Jens Herlth: Ein Sänger gebrochener Linien

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jens Herlth: Ein Sänger gebrochener Linien

Herlth-Ein Sänger gebrochener Linien

Поэт не гомункул, и нет оснований приписывать ему свойства самозарождения.1

И был бы, верно, я поэт, Когда бы выдумал себя.2

 

IOSIF BRODSKIJS DICHTERISCHE SELBSTSCHÖPFUNG: EINLEITUNG 

Den Anstoß zu einer Untersuchung der Verfahren, mit denen sich Iosif Brodskij in seinen Texten als Dichter entwirft, gibt ein diffuser Befund, der sich in Anlehnung an eine Äußerung Benjamins über Baudelaire formulieren läßt: Die „Figur“ Brodskijs „geht in einem entscheidenden Sinne in seinen Ruhm ein“.3 Das Wissen um die Bedeutung dieses äußerlichen „Fremdbilds“ des Dichters für die Rezeption seiner Werke ist auch der Brodskij-Philologie seit ihren Anfängen inhärent. Gleich ob sie es artikuliert oder nicht: Sie versteht sich als Arbeit an der Konstruktion dieser Figur,4 oder aber sie versteht es als ihr oberstes Gebot, diesen „verfälschten“ Lektüren entgegenzutreten und dagegen die „Poesie“ als das eigentlich und ausschließlich zu Lesende zu nobilitieren. Es ist keine besonders gewagte Spekulation, wenn man annimmt, daß Brodskijs oft geäußerte Abneigung gegenüber dem „voyeuristischen“ Genre der Biographie ihre Wurzel auch in einer werkstrategischen Überlegung hat: Wenn die Bedeutung des Dichters vor allem in seiner Lebensperformance gesehen wird, so schmälert das den Wert seines poetischen Projekts. Brodskijs eigene poetische Selbstentwürfe sehen sich von Anfang an den Zumutungen einer „markierten“ Biographie und den damit verbundenen Lektüremechanismen ausgesetzt.
Wenn hier als „dichterische Selbstschöpfung“ die textuellen Verfahren der Konstruktion einer Dichtergestalt verstanden werden sollen, dann ist dies nicht als ein Versuch zu verstehen, Brodskijs eigener Selektion zu folgen.5 Es geht auch nicht um einen Akt philologischer Pflichterfüllung im Sinne eines „zurück zu den Texten“. Vielmehr geschieht die Konzentration auf das poetische Material in der Annahme, daß die Texte des Dichters Iosif Brodskij die komplexeste Form der Reflexion über das Verhältnis von Text und Dichter-„Figur“ darstellen. Nicht nur bilden sie den Ausgangspunkt der Debatte, indem sie ihren Schreiber erst zum „Dichter“ werden lassen. Sie stellen auch den Punkt dar, an dem eine beständige Vermittlung zwischen Selbstentwurf und Fremdwahrnehmung beobachtbar ist.
Der Untersuchungsbereich, auf den der Begriff der „Selbstschöpfung“ zielt, unterscheidet sich daher von dem, was in bezug auf dichterische Lebens-Werkprojekte in letzter Zeit unter den Stichworten self-fashioning oder self-shaping diskutiert wird. Die Grenze verläuft im Konzept des „Selbst“, das im Kontext der hier vorliegenden Untersuchungen nicht das personale Selbst eines psychischen Subjekts und auch nicht dessen textuelle „Repräsentation“ oder „Symptomatik“ bezeichnet, sondern nur den reflexiven Rekurs, der darin liegt, daß ein Dichter in seinen eigenen Texten und sonstigen ästhetischen Gesten eine – in jeder Hinsicht dynamische – Dichterfigur entwickelt, die unter dem Label „Iosif Brodskij“ fungiert. Ausgeblendet wird damit die mit der Vorsilbe „Selbst-“ bzw. „self-“ oft mitgemeinte Problematik des modernen Subjekts. Es geht nicht um die Repräsentation von Ich-Identität und deren Problematik, sondern um die textuelle Produktion von Ich-Figuren – darum, wie in den Gedichten eine Figur entworfen wird, die als Bezugspunkt für derartige Probleme inszeniert wird, und darum, wie die poetische Praxis diesen Inszenierungscharakter reflektiert.
Selbstschöpfung ist also als vorrangig ästhetisches Verfahren zu untersuchen. Dabei gilt jedoch, daß sie immer in bezug auf bestimmte Erwartungshaltungen gebildet ist. Dies verlangt die Vermittlung der rhetorisch-textuell orientierten Lektüre mit einer Betrachtung der intertextuellen und rezeptionsästhetischen Problematik: das Dichterbild als Lektürefigur. Wie gestaltet Brodskij seinen Dichter, wie gestaltet sich dadurch unsere Lektüre? Wie sind die Texte als durch die Figur des Dichters lesbar konstruiert? Welches sind die Strategien der Autorisation von Werk- und Lebenstext, mit denen Brodskij selbst auf der Ebene der Gedichttexte und in den Nebentexten wie Essays, Interviews, die das poetische (Haupt-)Werk „flankieren“, sein eigenes Bild als Dichter formt? Die Dichterfigur ist ein Konstrukt, das zwischen dem „Selbstbild“ des Dichters „im Gedicht“6 und dem „Fremdbild“,7 auf das sich Benjamin in seiner Bemerkung bezieht, oszilliert.8 Ich will dessen „Innenseite“ untersuchen – die Gedichttexte, die Brodskij selbst als einzig „gültige“ Zeugnisse betrachtet.9 Die damit skizzierte Unterscheidung ist nicht statisch zu treffen, sondern beständig zu prozessieren: Die dynamische Abgrenzung gegenüber der „Umwelt“ der Texte, dem „Lebenstext“ und dem „Fremdbild“ des Dichters, irritiert wiederum die Innenseite der Unterscheidung. Die hier vorgelegten Lektüren müssen auch diese Irritationen in den Blick nehmen, wenn sie eine sinnvolle Perspektive auf die poetischen Strategien der Selbstschöpfung bei Brodskij entwickeln wollen. Denn die Auto-poiesis10 der Dichterfigur ist als eine sich beständig entfaltende Entwicklung zu lesen, bei der spätere Texte die in früheren Texten vorgenommenen Selektionen fortschreiben, abwandeln oder revidieren. Sie entfaltet sich vor allem als Selbstlektüre, als Reaktion von Texten auf Texte. Brodskij entwickelt in seinen Gedichten immer wieder neue Perspektiven auf den grundlegenden Zusammenhang oder Nicht-Zusammenhang von „Werk“ und „Leben“. Einen frühen programmatischen Ansatz liefert er 1961 in den Versen des Poems „Šestvie“: 

Но, как всегда не зная для кого,
твори себя и жизнь свою твори
всей силою несчастья своего
.11

