Jens-Fietje Dwars: Zu Lutz Rathenows Gedicht „Deutschland“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Lutz Rathenows Gedicht „Deutschland“ aus Lutz Rathenow: Gelächter, sortiert. 

 

 

 

 

LUTZ RATHENOW

Deutschland

Grüß Heil! Sieg Front! Rot Gott!
Ich liebe Herren, die Hunde beißen.
Hammer zerschlug Sichel. Ährenkranz,
Totentanz. Und nun das D-Mark-Leben.
Zu spät, zu früh, oh Jammerlust –
Neuer Staat, neues Gedicht. Spiele,
ich spiele gern: Zu-Zu-Zuversicht

Sommer 91

 

Der heimliche Anarchist

Eine Geschichte von Lutz Rathenow beginnt mit der Erinnerung an eine verstörende Episode seiner Kindheit: Mit einem Freund habe er auf dem Schulweg kleine Hakenkreuze auf Zaunslatten gemalt. Ein Zeichen politischer Unreife, gar früher Neigung zu falscher Gesinnung? Gott bewahre vor solchem Kurzschlussdenken, das den Wächtern der öffentlichen Moral zu jeder Zeit eignet. Der wache Leser dagegen merkt schnell, es geht um die heimlich unheimliche Lust am Verbotenen, am Spiel mit der Ordnung der Dinge.
Auf dem Papier verliert sich die Geschichte, leider ohne Pointe, im Leben dagegen hat sie den Autor zum Schreiben geführt. Denn was ist Schreiben anderes, als das Sichversichern einer unsicher gewordenen Existenz? Und was ist noch sicher in dieser verkehrten Welt:

Grüß Heil! Sieg Front! Rot Gott!

Nicht nur die Grußparolen, an denen sich die politischen Lager einst erkannten, sind auswechselbar. Die Welt steht Kopf, Herren beißen Hunde und der Hammer hat die Sichel zerschlagen, mit der im Bunde er einst für das Fundament eines neuen Staates galt. Der Ährenkranz steht für den Totentanz einer abgestorbenen Welt.
Und nun? „Und nun das D-Mark-Leben“ – Nein, das lässt nichts Gutes hoffen. Zu spät, zu früh? Nie ist der rechte Augenblick. Der Jammer wird zur Lust. Ein neuer Staat, ein neues Spiel – verpackt in ein Gedicht, das stotternd „Zu-Zu-Zuversicht“ verheißt.
Der Verfasser des Gedichts gilt heute als der berühmteste Dissident unter den einstigen DDR-Autoren. 1952 in Jena geboren, hat Lutz Rathenow Geschichte studiert, einen unabhängigen Arbeitskreis Literatur gegründet, wurde exmatrikuliert und, weil sein erstes Buch im Westen erschien, verhaftet. Seit 2011 ist er Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Doch in seinen besten Versen und wunderbar absurden Geschichten für Kinder, wie dem „Eisbär aus Apolda“, erweist sich dieser Dichter noch immer als ein Anarchist, der für keine Ordnung steht, die man nicht verlachen kann.

Jens-Fietje Dwarsaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00