Jan Wagner: Über das Schöne in der Lyrik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jan Wagner: Über das Schöne in der Lyrik

Wagner-Über das Schöne in der Lyrik

DIE UNVERSTANDENE SPHINX
ÜBER DAS SCHÖNE IN DER LYRIK

Meine Damen und Herren: Es muß Menschen gegeben haben, die bei einer Lesung des herrlichen Dichters Wallace Stevens eingeschlafen sind, die bei einem Vortrag von Seamus Heaney von einer quälenden, unwiderstehlichen Müdigkeit überwältigt wurden. Irgendein Ignorant schlummerte im Cabaret Voltaire, nickte ein im Nuyorican Poets’ Cafe in Manhattan, dämmerte weg in der Akademie der Künste von Berlin, kniff sich im City Lights Bookstore in San Francisco verzweifelt in den Unterarm, um wachzubleiben. Es muß in der Tat vorgekommen sein, daß irgendein namenloser Barbar heimlich gegähnt hat, als Elizabeth Bishop ihre unwiderstehlichen Verse über das Fangen jenes berühmten, riesigen Fisches, jenes Karpfenveteranen vortrug, als die Dänin Inger Christensen ihr magisches Langgedicht Alphabet über die Dinge der Welt und die Welt in den Buchstaben rezitierte, ja, es ist nicht einmal vollkommen auszuschließen, daß diesem oder jenem Unglücksraben die Augen schwer wurden, als der große walisische Barde Dylan Thomas seine göttlichen oder doch nahezu göttlichen Gedichte vortrug mit einer Stimme, die eine seiner Freundinnen zu Recht als „a rich old fruity portwine of voice“, als reichhaltige, fruchtige Portweinstimme also, bezeichnete. Und all diese Zwischenfälle, wenn sie denn stattgefunden haben sollten, belegten doch nur eines – daß nicht für jede und für jeden Betrachter die Schönheit des Gedichts, die lyrische Schönheit derart unersetzlich und absolut ist wie für mich. Man muß sich damit abfinden: Nicht alle Mitmenschen nennen auf Anhieb die Lyrik, wenn sie nach Dingen gefragt werden, die ihnen unentbehrlich erscheinen. Und wer seinem Gegenüber die Frage stellt, was er oder sie als schön empfindet, den wird die Antwort oft frustrieren. Manet oder Manga? Schubert oder Bierzelthit? Shakespearetragödie oder Vorabendfernsehdrama? Die Wahrheit ist, daß viele rundum sympathische Mitmenschen als schön bezeichnen, was man selbst nur als Gipfel der Geschmacklosigkeit wahrnehmen kann. Und ebenso richtig ist, daß man für gewisse Schönheiten sensibilisiert werden muß, daß erst die Beschäftigung mit dem Objekt und das Raffinement des Betrachters zum Erlebnis des Schönen führen. Umgekehrt kann eine übersteigerte ästhetische Empfindsamkeit unempfänglich machen für die einfacheren Freuden, die bodenständigen Schönheiten, von denen es so viele gibt und zu denen, Gottfried Benn sagte das, eben auch ein Schlager von Klasse gehören kann, und eine solche Abgehobenheit kann entsetzlich sein – wer wollte schon leben wie der bedauernswert feinnervige Graf des Esseintes in Huysmans berühmtem Roman Gegen den Strich, der Wochen und Monate mit der Auswahl jeder einzelnen Teppich- und Wandfarbe verbringt, der in den Panzer einer großen Schildkröte ein Mosaik aus Saphiren und Smaragden einlegen läßt, um wenigstens an diesem, sich langsam durch seine Gemächer bewegenden Werk etwas Freude zu haben?
Nein, es gibt nur wenig, was jeder Mensch gleichermaßen schön fände.
(…)

 

 

 

Denis Scheck trifft Jan Wagner in Druckfrisch.

Jan Wagner liest bei faustkultur.

Poetry Crossings: Jan Wagner, Monika Rinck, Alistair Noon und Adrian Nichols lesen im Studio Niculescu am 15.4.2011 ausgewählte Gedichte und übersetzen sich gegenseitig.

Salon Holofernes – mit Jan Wagner. Judith Holofernes spricht mit Künstlern über das Kunstmachen.

 

Ein Gedicht und sein Autor: Ursula Krechel und Jan Wagner am 17.7.2013 im Literarischem Colloquium Berlin moderiert von Sabine Küchler.

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Jan Wagner

 

Jan Wagner liest in der Installation Reassuring Synthesis von Kate Terry aus seinem neuen Gedichtband Australien im smallspace, Berlin.

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