnte. Im Gegenteil, Schreiben soll ja als erlernbar dargestellt werden, und da ist es erst einmal unerlässlich, jede Scheu vor allzu individuellen, allzu originellen, allzu sehr mit der Person des Autors verknüpften Schreibentwürfen zu zerstreuen, denn das Individuelle, der persönliche Entwurf, das bis zur Obsession gesteigerte eigene Thema sind ja gerade das, was keine Schreibschule der Welt einem vermitteln kann.
Noch nirgendwo jedoch ist hierzulande der Pragmatismus im Umgang mit der Ästhetik nichtwissenschaftlichen Schreibens zu spüren, wie er an US-amerikanischen Unis und zunehmend auch auf der britischen Insel zum normalen Programm gehört. Das poetische Schreiben hat dort sowohl in produktions- wie rezeptionsästhetischer Hinsicht seinen festen Platz im akademischen Kanon und wird jedenfalls nicht als Sonderfall, Ausnahme oder gar Widerspruch zur wissenschaftlichen Kritik empfunden, sondern vielmehr als wünschenswerte, grundsätzlich allen Interessierten offenstehende, nicht von vornherein auf Elite oder ,Exzellenz‘ getrimmte Bereicherung des üblichen Fächerangebots. In den Vereinigten Staaten sind die Dichter inzwischen ebenso anerkannte akademische Lehrer wie jeder ordentliche Professor der Physik oder des Völkerrechts – Zustände, von denen wir in Deutschland auch in zehn Jahren noch meilenweit entfernt sein werden. Doch warum eigendlich?
Hier lohnt es sich in der Tat, an Johann Wolfgang Goethe zu erinnern – einmal nicht aus Lokalpatriotismus (weil der ja als seinerzeitiger herzoglich weimarischer Minister die Oberaufsicht über die Jenaer Universität innehatte, von Rechts wegen also so etwas wie deren Schutzheiliger sein müsste), sondern aus substantiellen Gründen. Mit Goethe nämlich fand sich bereits früh ein scharfer Diagnostiker einer empirischen Wissenschaft, die ohne das Bekenntnis zur eigenen Herkunft aus der poetischen Vorstellungskraft den Kontakt zur Lebenswelt, der auch sie entstammt, verlöre – wie ebenso einer Poesie ohne Kenntnisnahme des wissenschaftlichen Diskurses der Draht zur eigenen Zeit, zum modernen Bewusstsein abhanden käme. In seiner Methode der Anschauung, wie Goethe sie in seiner „Morphologie“ und der „Farbenlehre“ entwickelte, ist beides getreu der Maxime: „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird“, aufs Engste miteinander verschränkt und bedingt sich gegenseitig.
Goethes Anschauungslehre ist ein in der neueren Wissenschafts- und Literaturgeschichte beispielloser Entwurf dafür, wie trotz der Zersplitterung des Forschungsinteresses in unzählige Schulen und Disziplinen (und mit den einzelnen Gruppen und Szenen des Literaturbetriebs ist die Fragmentarisierung auch dort ähnlich weit fortgeschritten) wissenschaftlicher und poetischer Wahrnehmungsmodus gegenseitig aufeinander angewiesen sind. Wo das poetische Denken sprachliche Bilder kreiert, die das Konkrete, Exemplarische und Besondere zeigen, strebt Wissenschaft eine auf Formel- und Regelhaftigkeit basierende Abstraktion vom Besonderen an, ohne auf die Impulse der Imagination verzichten zu können. Auch so lässt sich die Formel Poesie und Praxis verstehen: Die Poesie liefert das einmalige, treffende Bild, die Metapher, den inspirierenden Einzelfall, während die Praxis die Arbeit an der Synthese aller Einzelfälle zur allgemeinen Regel, zur These, zum Gesetz hin verkörpert.
Bekennt man sich zu diesem Aufeinanderangewiesensein beider Denkmodi, so ist die Chance vorhanden, die scheinbar entzweiten Disziplinen und Lehrgebiete wieder miteinander ins Gespräch kommen zu lassen, denn alle an der Universität beheimateten Fächer zehren, ob sie wollen oder nicht, vom poetischen Bild, wenn sie ihre spezielle Theorie in Sprache um- und übersetzen wollen. In Goethes Wissenschaftslehre liest sich das so:

Nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten.