Das „Selbst“, das hier geschaffen wird, steht noch in unmittelbarer, chiastischer Nachbarschaft mit dem „Leben“. Grundlegend für die Konstruktion dieses „Selbst“ ist das „Unglück“, das das Schicksal für den jungen Dichter bereithält. Mit dieser Verquickung von Selbstschöpfung und Leid zitiert Brodskij einen zentralen Topos der russischen „Dichtermythologie“.12 Diese hier gewissermaßen avant la lettre entworfene Selbsthermeneutik hat sich als so folgenreich für die „Figur“ Brodskijs erwiesen, daß die Auseinandersetzung mit deren spezifischen Zumutungen zur Leittendenz in Brodskijs poetischer Reflexion über die Strategien der Selbstschöpfung wird. Um so mehr, als das 1961 noch vor allem rhetorische „Unglück“ dann durch die Ereignisse in der Biographie des Dichters erst seine Deutungsmacht voll entfaltet. Die Lebensereignisse werden zur unabdingbaren Voraussetzung für das dichterische Werk. Den ersten, 1965 in New York erschienenen Gedichtband Stichotvorenija i poėmy, an dessen Zusammenstellung der zu diesem Zeitpunkt in der nordrussischen Verbannung weilende Dichter kaum beteiligt war,13 eröffnete ein Auszug aus dem Protokoll seines Leningrader Prozesses. Brodskij wird bei späteren Gelegenheiten die Signifikanz von Verfolgung, Prozeß und Verbannung herunterzuspielen bemüht sein. Im Gespräch mit seinem „Eckermann“, Solomon Volkov, lehnt er es ab, sich dazu zu äußern: Er habe die ganze Geschichte niemals ernst genommen.14 An anderer Stelle geht er noch weiter: „[…] я вообще все это заслужил.“15 Er ist offensichtlich bestrebt, das eigene Werk und die mit ihm verbundene „Figur“ vor der suggestiven Macht einer biographischen Lektüre zu schützen, die er selbst provoziert hat, indem er in „Werk“ und „Leben“ die entsprechenden Topoi aufruft.16
Ob er will oder nicht – Brodskij ist, wie Bethea im Einleitungskapitel seiner Untersuchung „Joseph Brodsky and the Creation of Exile“ feststellt, ein „Dichter mit Biographie“,17 da seine poetische Selbstdarstellung wie auch die Rezeption seiner „Figur“ immer wieder auf eine narrative Reihe von symbolisch aufgeladenen Ereignissen rekurrieren, die sich zu dem gruppieren lassen, was Boris Tomaševskij als „ideale biographische Legende“18 bezeichnet hat.19 Für Tomaševskij stellt diese „Legende“ das Ergebnis der vom Autor selbst in seinen Texten in bezug auf eine reale oder erdachte Lebensgeschichte prozessierten Selektion dar. Nur die vom Autor „geschaffene Legende“ kann damit als „literarisches Faktum“20 wissenschaftlich relevant sein. Was zählt, ist autorisiertes „Leben“. Der Gattungsbegriff „Legende“ wirft aber implizit durch seinen ursprünglichen sakralen Gehalt einen kaum zu lösenden Widerspruch auf. Einerseits spiegelt er den Aspekt der Kanonisierung, den Tomaševskij durch Autorisation – An-eignung der Lebensgeschichte im Werk – löst, und andererseits bezeichnet er die Ent-eignung der gemeinten Lebensgeschichte durch eine besondere Form der emphatischen Rezeption, durch die die „Legende“ erst zu dem wird, was sie ist: nicht ein curriculum vitae, sondern ein Lektüremodus, der die Faszination eines in und als Literatur gelebten/geschriebenen (Dichter-)Lebens in den Blick nimmt. Die Legende ist damit nicht ein Geschriebenes, für das ein Autor verantwortlich zeichnen kann, sondern ein „zu Lesendes“.21 Sie ist, obzwar nach dem Vorbild der Heiligenvita um bestimmte kanonische Motive aufgebaut, nicht fixiert, sondern entsteht als eine immer wieder neu entworfene Lektüre. Brodskij schreibt seinem „Lebens-Werk-Projekt“ mit den oben zitierten Zeilen die Anknüpfungspunkte für diese Legendenlektüre ein und bildet in der Offenheit, mit der dieses Projekt sich „an wen auch immer“ richtet (vgl.: „не зная для кого“), die Verselbständigung, den Kontrollverlust ab, der in der Beschwörung des Topos vom öffentlich geopferten Dichterleben liegt. Brodskij „kreiert“ nicht so sehr seine „eigene Legende“ (wie Bethea annimmt,22 er schafft vielmehr durch die Perspektive, die er in seinen Gedichten auf die Ereignisse seiner öffentlichen Biographie entwirft und vor allem durch die Bestätigung der herkömmlichen Lektüremuster vatischer Dichtermodelle die Ansatzpunkte für die Konstruktion einer Dichterfigur, die zu lesen und als immer zu Lesende zu begreifen ist. Selbstschöpfung wird daher im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdlektüre zu begreifen sein. Brodskij tritt selbst als Leser der eigenen Selbstentwürfe und der von ihnen aus entfalteten legendarischen Effekte auf. Sein Werkprojekt liefert weniger ein weiteres Demonstrationsobjekt für den Austausch zwischen dem Dichter als Mythenschöpfer und einem diese Mythen dankbar als „Kult“ aufnehmenden23 oder aber sie verwerfenden Publikum, sondern eher eine Reflexion darüber, wie Dichter zu „Legenden“ werden, das heißt: wie Dichterfiguren zu lesen sind. Die Faszination, die Brodskijs biographische Legende schon zu Lebzeiten des Dichters entfaltet, liegt auf der Hand. Die Frage ist, ob eine literaturwissenschaftliche Lektüre hier nur als Korrektiv wirken kann, oder ob sie nicht vielmehr durch eine genuin literarisch-ästhetische Ausdeutung der Verfahren der Selbstschöpfung und des Vorgangs der Legendenbildung ein Bild des Dichters „Brodskij“ herauspräparieren müßte, das seine Texte anschlußfähig hielte, ohne dabei den auratischen Effekt seiner Dichter-Legende aus dem Blick zu verlieren.
Zur genaueren Bestimmung dessen, um welchen Erkenntnisgegenstand es beim Thema „Selbstschöpfung“ eigentlich gehen soll, empfiehlt sich ein Rückgriff auf die grundlegenden Untersuchungen des russischen Formalismus zum komplizierten Wechselverhältnis zwischen dem historischen Autor, der in den Texten entworfenen Autorfigur und der in der Rezeption entstehenden „literarischen Persönlichkeit“. Mit Aage Hansen-Löve lassen sich im russischen Formalismus drei Konzeptionen des Autorbilds unterscheiden: die biographische Persönlichkeit des realen Autors (биографическая личность; AI), die literarische Persönlichkeit, das Bild des Dichters in der Dichtung, seine – um einen der formalistischen Schule fremden, aber klärenden Begriff zu verwenden – persona (литературная личность; AII) und schließlich die aus AI und AII synthetisierte „literarisch-soziale Persönlichkeit“ (литературно-бытовая личность, AIII).
24 Die biographische Persönlichkeit des Autors erfährt durch das Eintreten in den literarischen byt (die Rezeption) zwei Formen von Transformation, eine werkimmanente und eine werktranszendente, „die den im Werk realisierten obraz poėta zurück in eine synthetische biografičeskaja ličnost’ projiziert und diese dabei verfremdet“.25 Bei dieser „literarischen Persönlichkeit“ handelt es sich also um eine textübergreifende Kategorie.26 Sie ist deshalb geeignet zur Reflexion über das Gesamtwerk eines Dichters und zur Erörterung der Frage, welches Bild vom Dichter dieses Werk transportiert und wie dieses „Bild“ im dynamischen Zusammenspiel von Produktion und Rezeption, von Selbstschöpfung und Selbstlektüre gestaltet und verformt wird: „[…] литературная личность динамична, как литературная эпоха, с которой и в которой она движется. Она – не нечто подобное замкнутому пространству, в котором налицо то-то, она скорее ломаная линия, которую изламывает и направляет литературная эпоха.27 Die Untersuchung der poetischen Selbstschöpfung will Brodskij selbst als „Sänger“ dieser „gebrochenen Linie“28 zu Wort kommen lassen und darstellen, wie in seinen Gedichten das „Bild“ (obraz) eines Dichters entworfen und wie der Vorgang dieser Konstruktion selbst reflektiert wird.29 Dabei treten in diesem Zugang psychologische oder sonstige für uns unbeobachtbare Komplexe in den Hintergrund und werden nur insofern behandelt, als sie Teil der vom Werktext gebildeten Autorfigur geworden sind. Selbstschöpfung aus der Textperspektive funktioniert also bezogen auf das Leben des Autors als eine Art Auswahl und bewußte Gestaltung, nicht des Lebenstextes, sondern seiner literarischen Transformation: Das Leben des Dichters ist für Brodskij „Geisel seines Metiers“.30 Auch die „Verfahren der ,Mythologisierung‘ des AII zum AIII“,31 also im vorliegenden Fall die Frage, welche Mechanismen für die Bildung des „Brodskij-Mythos“ verantwortlich sind, sollen vorrangig aus der Perspektive des Werks untersucht werden. In einer Verschränkung von rhetorisch-figuraler und semantischer Lektüre ergibt sich die Möglichkeit, die poetische Selbstschöpfung Brodskijs als einen Prozeß darzustellen, der im Spannungsfeld von Intertextualität, Selbststilisierung (auf „Dichterseite“) und „Mythenschöpfung“ (auf Rezipientenseite) abläuft, und gleichzeitig die Reflexion dieses Prozesses in den Texten aufzuweisen. 

