Jesse Thoor: Die Sonette und Lieder

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jesse Thoor: Die Sonette und Lieder

Thoor-Die Sonette und Lieder

MORGENLIED

Wer sitzt unter den Zweigen,
kommt die Sonne gerollt;
und will uns zeigen
Silber und Gold?

Einer, der schweigt
aus vielen Weiten.
Einer, der sich verneigt
nach allen Seiten.

Einer, der den Wind treibt.
Der bläst lang und breit.
Und einer, der aufschreibt
unser Herzeleid.

 

 

 

Jesse Thoor

Von Jesse Thoor, dessen Versen auch nur in die Nähe zu kommen lebendigstes, fast handgreifliches Bestehen erfordert, ich werde von Jesse Thoor der Gepflogenheit halber wie von einem Toten reden. Es ist zumal nicht nur in seinem besonderen Falle so, nur merkbarer noch, daß, indessen die Monde sich vollenden und wieder verringern, die uns vom Tage des Todes entfernen, etwas geschieht, darob unser Herz zugleich Trost empfindet und erschrickt: der Todestag entfällt allmählich, wird verschüttet von abgelebter Zeit, wir aber, da wir uns von ihm zu entfernen meinen, nähern uns dem Toten. Dieser hat bald eine unerwartete Stellung bezogen, denn er verblieb nicht im Vergangenen. Er ist uns vorangegangen; er blickt uns Nachzüglern entgegen. Wollen wir ihn vorstellen, müssen wir ihn zurückholen. Ins Gegenwärtige aus dem Zukünftigen. Ein Unterfangen, das Liebe und Reue begleiten im Widerstreit. Unsere Sprache sträubt sich dagegen, Dahingeschiedene heraufzubeschwören oder herabzurufen, in rührendem Bescheiden gewährt sie uns nur die noch faßbare Unzulänglichkeit des waagerechten Schauens, wenngleich unser geistiges Auge meint, dem Vergangenen die Neige, Künftigem das Emporstrebende anzusehen – Beschwörbarkeit und Rufbarkeit jedoch aus Tiefe und Höhe traut sie dem Menschlichen auch im Tode nicht zu. Und doch hat Jesse Thoor, den wir uns nun vergegenwärtigen, im Leben schon mit jenen ruf- und beschwörbaren Mächten in einsamster Ausgesetztheit vertrauten Umgang gepflogen. Er rief, er wurde gerufen; eine beabsichtigte Unklarheit wurde um sein Verhältnis auf Erden heraufbeschworen, das wir geheimnisvoll nennen, darin ein Mensch, sei er tot oder lebendig, entrückt bleibt. Er entzieht sich der Mitteilung, wehrt sich der Vorstellung, gegen das Zurückgeholtwerden, verharrt auf seinem Laurentiusrost und siehe, die Sprache hilft ihm, dem Hilflosen. Denken wir seiner im Grabe, versagt sich uns das Wort. Schwer fällt die Frage nach seines Lebens Gefährdung, denn sie bleibt unbeantwortbar. Der Tod war der geringste der gefährdenden Besucher, er trübte kaum das Wetter – worin also setzte sich Jesse Thoors Fahrnis fort? Schon im Leben haben sich ihm Wesenheiten anvertraut, ihn zu ihrem Gastgeber auf Erden erkoren: das ist, als würden Wildkatzen und Raubvögel, bäumenden Leibes Drachen und das erschreckend-wonnige Einhorn heimsuchen, es wird weder das Leben noch die Seele geschont und nur des Todes Herr, der Geist, der uns dieser entbindet, mag ihn auch aus solcher Bedrängnis und todvollen Auserkorenheit erlöst haben.
Das Bändigen übernatürlicher Geschöpfe geschieht durch den Geist, an ihn stürmt die unmenschliche Forderung, empfangen in törichtem Gehorsam; sie bedeutet, daß ein langwieriges Sterben anhebt. Der Geist, in seinem Menschengehäuse, befindet sich in engster Haft, schwerwiegend geschmückt von irdischer Pracht. Indessen er sich zu bewähren strebt, wirft er das zäh Haftende ab. So, in solch ringendem Streben, wurde das Leben Jesse Thoors abgestreift Stück um Stück. Er war zum Mitwissenden gezwungen worden, ihm blieb nicht verheimlicht, wann ein Gewicht gelöst wurde in diesem schwebenden, nach oben steigenden Gemetzel, vielmehr erwog er jedes einzelne, eh es entsank. Sieg oder Ruhm vor den Menschen waren nicht einbezogen in den Sinn dieses Streites. Nur der Stoß ins Gehirn, des Herzens Sprengung sollte gelten, nur Dauer sowie Reinheit des Waffengangs wurden (vielleicht) verzeichnet auch dort, wo dem unterliegenden Bändiger endlich der Rang gewährt worden ist zu seliger Anschauung.
Ich werde hier nicht aller Opfer gedenken, nicht all des kostbaren Guts, das in die Winde gestreut werden mußte, auf daß Jesse Thoors Unterliegen gelinge, nur des Opfers, das alle übergilt. Er gab sein Werk preis. Die Blätter, die hier gesammelt vorliegen, sind dem Verwehen abgefangen. Abgefangen: ich wähle dieses Wort, weil es einen ans Unerlaubte gemahnenden, meuchlerischen Mitsinn führt, ein Wort zumal, dem Jesse Thoor zugestimmt hätte, denn er empfand es als peinvoll und unterwürfig, jemals auch nur ein einziges Gedicht dem Papier überantwortet zu haben, diesem zähen, mit tausend toten Fasern ans Leben sich heftenden Verweser. Seine Gedichte waren sein Ruhm, den die Welt nicht empfangen hat, er wollte diesen so wenig wie sich selbst zurücklassen bei den Nachzüglern. Was hier gedruckt erscheint ist ein geringer Teil nur dessen, was Jesse Thoors Sein und Werk darstellte. Seinem Verschweigen entrissen. Die Gesamtmanifestation, seine undurchschaubare Eigenheit, die sich mündlich-vergänglich gezeigt hat, ist – sofern sie die Mitlebenden beschenkte – versunken mit dem Körper. Was also hier gedruckt ersckeint, hilft uns, ihn, der sich hinweg- und vorausbegeben hat, ohne auf den erkennenden Dankgruß der Welt zu warten, liebend und reuevoll zurückzuholen und vorzuführen; notwendig gewinnt somit das Wort Wirklichkeit, daß Dichter aus dem Grabe geboren werden.