Kein anderer Ort wäre für diesen aus der Rückschau geradezu utopisch anmutenden Entwurf der Verknüpfung von poetischer Kreation mit wissenschaftlicher Praxis so geeignet wie die Universität – doch das müsste erst einmal bewiesen werden, durch ganz konkrete Schritte in diese Richtung, und seien sie, wie aller Anfang eben, noch so klein. Diese hier vorgestellte Reihe versteht sich als ein solcher Schritt. Ihr Name ist, in diesem Sinne, Programm und selbst gestelltes Ziel das freilich nach einjähriger Laufzeit noch lange nicht als erreicht betrachtet werden kann – eine Vorgabe, die auf Beharrlichkeit und Kontinuität abzielt. Was bereits realisiert worden ist und wie dies geschah, dokumentiert dieser Band jedoch so umfassend es geht.
Sechs Autoren folgten im akademischen Jubiläumsjahr 2008 der Einladung des Collegium Europaeum Jenense, das sich seit seinem Bestehen als mit der Friedrich-Schiller-Universität eng assoziierte, jedoch von ihr unabhängige Plattform diskursüberschreitenden Denkens von europäischem Format erwiesen hat. Die einzige Vorgabe, die den Autoren vorab mitgeteilt wurde, war der Titel dieser Reihe selbst – Poesie und Praxis eben −, den sie ganz nach eigenem Ermessen für sich auslegen und in die individuelle Gestaltung ihrer Vorträge mit einbeziehen konnten. Die Art der hier versammelten Originalbeiträge der Autoren zeugt davon: Wo Paulus Böhmer mit einem seiner Langgedichte bereits mehr als die gesamte Vorlesungszeit bestritt und nichts weiter dazu zu sagen brauchte, weil diese Poesie immer auch schon ein Reflektieren seiner poetischen Praxis ist, fühlte sich Jürgen Becker dazu aufgerufen, eine eigene substantielle Darstellung seiner Schreibpraxis von den Anfängen bis heute zu geben, während Raoul Schrott wiederum dem poetischen Bild in Engführung mit dem von jedem religiösen Dogma freien Begriff des Heiligen in einem weit ausholenden mündlichen Vortrag sein poetisches Credo vermittelte; ähnlich Michael Krügers Vorgehen, der aus einem reichen biographischen und beruflichen Erfahrungsschatz schöpfend ein faszinierendes Panorama poetischer Tätigkeit als Lebenspraxis vor den Augen der Zuhörer entstehen ließ – ähnlich und doch anders wiederum Willem van Toorn, der in seiner Vorlesung anhand des Topos der Landschaft die neuere niederländische Poesie Revue passieren ließ, woran der Litauer Antanas A. Jonynas ebenso anschaulich mit Überlegungen zur eigenen literarischen Herkunft und zur Rolle des Übersetzens für seine poetische Konzeption anknüpfte.
Doch ist damit nur die eine Seite des Vorhabens Poesie und Praxis angeschnitten; die andere war ebenso essentiell, für die Dichter selbst wie für das Konzept als Ganzes, das ja eine Universität als Rückhalt hat – es handelte sich um neun Studenten, die in einem eigens dafür eingerichteten Seminar (das sich, wo auch sonst, jeden Freitag regelmäßig in Schillers Gartenhaus versammelte) eine ebenso einfühlsame wie kritische Leserschaft für die sechs gestandenen Autoren abgaben. Der auf die öffentliche Poetikvorlesung folgende Vor- oder Nachmittag war jeweils dem intensiven Gespräch mit den Dichtern vorbehalten – Auszüge aus diesen Seminarunterhaltungen, in denen die Autoren nicht selten Wesentliches zu den Grundlagen ihres Dichtens und Trachtens äußerten, wie es zuvor noch nie an die Öffentlichkeit gelangte, sind im vorliegenden Band mitgeteilt. Was auf diese Weise entstanden ist, kann man getrost auch als einzigartiges Kompendium poetischer Lehrbriefe bezeichnen, das ganz nebenbei, unterhaltsam und ohne jede Absicht zu bevormunden, die Rilke’sche Tradition der „Briefe an einen jungen Dichter“ in unsere Gegenwart hinein fortsetzt: ein veritables poetologisches Vademecum.
Ebenso wie die hervorragenden, jeweils schon von einer ganz eigenen Handschrift zeugenden essayistischen Annäherungen der Seminarteilnehmer an jeweils einen der Autoren mögen diese Mitschnitte zu jeder nur denkbaren Fortsetzung des Unternehmens Poesie und Praxis einladen. Nicht zuletzt haben die neun regelmäßig im Seminar versammelten Studenten – namentlich: Christoph Borgans, Christian Franke, Moritz Gause, Philipp Kampa, Christian Langehenke, Peter Neumann, Patrick Siebert, Romina Voigt, Christian Wilke – durch ihr beharrliches Engagement und ihren unerschütterlichen Enthusiasmus gezeigt, dass eine scheinbar so massen- wie karriereinkompatible Beschäftigung wie die mit der ,schönen‘ Literatur auch heute noch (oder heute erst recht?) eine veritable Chance hat, wahrgenommen zu werden. Poesie und Praxis ist eine Idee, der allein schon wegen der in diesem Band zu Wort kommenden jungen Namen eine große Zukunft beschieden ist. Warten wir’s ab. Spätestens wenn wir wieder von ihnen lesen, egal ob sie inzwischen zu Dichtern, Kritikern, Wissenschaftlern oder allen drei Professionen zugleich ausgereift sind, wissen wir, die Praxis (Michael Krüger: „Schreibt jeden Tag eine Stunde“) hat sich wieder einmal in Poesie verwandelt. Auf solche Momente bleiben wir gespannt.

Jan Röhnert, Vorwort, Juli 2008

 

Dieses Buch

ist alles andere als eine Sammlung monologisierender Poetikvorlesungen. Unter dem Motto Poesie und Praxis hatten sechs Dichter im Lauf von zwei Jenaer Semestern nicht nur ein großes öffentliches Publikum vor sich, dem sie ihre Schreibimpulse anvertrauten, sondern auch ein kleineres studentisches Seminar, das sich mit ihnen in einen fruchtbaren Diskurs über Lesarten ihrer Werke begab. Der ohne Berührungsängste zwischen Dichtern und Jungautoren geführte Dialog dokumentiert eine faszinierende Praxis vielfältiger Annäherungen an einen endlosen Gegenstand, der alle Bereiche unseres Lebens, Alltag wie Wissenschaft, berührt und diese zugleich hinter sich lässt: die Poesie.

IKS Garamond Verlag, Klappentext, 2009

 

 

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Jan Röhnert – Interview mit Jan Röhnert in Toulouse am 3. Mai 2010.

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