Der Brodskij-„Mythos“
Noch 1994 konstatiert Valentina Poluchina, über Brodskijs „Schicksal“ sei mehr geschrieben worden als über seine Lyrik.32 Auch wenn sich das Verhältnis mit dem Erscheinen zahlreicher Aufsätze und einer Reihe von Monographien mittlerweile umgekehrt haben dürfte, bleibt jede Reflexion der Figur Brodskij mit der besonderen Rolle seines biographischen „Mythos“ konfrontiert. Die wissenschaftliche Rezeption reagiert auf die biographischen Erinnerungen von Zeitgenossen, Freunden und Bekannten des Dichters, wie sie insbesondere im posthum einsetzenden Gedenkdiskurs überhandnehmen, pflichtgemäß mit der Option für die einzig relevante „linguistische Natur seiner Errungenschaft“.33 Daß mit solchen Formulierungen Klarheit gewonnen ist, darf bezweifelt werden. Hier wie dort scheint die Faszination für die Gestalt des Menschen und Dichters Brodskij übermächtig. Brodskijs Leben und Werk wird von Anfang an als „Fallgeschichte“ wahrgenommen, die an die maßgeblichen Modelle der russischen Dichtermythologie(n) anknüpft.34 Die Elemente seiner Biographie präsentieren sich den Zeitgenossen früh als Varianten einer typischen Dichterbiographie: Die Bekanntschaft mit Anna Achmatova als symbolischer Ausdruck der kulturellen Kontinuität mit dem „Silbernen Zeitalter“ (sowie implizit die Anknüpfung an den Deržavin-Puškinschen Topos der Segnungsgeste),35 das unerschrockene Verhalten während des Prozesses von 1964, die anschließende interne Verbannung, die folgenden Jahre des „inneren Exils“ und schließlich der Höhepunkt der Kollision „Dichter – Staatsmacht“ in der endgültigen Exilierung 1972.
Noch zu Lebzeiten Brodskijs veröffentlichte Valentina Poluchina eine Sammlung von Gesprächen über Leben und Werk des Dichters, deren Titel an den in der russischen Kultur üblichen Dichtermemorialdiskurs anknüpft:

Joseph Brodsky through the Eyes of His Contemporaries.36

Die Tendenz zur Kanonisierung, ja zum Personenkult, die dem Genre der „Zeitgenossenerinnerung“ latent innewohnt,37 findet hier, obwohl oder gerade weil es um einen lebenden Autor geht, einen mustergültigen Ausdruck. Die Herausgeberin stellt ihren Gesprächspartnern Fragen vom Typ „Скажите, когда вы лично начали усматривать в Бродском черты гениальности?“,38 in denen sich das Streben nach mythischer Verklärung mit dem nach historischer Klärung vermischt. Immer wieder geht es um den Zeitpunkt der Herausbildung der literarischen Legende „Brodskij“. Mythenschöpfung und ihre metasprachliche Dekonstruktion gehen hier Hand in Hand. Gerade solche Musterlektüren des Falls „Brodskij“, wie sie Poluchina den „Zeitgenossen“ abfragt, machen einen entscheidenden Zusammenhang deutlich: So unstrittig die literarische Qualität dieses Werks auch sein mag, vor allem ist es doch die Signatur, also der Autorname und der ganze Komplex aus Leben, Biographie, Geschichte, den dieser ins Spiel bringt, durch die dieses Werk eine suggestive Aura erlangt, von der sich – so scheint es – kaum ein Leser befreien kann, der mit diesem Kontext vertraut ist. Brodskijs Lebens-Werk scheint genau dem Bedürfnis nach „Dichterlegenden“ zu entsprechen, das einem emphatischen Verständnis der „Literatur“ als einer aus dem Ensemble der „profanen“ Diskurse herausgehobenen Kultursphäre immer entspringt. Die russische Kultur weist durch ihre „Literaturzentriertheit“39 eine spezifische „Anfälligkeit“ für das Entstehen solcher mythischen Geschichten auf: Die soziale Imagination wird hier traditionell „fast ausschließlich“ vom Medium der Literatur gespeist.40 Sie gruppiert sich um das Zentrum der mit charismatischer Aura umgebenen Dichterfigur.41
Roland Barthes beschreibt den Mythos als ein semiologisches System, das gleichwohl als ein System von Fakten gelesen wird.42 Grundprinzip des Mythos ist die Verwandlung von Geschichte in Natur, die Dehistorisierung und Entpolitisierung der Dinge.43 Dem „Brodskij-Mythos“ liegen zweifellos bestimmte Fakten zu Grunde.44 In ihrem Zusammenspiel gewinnen sie die für die Entstehung des Mythos charakteristische charismatische Aura, durch die man in der Figur „Brodskij“ die zeitgenössische Verkörperung eines klassischen Dichterschicksals sieht. Dieser Lektüre geht es dann nicht mehr so sehr um die Klärung der Ereignisse, sondern eher darum, sie in eine kohärente, sich an den tradierten Mythologemen der Dichterlegende orientierte Erzählung einzupassen. Dabei ist gerade der Fall Brodskij so interessant, weil hier die „Metasprache“ des Mythologen45 von Anfang an durch – wenn auch seltene – rehistorisierende Interventionen an der Fortentwicklung und Herausbildung des Mythos beteiligt ist. Genau in diesem Kontext ist Anna Achmatovas berühmter Ausspruch zu lesen:

Какую биографию делают нашему рыжему! Как будто он кого-то нарочно нанял.46

Achmatova, die sich der Relevanz der mythenbildenden Aspekte des eigenen lebenskünstlerischen Textes sehr bewußt war und die nach Kräften an der Konstruktion ihres „Mythos“ arbeitete,47 verfügte schon zu diesem frühen Zeitpunkt über die Metasprache, derer es zur (Re-)Historisierung eines Mythos bedarf. Sie weist auch sofort auf das Vorläufermodell hin, vor dessen Hintergrund Brodskijs entstehende „biographische Legende“ gelesen werden muß:

Это как две капли воды похоже на высылку Пушкина в двадцатом году. Точь-в-точь.48

Und auch Brodskij selbst darf ein Bewußtsein für das unterstellt werden, was mit seinem Werk und seiner literarischen Legende in der kulturellen Aneignung passierte. In seinem ersten auf russisch erschienenen Prosatext heißt es über das Ende Puškins (eine Art Ursituation des modernen russischen Mythos vom „geopferten Dichter“):

Коротко говоря, человек, создавший мир в себе и носящий его, рано или поздно становится инородным телом в той среде, где он обитает. И на него начинают действовать все физические законы: сжатия, вытеснения, уничтожения. Такова была судьба Пушкина, и ее он персонифицировал в то холодное утро на Черной речке.49

Brodskij begreift das „Schicksal“ des Dichters als schon zu Lebzeiten der historischen, „realen“ Person auf eine merkwürdige Weise übergeordnet. Die Lebenshandlung des Dichters ist hier nicht mehr als eine rhetorische Figur in einem script, dessen Sujet schon festgelegt ist.
Ein Anliegen dieser Arbeit wird es sein, der von Brodskij selbst unternommenen metasprachlichen Kontextualisierung zu folgen und – nun auf das dichterische Werk selbst bezogen – die Frage zu stellen, wie in ihm Mythen geschaffen und gleichzeitig gelesen oder kommentiert werden. Zweifellos hatte Brodskij einen großen Anteil an der emphatisch-naiven Lektüre seiner Werke. Auch dürfte er sehr wohl um die literarische und letztlich sogar mythologische Signifikanz seiner Lebenshandlungen gewußt haben. Eine – von philologischer Verantwortung gegenüber dem „Text“ geprägte – Entscheidung für die Dichtung und gegen den Mythos (hier: das Leben), wie sie noch Michail Kreps seiner Brodskij-Studie als „Vorbekundung“ pathetisch voranstellte,50 droht jedoch den kulturellen und historischen Kontext, innerhalb dessen ein solches Werk agiert, aus dem Blick zu verlieren. Brodskijs dichterisches „Lebens-Werk“ liefert mit der impliziten Hinwendung zu den Kerntopoi der russischen Dichtermythologie Anknüpfungspunkte für eine emphatische Rezeption, die in ihrer Konsequenz mythenschöpfend ist, insofern sie bestimmte Schlüsselereignisse in der Lebensgeschichte des Dichters zu einer dehistorisierten „Legende“ ausformt. Brodskij bemüht sich zwar konsequent, seine Abneigung gegen biographistische Lektüren zum Ausdruck zu bringen und sich als „Dichter ohne Biographie“ westlich-modernistischer Prägung zu präsentieren. Und doch bieten eben nicht nur die Stationen seiner äußeren Biographie, sondern auch und vor allem die in den Gedichten und in der strategischen Organisation seines poetischen Gesamt-Werks entworfenen Perspektiven auf den Dichter „Iosif Brodskij“ Material für die Herausbildung einer Dichterlegende mit charismatischer Aura.51 Die unversöhnliche Entgegensetzung einer naiv-emphatischen „Legendenlektüre“ einerseits und einer philologisch und ideologiekritisch „aufgeklärten“ Lektüre der rhetorisch-figuralen Organisation der Figur des Dichters in den Gedichttexten andererseits kann gerade der Reflexion des Verhältnisses von Dichter-Mythos, Dichter-Ich und textueller Ich-Figur, die Brodskij in seinen Texten vornimmt, nicht gerecht werden.
Zudem scheint eine „rein philologisch“ orientierte Lektüre vorderhand gar nicht in der Lage zu sein, die mythische Monumentalisierung der Dichter-Figur in den Blick zu nehmen, da der textuelle Anknüpfungs- und Ausgangspunkt für biographistisch-legendarische Lektüren, das „lyrische Subjekt“, bei Brodskij als „fragmentiert“ und „absentiert“ erscheint.52 David Rigsbee sieht in der Dezentrierung des „poetischen Subjekts“ den „master-trope“ seiner Lyrik.53 Als grundlegend für die Struktur der dichterischen Selbstdarstellung bei Brodskij sind deren „Vieldeutigkeit“ und „Maskenhaftigkeit“54 herausgestellt worden. Valentina Poluchina spricht von einer „fast vollständigen Verdrängung des lyrischen ,Ich‘ aus dem Gedicht“;55 und Efim Etkind hat Brodskijs Lyrik als „Er-Dichtung“ bezeichnet, in der das „Ich“ fast nicht vorkomme.56 Eine Untersuchung der textuellen Selbstschöpfungsoperationen in Brodskijs Werk muß vor diesem Hintergrund versuchen zu klären, wie der umfassende Präsenzanspruch des personalisierten Dichter-Mythos als den Werktexten überlagerte Makroerzählung und die scheinbar konsequente Suspendierung dieser Präsenz auf der Ebene der textuellen Mikrostruktur zusammengehen können. 

хоть искусство
писателя не есть Искусство жизни,
а лишь его подобье
57

 

Žiznetvarčestvo?
Dichterische Selbstschöpfung vollzieht sich traditionell nicht nur auf textueller Ebene, sondern sie zielt auch auf die Gestaltung des „Lebenstextes“. Was auch immer Brodskij tue, so Viktor Krivulin noch zu Lebzeiten des Dichters, man spüre, daß jede seiner Handlungen sich als Teil einer Dichterbiographie verstehe, er handele immer als Dichter58 – und folgt letztlich dem romantischen Modell:

[…] нет минут непоэтических в жизни поэта.59

Als „Dichter“ wird Brodskij auch schon in den Augen der Zeitgenossen zu einer Funktion von Dichtertum:

Во всяком случае, некоторая часть поэзии Бродского казалась создаваемой не только им, а и самим местом, которое он постепенно занимал.60

Dabei hat es sich Brodskij zur Strategie gemacht, in seinen werkbegleitenden Selbstkommentaren zu behaupten, daß er sich selbst nie wirklich ernst genommen,61 sich nie um seine Biographie gekümmert habe und überhaupt die Sorge des Autors um seine Biographie für mauvais ton halte.62 Trotzdem läßt er es sich nicht nehmen, am Tag seiner Ausreise aus der Sowjetunion einen Brief an Brežnev zu schreiben, mit der Bitte, er möge ihm wenigstens seinen Platz in der russischen Literatur lassen.63 Der das schreibt, weiß genau, wie folgenlos ein solcher Brief unter pragmatischen Gesichtspunkten sein wird.64 Aber er kennt auch den Symbolgehalt, den diese Geste vor dem Hintergrund der traditionellen antinomischen Konstellation von (verfolgtem und verbanntem) „Dichter“ und „Tyrann“ entfaltet. Er handelt im vollen Bewußtsein seiner Rolle als Dichter in der russischen Kultur und realisiert das vorgegebene script.
Die Verleihung des Nobelpreises hatte für Brodskijs Bewertung des eigenen Werdegangs eine außerordentliche symbolische Bedeutung, die vor dem Hintergrund der relativen Beliebigkeit, mit der der Preis in seiner Geschichte dem einen oder anderen Autor zuerkannt wurde, überraschen muß. Brodskij empfindet die Zuerkennung als einen Akt historischer Gerechtigkeit und präsentiert sich als Erbe einer Reihe von nicht-prämierten Vorläufern und als Vertreter einer Generation von jahrelang staatlicherseits unterdrückten Literaten.65 „Unsere Mannschaft hat gesiegt“, resümiert er salopp im Gespräch mit Bengt Jangfeldt.66 Zudem fällt die Preisverleihung zeitlich mit dem Beginn der nun auch offiziellen Veröffentlichung und Rezeption seiner Texte in Rußland zusammen.67 Sofort nach der Rückkehr aus Stockholm verfaßt Brodskij 1987 nach eigenem Bekunden eine Antwort auf Pasternaks Gedicht „Roždestvenskaja zvezda“, schreibt also dem eigenen Werk die mit der Nobelpreisverleihung offiziell gewordene Gleichstellung mit dem Vorgänger ein, der zuvor als einziger russischer Lyriker für diese Ehrung ausersehen worden war. Seine Entscheidung, daß „Angebot“ zur Ausreise anzunehmen, das ihm 1972 von offizieller Stelle unterbreitet wurde, begründete Brodskij später damit, daß ein Verbleib in der Sowjetunion bei unverändertem „dichterischen“ Verhalten zu neuen Prozessen, erneuten Verfolgungen und möglicherweise zu erneuter Verbannung oder Lagerhaft geführt hätte. Diese Variante aber hätte seiner biographischen Legende kein neues Element mehr hinzugefügt, so daß er nicht zuletzt auch deshalb den nächsten Schritt, die Ausreise nach Westen, gewählt habe68 – im Gepäck, wie er erzählt, nur eine Schreibmaschine, eine Ausgabe der Gedichte John Donnes und eine Flasche Wodka.69

Für Brodskij ist „Leben“ ein ästhetisches Projekt, das mit den entsprechenden Kategorien beschrieben werden kann:

Living is like quoting, and once you’ve learned something by heart, it’s yours as much as the author’s.70

Die Ästhetisierung des eigenen Lebens ist hier jedoch trotz der offensichtlichen Bewußtheit, mit der Brodskij seine Lebenshandlungen gestaltet und/oder kommentierend ausdeutet, keineswegs als eine späte Transformation des entsprechenden romantischen und dann vor allem symbolistischen Projekts der „Lebenskunst“ (žiznetvorčestvo)71 zu verstehen. Die – für die russische Moderne zentrale72 – Frage des Verhältnisses von „Leben“ und „Kunst“ wird auch im Lebens-Werk Brodskijs immer wieder gestellt. Dabei entwickelt Brodskij verschiedene Modelle der Verknüpfung oder Trennung der beiden Sphären, mit denen dann jeweils verschiedene Lektüren des eigenen Lebens-Werks entwickelt werden. Sind die Texte des frühen Brodskij in seiner eingangs zitierten Selbstbeschreibung gewissermaßen einfache Resultate einer leidgeprüften Dichterexistenz – wohlbemerkt zeitlich vor Prozeß, Verbannung und Exil –, so gerät in den späteren Texten das „Leben“ programmatisch in den Hintergrund, und insbesondere die mythoskonstituierenden, schicksalhaften Sequenzen der Erzählung werden zurückgenommen. So werden in einem der zentralen autobiographisch organisierten Gedichte, das Brodskij an seinem vierzigsten Geburtstag schreibt,73 Gefängnishaft und Exilierung als freiwillige, intentional herbeigeführte Handlungen dargestellt;74 und über das Los des exilierten Dichters heißt es in Novaja Anglija (1993) bilanzierend:

Мы только живем не там, где родились – а так
все остальное на месте и лишено судьбы
75

Das Brodskijsche Frühwerk kann – ich werde das in Teil II dieser Arbeit vorführen – als Versuch gelesen werden, aus „Leben“ künstlerisch organisiertes .Schicksal“ zu machen.76 Im nachhinein ergäbe sich hier die für romantische Lebenskunst charakteristische Überschreitung der Grenze zwischen Kunst und Leben: Die Biographie wird als ästhetisches Projekt verstanden und nach künstlerischen Modellen gestaltet.77 Der tatsächlichen Verbannung Brodskijs aus der UdSSR geht die mehrfache Ankündigung dieses Schicksals im dichterischen Werk voraus. Im „Werktext“ wiederum wird das Lebensereignis als eine Reminiszenz an die ihrerseits zu Kunstwerken gewordenen Biographien der dichterischen Vorläufer, Ovids und Dantes, gedeutet. Und doch läßt sich Brodskijs Projekt eines „Lebens-Werks“ kaum mit dem „hölzernen Wort“ (Blok)78 des žiznetvorcestvo erfassen. Der Symbolismus überführt die Dichotomie von „Leben“ und „Kunst“ in eine Einheit.79 Das Leben wird zum Kunstwerk. Es wird nach ästhetischen Prinzipien modelliert und so zur zentralen Manifestation des künstlerischen Gestaltungswillens. Auch Brodskijs persona oszilliert zwischen dem Imaginären und dem Realen; die Texte modellieren Lebensmythen und spiegeln andererseits Ereignisse des Lebens wider. Obwohl nach Brodskij „in den wirklichen Tragödien der Vorhang ein Teil des Mantels“ ist,80 liegt doch keine einseitige, um den Körper des Dichters zentrierte lebenskünstlerische Theatralik vor, wie sie in letzter Zeit als zentrale ästhetische Tendenz der russischen Kultur der Jahrhundertwende diskutiert wird.81 Vielmehr entzieht Brodskij nach einer Abkehr von der „romantischen“ Ausrichtung82 im Frühwerk planmäßig das „Leben“ der Beobachtung durch die Kunst und ersetzt es in modernistischer Manier durch den „Text“ des Werks. Das Werk erzeugt (im Zusammenspiel mit den begleitenden Texten wie den autobiographischen Essays und zahlreichen Interviews) ein fiktives Bild des Autors, seine „ideale literarische Legende“, die an die Stelle des „realen Lebens“ tritt. Brodskij kehrt so die Operation des žiznetvorčestvo logisch um.83 Leben wird als literarischer Text und in den Kategorien des literarischen Textes gedacht und geschrieben. Das „reale“ Leben ist damit – semiotisch gesprochen – unmarkiert. Im Gegensatz zu den Symbolisten geht es Brodskij nicht um eine Änderung dieser Welt, sondern um die Erschaffung einer neuen Wirklichkeit in der Kunst.84
Das allein wäre kein besonders bemerkenswerter Ansatz – Brodskij befindet sich hier in einer langen Traditionslinie, die in der Moderne etwa bei Mallarmé ihren Anfang nimmt. Das Interessante ist, daß seine Lyrik ihre Brisanz eben doch aus der Grenzüberschreitung zwischen den beiden Bereichen bezieht. Brodskijs Abkehr von der auf Authentizität und kausale Verbindung zwischen Leben und Werk setzenden Poetik seines „Frühwerks“ (der Text als „Summe der Leiden“) ist eine strategische Notwendigkeit. Von einem bestimmten Moment an konnte es für ihn nicht mehr produktiv sein, sich als neoromantischer Sänger von Einsamkeit und Verfolgung zu gerieren, weil er merkte, daß der dadurch erzeugte obraz poeta künstlerisch nicht sonderlich interessant war. Aber die Effekte dieser frühen Phase und insbesondere die Effekte einer dichterischen Biographie, in der Prozeß, Verbannung und Exil als direkte Folgen der dichterischen Tätigkeit erscheinen (also als „Wirkungen“ des Textes auf das Leben), begleiten Brodskijs Werk bis zum Ende, und auch die „späten“ Gedichte können als Reflexionen über diese wechselseitigen Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Leben und deren Auswirkungen für den kulturellen Stellenwert des dichterischen Gesamtwerks gelesen werden. Wenn Brodskij schreibt, Kunst imitiere nicht das Leben, sondern „infiziere“ es,85 so kennzeichnet er damit metaphorisch den Übergang von der einen in die andere Sphäre als unkontrollierbar. Weitergedacht, ergäbe sich, daß Kunst zunächst auch das Kunstleben, also den obraz poėta, „infiziert“. Gerade die Unbeobachtbarkeit des „realen Lebens“ macht im Falle eines Autors wie Brodskij, von dem wir bisher über keine nennenswerten Zeugnisse seiner intimen, inneren Biographie verfügen, die Anfälligkeit für Mythenbildung aus.86
Letztlich sind auch die mythischen Archetypen, mit denen Brodskijs Dichterschicksal gelesen wird, Folgen einer derartigen „Infektion“ des Lebens durch die Kunst. Und Brodskij hat, indem er seinen eigenen obraz poėta als Wiedergänger klassischer Dichterschicksale präsentierte, einer solchen Lektüre auch noch Vorschub geleistet. Es ergibt sich, daß die Betrachtung des Falls Brodskij nur in der Abgrenzung von der geläufigen Vorstellung des žiznetvorčestvo produktiv werden kann: Hier geht es um obrazotvorčestvo,87 um die Erschaffung eines Dichterbilds, das sich aus dem Wechselspiel von Werk, Rezeption und begleitenden ästhetischen Gesten (Interviews, Essays) bildet und darum, wie der Vorgang des obrazotvorčestvo im Werk reflektiert wird.
Über die Mechanismen dichterischer Selbstschöpfung wird eine Untersuchung, die die Dichterfigur als eine im Austausch von Werk, Leben und Reflexion entstehende Konstruktion betrachtet, sicherlich gründlichere Aussagen treffen können, als eine Lektüre, die die im Werktext als „immer-schon“ unauthentische, „zurechtgeschliffene“ Stilisierung gegen den „authentischen“ Lebenstext auszuspielen versuchte.
88 Diese „authentischen“ Zeugnisse über den „Lebenstext“89 des Dichters sind letztlich viel durchschaubarer nach literarischen und mythischen Mustern modelliert als die vom Werk selbst entworfene Perspektive. Meine These ist, daß die Außensicht auf Brodskijs Werk und Dichterfigur maßgeblich durch die im Werk entworfene Selbst-Perspektive präfiguriert wird – wo sie nicht ohnehin nur eine Fortschreibung der bekannten Dichter-Mythologeme darstellt, die ihrerseits in den Texten einer Reflexion unterzogen werden. Außerdem gehe ich davon aus, daß Brodskij die wesentlichen Züge des in der Rezeption gebildeten „Fremdbilds“ in seine poetischen Selbstreflexionen reintegriert, daß er also versucht, das letzte Wort und die maßgebliche Perspektive auf die Figur „Iosif Brodskij“ zu behaupten.
Letztlich steht jede Untersuchung einer dichterischen Lebens-performance vor dem Problem, daß auch „Verhalten“, sobald es um eine im literarischen Diskurs geformte Gestalt geht, nur textuell konstruiert und überliefert zu haben ist – nie als „Leben selbst“. Die Entscheidung, die in den Gedichten entworfene Selbst-Darstellung des Dichters gegenüber den „flankierenden Texten“ wie Essays und Interviews und den zahlreichen Manifestationen eines in der Rezeption konstruierten „Fremdbilds“ zu privilegieren, versteht sich nicht als Ausdruck einer – letztlich nur ideologisch zu begründenden – Annahme von der „Überlegenheit“ des literarischen Textes. Die eindeutige Hierarchie der Diskurse – wie sie Brodskij für sein eigenes Schaffen in den Gattungen von Poesie und Prosa aber immer auch für die Literatur schlechthin behauptete, ist schon Teil seiner Selbstschöpfung als „Medium“ eben des hierarchisch gesehen höchstgelagerten Diskurses, der Poesie, des „Ziels der menschlichen Art“:
90

To make a long story short, a poet shouldn’t be viewed through any prism other than that of his poems.91

Die Lektüre der Brodskijschen Selbstschöpfung ist als „Beobachtung der (Selbst-)Beobachtung“ zu vollziehen. Dazu werde ich den in der Binnenperspektive des Werks vollzogenen Setzungen und den hier entworfenen Perspektiven Folge leisten, um dann in der Lage zu sein, diese als Selbstschöpfungsoperationen zu beschreiben.
Natürlich sind auch bestimmte dokumentierte Handlungen oder „außerliterarische“ Äußerungen wie Interviews oder Zeugnisse der Zeitgenossen von Interesse, aber nur insofern, als sie mit dem Brodskijschen Werk in irgendeiner Form kommunizieren, es kommentieren, seinen Rezeptionsraum strukturieren, zu Fakten einer literarischen Biographie werden, deren Spuren dann wiederum in den Werken abzulesen sind. Ein Dichter hat bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit, zu entscheiden, was in seiner Biographie „literarisches Faktum“ werden soll und was nicht. Es ist ihm überlassen, welche Elemente seiner öffentlich bekannten Dichtervita, welche ,Biographeme‘92 er einen Niederschlag in seinen Texten finden läßt – und nur um diese geht es hier.
Bestimmte „Lebens-Werk“-Konstellationen sind schon durch ihre kulturelle Vorgeprägtheit so machtvoll, daß ein Autor der hier entfalteten „ikonischen Konstanz“93 werkstrategisch kaum entgegenarbeiten kann, zumal, wenn er seine Strategien im Laufe der Jahre modifiziert. Brodskij wird immer als exilierter Autor gelesen werden, und er hat in seinen Texten genug Anknüpfungspunkte für eine solche Lektüre angelegt. Generell ist für Brodskij das hohe Maß an kulturell-strategischem Bewußtsein charakteristisch, mit dem er seine Rolle als Dichter entwirft und in die Texte einschreibt. Denn es scheint so, als ob hier ein Leben insofern dem Diktat des Literarischen „geopfert“ wurde, als bestimmte Lebensumstände nur als Effekte einer bestimmten literarischen Disposition verstanden werden können. In die unwirtliche Welt Nordrußlands verbannt, webt der Dichter mit einer gewissen Zwangsläufigkeit Reminiszenzen seiner Ovid-Lektüre in die dort entstehenden Texte.94 Die so machtvolle Rom-Parallele (Moskau als drittes Rom usw.), emblematisch festgeschrieben im imperija-Begriff, entwickelt Brodskij noch in den sechziger Jahren. Das Baltikum wird für ihn in dieser Zeit zur pseudorömischen „Provinz“. Der imperiale Dichter schreibt in diesem Spannungsfeld von Machtzentrum und Peripherie, obwohl er kein politischer oder gar dissidenter Autor ist. Aber Brodskij hat es immer verstanden, die Orte seines Schreibens zu Zeichen zu machen bzw. ihren kulturellen, geopolitischen Zeichencharakter in die Gedichte zu integrieren. Der Körper des Dichters ist nicht – wie im symbolistischen žiznetvorčestvo – ästhetisierter Schauplatz der künstlerischen Strategien, sondern dient gewissermaßen sekundär als Beglaubigung für die Verortung der Gedichte im geographischen und kulturellen Raum. Er ist nur ein Glied in der Zeichenkette, dessen es bedarf, um dem Werk solche grundlegenden mythopoetischen Konstellationen wie Provinz/Imperium, „Rom“, Venedig/Petersburg einschreiben zu können. Brodskijs Leben ist gelebt worden, um ein Werk hervorzubringen und zu beglaubigen. „Dichter-Sein“ ist hier aufgesetztes, sekundäres Sein (möglicherweise rührt daher auch die Emphase des Authentischen in den frühen Texten Brodskijs). Das „Dichter-Leben“ ist nicht als lebenskünstlerische „Selbsttechnik“,95 sondern als ein künstlerisches Verfahren und als Entwurf einer (reflexiven, das heißt auf die eigenen Texte zurückgebogenen) Hermeneutik zu lesen. Es nimmt so die Form einer Leseanweisung für das eigene Werk an. 

… пигмей, самоуверенно карабкающийся на Парнас... 96

Иначе говоря, он – большой поэт.97

 

„Brodskij“ lesen. Fremde und eigene Lektüren
Das zentrale Anliegen dichterischer Selbstschöpfung ist die Formung fremder Lektüren. In der Gestaltung der eigenen Dichterfigur und ihrer Perspektivierung in den Gedichten und flankierenden rhetorischen und ästhetischen Gesten versucht der Dichter nicht nur, sein eigenes Bild zu formen, sondern über die Gestaltung dieses Bilds vor allem bestimmte Lektüren seiner Texte zu autorisieren und wiederum anderen die Anknüpfungspunkte zu verwehren. In ihrer Funktion als „Leseanweisung“ ist die „Figur“ des Dichters bisher kaum ins Blickfeld philologischen Interesses gerückt. Vielleicht ist dies mit ein Grund dafür, daß im Fall Brodskijs den autorisierten Lektüremustern so bereitwillig gefolgt wird: Die Brodskij-Forschung gruppiert sich zum größten Teil um die vom Autor selbst mit einiger Deutlichkeit vorgegebenen Gegenstände. Man untersucht die verschiedenen „Einflußbeziehungen“, die großen Namen, die er als seine Vorläufer ins Spiel gebracht hat und behandelt die thematischen Grundkomplexe, die seinem Werk und seiner Dichterlegende eingeschrieben sind: Zentral ist hier wie dort das Ereignis des Exils, aus dem sich eine Werk wie Leben umfassende Lektüreanweisung extrahieren läßt. Es geht dann um die ästhetische Dissidenz der Texte Brodskijs, in der der Grund für seine Exilierung gesehen wird, seine „existentielle“ Fremdheitserfahrung, seine Zweisprachigkeit und seine Mittlerposition zwischen russischer und angloamerikanischer Kultur. Oder aber man nimmt die zentralen Begriffe, Konzepte und Motivkomplexe, um die sich seine Gedichte ranken, auf motivischer oder abstrakt-philosophischer Ebene auf und versucht, aus den in Gedichten und Essays oft nur sehr diffus formulierten pseudophilosophischen Positionen eine systematische „Weltanschauung“ zu konstruieren.98 Oft wird dabei im Grenzbereich von freier Reflexion und Literaturwissenschaft agiert – bis in die Diktion hinein sind Brodskij-Lektüren vielfach vor allem Zeugnisse von Brodskij-Faszination.
Die Gruppierung um bestimmte thematische Schlüsselkomplexe hat durch die offensichtliche leitmotivische Organisation von Brodskijs dichterischem Gesamtwerk ihre Berechtigung.99 Allerdings stellt sich die Frage, wie und wodurch es einem Dichter gelingen kann, eine zwar in ihren Filiationsbeziehungen teilweise entschlüsselbare, letztlich aber idiosynkratische und kaum anschlußfähige Ansammlung wiederkehrender Motive, Themen und Positionen als Gegenstand eines anhaltenden philologischen Erkenntnisinteresses zu installieren. Mehr als um das „Wesen“ und den möglichen referentiellen Gehalt von Brodskijs „poetischer Welt“100 soll es daher in der vorliegenden Arbeit um deren Funktionalisierung gehen.101 Es gilt, sie als einen ästhetischen Effekt in den Blick zu nehmen und dabei die rhetorischen und werkstrategischen Operationen offenzulegen, durch die Brodskij in der Gestaltung dieser „poetischen Welt“ seine eigene „Figur“ monumentalisiert, sich selbst zum Dichterphilosophen stilisiert. Zugleich eröffnet die funktionale Perspektive den Blick darauf, wie der Dichter kraft der kulturellen Autorität seiner „Figur“ derartige Lektüren erst provoziert und legitimiert. Das „gigantische poetische Gebäude“ der Werke Iosif Brodskijs, von dem Jakov Gordin in seiner blumigen Vorrede zu einem kürzlich erschienenen Sammelband mit Beiträgen zu den üblichen Abteilungen der Brodskijforschung („Metaphysik“, „Gesprächspartner“, „Dichter und Sprache“) spricht“,102 ist seinerseits ein Effekt dieser in der Selbst-Figur des Dichters angelegten Lektüreanweisung.
Ein Ansatz, der die in der Brodskijschen Dichterfigur angelegten selbsthermeneutischen, rhetorischen und performativen Effekte miterfassen will (um ihnen nicht einfach nur zum Opfer zu fallen), muß nun naturgemäß über die Interpretation des Einzelgedichts103 und die Untersuchung von poetologischen Fragestellungen im engeren Sinne hinausgehen und den gesamten Lebens-Werkkomplex „Iosif Brodskij“ einbeziehen, sofern dieser sich als mehr oder weniger abgeschlossenes Korpus von Texten und ästhetischen Gesten darstellt. Nur so kann neben der ästhetisch-rhetorischen Entwicklung der textuellen Dichterfigur auch der Aspekt des Biographie-shaping betrachtet werden, nur so werden die Gedichttexte ihrerseits als Zeugnisse einer „Kunst, Schriftsteller zu sein“104 lesbar. Vorarbeit für einen solchen Ansatz haben vor allem die Brodskij-Monographien von Valentina Poluchina105 und David Bethea106 geleistet. Poluchinas Texte und Aktivitäten107 sind durch ihre Treue gegenüber den von Brodskij gegebenen Lektüreanweisungen und durch die Vehemenz, mit der sie es zu ihrem Anliegen macht, Brodskijs „Figur“ nicht als Ergebnis von Selbstschöpfungs- und Lektüreoperationen, sondern als paradigmatisches Individuum, als „Dichter“ und „Mensch schlechthin“ darzustellen, selbst Teil des Gesamtkunstwerks „Brodskij“ geworden. Seine Gedichte liest sie in ihrer chronologischen Reihung als fortlaufende Dokumentation einer durch die spezielle Aura und die Gefährdungen des Dichtertums geadelten Persönlichkeitsbildung.108 Konstitutiv für ihre Lektüre ist die wechselseitige Beglaubigung von textuellen „Masken“ und einer dahinter „versteckten“ (das heißt authentischen) „emotionalen Erfahrung“ des Redesubjekts.109 Auch und gerade, wo die Subjektrepräsentation bei Brodskij als „fragmentarisch“ und „dezentralisiert“ erscheint, spiegelt sich darin für Poluchina das existentielle Dilemma des postmodernen Subjekts.110 Brodskij wird so zum „Dichter für unsere Zeit“, dessen in Gedichttexten „ausgedrückte“ individuelle Erfahrung zur menschlichen Erfahrung überhaupt wird. Dieser letztlich ideologische Zugang liegt auch einer Reihe von Aufsätzen zugrunde, in denen Valentina Poluchina die Poetik des Selbst und die Formen der Repräsentation und Konstruktion des lyrischen Subjekts in Brodskijs Dichtung untersucht.111 den Blick für die strategischen Operationen der Selbstschöpfung zugrunde, der Poluchinas Ansatz fehlt. Er ist der erste, der die Leitreferenzen, die die Diskussion um Brodskijs Werk bestimmen, zusammenfaßt und sie auf die Texte zurückbezieht. Dante, Mandel’štam, Donne, Cvetaeva werden als anwesend-abwesende Gesprächspartner, als Bezugspunkte für die dichterische Identitätsbildung dargestellt. Als thematische Klammer dient das Konzept des „Exils“ in seinen verschiedenen mythologischen, ästhetisch-literarischen und faktualen Ausfächerungen. Bethea vollzieht nach, wie Brodskij durch die Auswahl und Setzung von Referenzen kulturelle Projekte fortschreibt (Akmeismus), an der kulturellen Autorität seiner Vorläufer partizipiert und sein eigenes Werk damit versorgt. Er geht auf die Spezifik der dichterischen Selbstschöpfung in der russischen kulturellen Tradition ein und weist Brodskij durch die Gegenüberstellung mit Vergleichsmodellen seinen Platz in dieser Tradition zu. Das Problem seiner Arbeit aber ist, daß er zwar „Brodskij“ als Phänomen und damit als etwas Gemachtes begreift, daß er aber nicht konsequent genug nach den Mechanismen der Entstehung dieses Phänomens fragt. Bethea geht es darum zu zeigen, aus welchen Ingredienzen das Werk „Brodskij“ zusammengesetzt ist (vatische Dichterkonzeption + Dante + Mandel’štam + Donne + Cvetaeva + Exil = Brodskij). In der vorliegenden Arbeit hingegen ist die zentrale Frage, wie und warum eine solche Zusammensetzung auf der Ebene der poetischen, rhetorischen und pragmatischen Organisation der Texte funktioniert und wie die Texte selbst diese Konstruktion prozessieren und reflektieren. Wie liest Brodskij sich selbst, wie formt er sich, indem er fremde Lektüren formt?
Wenn die Entscheidung getroffen ist, ein „Werk“ nicht als das Ergebnis eines Lebens zu lesen, sondern als seine Substitution, dann liegt es nahe, den Autor, aus dessen schöpferischer Strategie diese Entscheidung abgeleitet werden kann, danach zu fragen, wie denn dieses Leben im und als „Werk“ zu lesen sei. In seinen eigenen Dichter-Lektüren löst der Leser Brodskij, der sich seiner privilegierten Position als Nicht-Philologe jederzeit bewußt ist, dieses Problem auf intuitive Weise:

Because every work of art, be it a poem or a cupola, is understandably a self-portrait of its author, we won’t strain ourselves too hard trying to distinguish between the author’s persona and the poem’s lyrical hero. As a rule, such distinctions are quite meaningless, if only because a lyrical hero is invariably an author’s self-projection.112

Was ihn an anderer Stelle wiederum nicht davon abhält, vom „voyeuristischen Genre“ der Biographie als der „letzten Bastion des Realismus“ zu sprechen und die eindeutige Priorität von „Kunst“ vor „Leben“ zu deklarieren:

What a poet has in common with his less articulate fellows is that his life is hostage to his metier, not the other way around.113

Die einzige programmatische Konsequenz Brodskijs in der Diskussion des Verhältnisses von Leben und Kunst ist seine Geringschätzung der Bedeutung des eigenen Lebens, insofern es gelebtes Leben ist.114 Der Dichter offenbart sich im Text seines Werks als Trope. Das zu analysierende Geschehen ist rhetorisch und nicht psychologisch.
„Brodskij“ ist ein narratives Ereignis
115 und insofern in der punktuellen Gedichtanalyse kaum zu fassen.116 Und gerade hier muß eine Metalektüre der Figur Brodskij ansetzen: Sie muß untersuchen, wie es gelingt, eine Gestalt zu entwerfen, die über die Einzeltexte hinaus und durch sie hindurch eine semantische Wirkung entfaltet, die die Gedichte als „Fragmente einer großen Konfession“ lesbar macht. Die Brodskijsche Selbstschöpfung – Autopoiesis im systemtheoretischen Sinne – ist durch „Lektürenlektüre“ greifbar zu machen: Zuerst werde ich darstellen, vor welchem kulturellen Rollenkontext Dichterfiguren „immer schon“ gelesen werden, und untersuchen, welche figural-rhetorischen und rezeptionsästhetischen Mechanismen an der Konstruktion einer „Dichterfigur“ beteiligt sind (Abschnitt I). Nach diesen historischen und theoretischen Vorüberlegungen wird es darum gehen, die literarischen Ausgangspunkte Brodskijs in den frühen sechziger Jahren darzustellen. Seine dichterischen Anfänge können als Initiation und gleichzeitig als strategisch-bewußte Inszenierung einer Initiation gesehen werden. Noch viel deutlicher ist das erste zentrale „Sujet“ (im Lotmanschen Sinne) der Dichterlegende Brodskijs, der Prozeß und der erzwungene Aufenthalt im Norden, Gegenstand werkstrategischer und literarisch-intertextueller Selbst- und Fremdkonzeptualisierung. Die „Erfahrung“ des Dichters ist immer schon mehrfach codiert im Hinblick auf die literarischen Vorbilder und mythologischen Archetypen, durch die sie für den Leser und für den Dichter in seiner Selbstsicht erst sinnhaft wird (II). Diese Doppelstruktur der Brodskijschen Selbstdarstellung als inszenierte Repräsentation einer authentischen Dichtervita einerseits und als erkennbar aus Referenzen zu literarischen Vorläufern und dichterischen Modellbiographien zusammengesetztes palimpsesthaftes Konstrukt andererseits kann für sein gesamtes dichterisches Werk postuliert werden (III). Zentral für den Lektüreansatz dieser Arbeit ist die Frage nach der „Selbstlektüre“. Denn Selbstschöpfung ist ein autoreflexiver Prozeß, der sich auf der Ebene des Werktextes in den Verfahren nachvollziehen läßt, mit denen Texte auf Texte reagieren. „Selbstschöpfung als Selbstlektüre“ vollzieht sich dort, wo Brodskij das eigene Werk fortschreibt, sich von bestimmten Positionen distanziert, wo er fremde Lektüren in die Selbstreflexion integriert. Zugleich meint „Selbstlektüre“ die Frage danach, wie Brodskij sein Werkprojekt in stetiger reflexiver Auseinandersetzung mit den Modellen und Verfahren dichterischer Selbstschöpfung in der russischen Literatur entwirft. Seine „Selbsthermeneutik“, also die auf das eigene Werk und die eigene Figur zielenden Versuche zur Vorstrukturierung und Festschreibung von Deutungslinien, kann nur aus dieser Metaperspektive adäquat verstanden werden (IV). Schließlich gilt es in einem letzten Abschnitt (V), Brodskijs Versuche einer Bilanzierung des eigenen Schaffensprojekts zu untersuchen und darüber hinaus darzustellen, welche kulturelle Funktion dem Dichter im Kontext dieses Werks zugeschrieben wird, welche Chance auf ein Weiterleben im und als Werk Brodskij sich in seinen Gedichten einräumt und wie er in den Texten die Form der Rezeption seines poetischen Nachlebens zu gestalten versucht.
Daß sich auch meine Lektürebewegung vordergründig am Schema des Lebenswegs orientiert, indem sie zuerst das Frühwerk des Dichters in bezug auf Figuren der Initiation und am Ende vor allem die späten Texte als Versuch einer Selbstverankerung im kulturellen Gedächtnis untersuchen wird, erklärt sich nicht aus der Annahme einer anhand der Werkentwicklung nachvollziehbaren Repräsentation eines sich entwickelnden „Subjekts“, sondern aus der Beobachtung, daß ein Werk, das sich selbst das Problem der inneren Kohärenz (also der Identität) stellt, mit steigender Textmenge auch eine größere Komplexität in die Selbstbeobachtung integrieren muß. Die späten Texte lesen sich nicht in sich und nicht als „Spiegel“ des nun „gereiften“ dichterischen Selbst komplexer als die früheren, sie müssen vielmehr auf schon Geschriebenes reagieren, sei es in Form von Fortschreibung oder Überschreibung. Während Brodskij zum Klassiker der russischen Literatur oder gar zum ,Nationaldichter‘
117 kanonisiert wird, möchte die vorliegende Arbeit die Ausgangsbedingungen dieses Prozesses untersuchen, um vielleicht sogar klärend in ihn eingreifen zu können. Vor allem aber geht es darum, Brodskij selbst als Dichter zu befragen, wie sich für ihn ein „Leben im Vers“ gestaltet. Ich will beobachten, wie er Lektüren seines Werkprojekts zu programmieren versucht und wie sich solche Programme mitunter verselbständigen – nicht immer gemäß der ursprünglichen Intention ihres Schöpfers.

 

 

 

Inhalt

EINLEITUNG: IOSIF BRODSKIJS DICHTERISCHE SELBSTSCHÖPFUNG

– Der Brodskij-„Mythos“

Žiznetvorčestvo?

– „Brodskij“ lesen. Fremde und eigene Lektüre

 

1. ZUR HERMENEUTIK DER DICHTERFIGUR: ENTWURF EINES LEKTÜREMODELLS

1. Historisch-semantische Aspekte

– Die Zäsur um 1800: Individualstil vs. Gattungspoetik

– Der geopferte Dichter: die Latenz mythisch-religiöser Modelle

– „Leben“ und „Werk“ in der Lektüre

– Dichter als „Fallgeschichten“: Rollenmodelle und die „Invariante des Dichtermythos“

2. Die Poetik der Dichterfigur

– Das „lyrische Ich“ als offene Struktur

– Figuren der Grenzüberschreitung: der „lyrische Held“

– Verfahren intratextueller Verknüpfung

– Extra- und paratextuelle Referenzen

– Intertextuelle Referenzen – die Lektüre der Dichterfigur

 

II. FIGUREN DER INITIATION: „FRÜHWERK“ ALS SELBSTSCHÖPFUNG (1957–1972)

1. Der „lyrische Held“ im Frühwerk Brodskijs

– „Romantisches Dichtertum“ als dichterischer Selbstentwurf

– Die Reflexion des Autobiographischen: vom „Leben“ zum „Schicksal“

– Die Stimme des Dichters

2. „Novye stansy k Avguste“

– Verbannung als Lektürefigur

– Entfremdung als Verfahren

– „Heidekrautleier“ / „Stacheldrahtleier“: Selbsttravestie

3. Die sechziger Jahre: der Dichter im „literarischen Feld“

– Dichtung als Beruf

– Die Konzeptualisierung der Marginalisierung in der Opposition

– Provinz-Metropole: „V Palange“

– Der „Skalp Voznesenskijs“: Konkurrenzsituationen und Positionskämpfe

– Brodskij als poėt-graždanin?

 

III. FORMEN DER SELBSTREPRÄSENTATION

1. Der Name des Dichters

– Der „zweite Osja“

– Die Joseph-Gestalt im Zyklus „Roždestvenskie stichi“

2. „Zog an, was nun wieder in Mode kommt“: der gekleidete Dichter

– Kleidung als Kostüm

– Kleidung als Substanz

3. Gesicht und Körper des Dichters

– Brodskij als Physiognomiker

– Der inszenierte Körper des „lyrischen Helden“

4. Der Dichter im Raum

– Herkunft: der „Petersburg-Text“

– Der reisende Dichter

– Bestimmungsort: Venedig, Petersburg und der „Meerestext“

5. Der liebende Dichter

– Selbstschöpfung im Liebesgedicht: „Ja byl tol’ko tem, čego“

– Selbstauflösung: „Brise Marine“

 

IV. SELBSTLEKTÜRE ALS SELBSTSCHÖPFUNG

1. Selbstlektüre im Modus biographischer Erinnerung

– Die „Spiegelschrift“ der Erinnerung: „Kellomjaki“ und die Aporien der akmeistischen memoria

– Erinnerung als Vergessen: „Pamjati N. N.“

– Das Gedächtnis von Körper und Textkorpus: werkstrategische Momente

2. Metaliterarische Selbstkonzeptualisierung

– Das Konzept der dichterischen „Evolution“ und die Metapher des „Wegs“

– Figuren der Neuschöpfung: „Vita nuova“

– Von der innerliterarischen zur äußerlichen Konzeptualisierung der Selbstauflösung: „Posleslovie“

3. Die Hermeneutik der Dankbarkeit

– Dankbarkeit als Figur der Lektüre des Dichterlebens:

– „Ja vchodil vmesto dikogo zverja v kletku“

– Dankbarkeit als Leitstrategie in der Selbstlektüre Brodskijs

– Verweigerte Dankbarkeit als verweigerte Lesbarkeit

– Dichterleid und Dichterbiographie

 

V. DER DICHTER ALS FRAGMENT

1. Selbstschöpfung als Thanatopoetik

– Der Tod des Dichters

– Figuren der Unsterblichkeit I: exegi monumentum-Variationen

– Figuren der Unsterblichkeit II: der Dichter als Stern („Menja uprekali…“)

2. Fragment und Remedium

– Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik

– Teil und Ganzes: Poetik der

– Partizipation

SCHLUSS: DER DICHTER ALS „MEDIUM“ -AUTORITÄT

LITERATURVERZEICHNIS

VERZEICHNIS DER ZITIERTEN WERKE BRODSKIJS

 

 

Iosif Brodskij (1940–1996)

stand dem „voyeuristischen“ Genre der Biographie äußerst skeptisch gegenüber. Dabei weist der bewegte Lebenslauf des gebürtigen Leningraders zentrale Elemente einer charismatischen Dichterbiographie auf: der skandalöse Prozeß wegen „Schmarotzertums“ 1964, die Verbannung in den Norden, die Emigration in die USA im Jahre 1972 und schließlich die weltweite Anerkennung, gipfelnd im Literaturnobelpreis.
Jens Herlth untersucht die Strategien, mit denen Brodskij gegen die Zumutungen tradierter Dichterkonzepte und biographischer Vereinnahmungen anzuschreiben suchte. In seiner Ablehnung der äußeren Zugriffe artikuliert sich vor allem ein Beharren auf der Deutungsmacht über das eigene Werk. Gleichwohl ist Brodskijs Selbstdarstellung keineswegs frei von Selbststilisierung. Diese Studie arbeitet die poetologischen, narrativen, rhetorischen und performativen Verfahren heraus, die dabei zur Anwendung kommen, und liefert einen umfassenden Überblick über das Gesamtwerk des Dichters.

Böhlau Verlag, Klappentext, 2004

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

 

Anders sein. Dissens in der Sowjetunion – Joseph Brodsky

Leonhard Reinisch: Gespräch mit Jossif Brodskij, Merkur, Heft 305, Oktober 1973

Michael Krüger: Als Joseph Brodsky in Alfred Brendels Küche wie ein Schlot rauchte und über Rilke schrieb

Felix Philipp Ingold: Gedenkblatt für Joseph Brodsky
DU, Heft 6, 1996

Timo Brandt: Über Joseph Brodsky bei babelsprech.org, internationales Forum für junge deutschsprachige Lyrik

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Joseph Brodsky

Irena Grudzińska-Gross: Czesław Miłosz und Joseph Brodsky. Die Freundschaft zweier Dichter

Fakten und Vermutungen zu Joseph Brodsky + IMDbKLfG + PIA +
Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
Nachrufe auf Joseph Brodsky: Schreibheft ✝ Carl Hanser Verlag

Zum 25. Todestag von Joseph Brodsky:

Zakhar Ishov: Brodskys Venedig
dekoder.org, 28.1.2021

 

Brodsky …Ferngespräche verfilmt in 9 Kapiteln | Kapitel 1: San Pietro
Alle weiteren Videokapitel bei der Schaubühne Lindenfels

 

 

Anderthalb Zimmer in Leningrad: Ein Museum für Joseph Brodsky.

 

Joseph Brodsky rezitiert „Натюрморт“ 1989.

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