Denke ich zurück, mutet es mich merkwürdig an, daß Jesse Thoor nur von sehr wenigen gesehen wurde, von wenigen nur auf Erden, die mit geistigen, die auch nur mit Weltaugen zu schauen gewohnt sind. Er wäre doch wie Paracelsus, dem er nicht nur somatisch erstaunlich ähnelte, in vielen Ländern zu erblicken gewesen im Laufe seines Lebens, welches wie das des fahrenden Arztes siebenundvierzig Jahre gewährt hat. Wie sehr sehenswert war er doch gewesen! Wen hätten seine ewig wachsamen Augen nicht bannen sollen, deren Lider unbestechlich geöffnet blieben im Getriebe der immerfort Blinzelnden? Seine Stirn hauste schildschwer über den Brauen, so schwer als wäre sie allein es, die das Kinn an den Kehlkopf drückte, so daß das Haupt vorgedrängt erschien aus der Tiefe der Achselbucht, das Herz schirmend und zugleich den Abstand bestimmend und überschauend zwischen dem Messenden und Angeblickten. Gewiß geschah es zuweilen, daß sonniges Licht erschimmerte in diesem Antlitz, auflösend das Düstre des Richtenden in unaussprechliche Güte; oft ereignete sich dies nicht. Jesse Thoor lebte geistig im Zwinger jenes höllisch-himmlischen Zwischenreichs, wo er redete und rief; er mußte gewappnet gehen. War’s nicht kennzeichnend, daß seine Finger, deren edle Gelenkigkeit die von Schwerarbeit gepanzerte Haut handschuhhaft verbarg, sich meist im Rücken ineinander verflochten als bildeten sie einen Säbelkorb? Das Äußere war bescheiden genug: ein brauner Mantel, Hosen aus blauer Leinwand, darunter die Schuhe fast verschwanden; den Kopf bedeckte bei störrischem Wetter eine runde gestrickte Schädelhaube. Bescheiden also und schlicht, und dennoch hätte schon die Art, wie er grüßte, selbst an Dumpfe verraten müssen, daß hier ein Aufgesparter und Entsandter grüßend für einen Augenblick aus seinem Zwingerverlies trat. Sein Antlitz hat es schließlich auch getan, hat ihn ausgeliefert an das feindselige dumm-emsige Treiben der Umwelt. So daß allmählich ein weh-feiner Zug des Mißtrauens in seine Stirne sich einschnitt, die sonst nur von den sich geheimnisvoll einspinnenden Leidens- und Sonnenzeichen der Geopferten und Bevorzugten verwittert war. Wer dieses Antlitz erkannt, wer in diese erd-geistigen Augen geschaut hat, wie immer gesinnt, doch wachen Blickes, dem wird es entgegenschimmern bis sein eigenes Auge verlöscht. Nördlich streng-sinnig war’s und zugleich südhaft fabulosisch; dies stimmte mit seiner Herkunft überein. Aus dem Steiermärkischen, aus Roseggers Heimat, waren die Eltern nach Berlin ausgewandert; Gruber, der Komponist des Weihnachtsliedes „Stille Nacht, heilige Nacht“, war ein Vorfahre des Dichters, als dessen Geburtsstätte das volkstümliche Berlin der Arbeiterbezirke bestimmt war.
Er hätte auffallen müssen; gewiß, er fiel auch auf. In der Londoner Vorstadt schon deshalb, weil er, der zeitlebens das Englische nicht anders als nur mühsam gebrauchte, auf der Straße mit erhobener Stimme und in deutscher Sprache seine Rede erschallen ließ – und das während vom Primrose Hill die Abwehrgeschütze donnerten. Nicht minder grollten seine Sätze, obwohl sie unfaßbar Holdes verkündeten; Sätze in glühenderem Feuerofen geläutert und geprägt, als die zum Himmel sprengenden Geschosse. Was erläuterte er damals? Bewegungen innerhalb der geheimnisvollsten Dreieinigkeit – kein Lebender hat solches auf solche Weise in Worte gefaßt. Jesse Thoor aber folgerte aus seinen Einblicken Satz um Satz das unabwendbare Kommen der dritten Gottheit, ihren bevorstehenden Einbruch in den Menschen (und dies bedeutet in letzter Konsequenz die Erlösung vom Tode durch den Tod); und noch anderes, sieben Mal Versiegeltes aufbrechend und herniederzwingend vor das Menschenverständnis, so daß mich Grauen eher vor seinen Gesichten packte als vor den berstenden Sturzgeschossen rings um uns. Denn indessen wir von den scheelen Blicken der Vorübereilenden abgewertet wurden, rief mir Jesse Thoor mitten im Kriege zu, daß eine wundersame Offenbarung bevorstehe: die Bezeugung der körperlichen Himmelfahrt der Frau in der mutter-göttlichen Gestalt Mariä. Viele Jahre später erst erschien Prof. Jungs Antwort auf Hiob, darin ich sehr beklommen, denn mir drängten sich Jesse Thoors prophetische Worte in den Sinn, folgende Sätze las:

Es ist für unsere Tage psychologisch bedeutsam, daß im Jahre 1950 die himmlische Braut mit dem Bräutigam vereinigt wurde… Wenn also ein Sehnen nach der Erhöhung der Gottesmutter durch das Volk geht, so bedeutet diese Tendenz, wenn zu Ende gedacht, den Wunsch, es möge ein Heilbringer, ein Friedensstifter, ein ,mediator pacet faciens inter inimicos‘ geboren werden. Obschon er im Pleroma immer schon geboren ist, kann seine Geburt in der Zeit nur dadurch zustande kommen, daß sie vom Menschen wahrgenommen, erkannt und erklärt (declaratur) wird.

Jesse Thoor war ein solcher Wahrnehmer und Erklärer. Ihm war das Erstrahlen der bräutlichen Erhöhung das Licht, das zum Höllenaussatz der Atomverfinsterung als Heil und Heilung erschienen war, eine Himmelfahrt, die den Hl. Geist herniederbrachte in göttlicher Wiedergeburt. Zitierte ich also den seltsamen Satz Prof. Jungs, so war es, um mit seiner Hilfe in die Nähe des Arguments zu gelangen, dessen sich der Dichter bediente, neun Jahre allerdings vor dem Erscheinen der Hiobsschrift und sieben vor der tatsächlichen Verkündigung des Himmelfahrtsdogmas durch den Papst in einem Jahr, das Jesse Thoor noch erlebt hat, starb er doch 1952, und zwar am 15. August, an dem Tage also, der uns als Fest der Himmelfahrt Mariä gilt.
Wer fragte da nicht, woher solche Vorkenntnis von Dingen komme, die erst nach geheimstem Ratschluß verkündet oder anders nur von einem Denker außerordentlichen Ranges in verwandter Präzision gedacht werden! Indem ich Jesse Thoors Vorgestaltung des Mariendogmas erwähne, greife ich überdies nach nur einer Erinnerung aus geistig wildbewegter Zeit, da ich, skeptisch erst und abweisend genug, Jesse Thoor zuhörte und bestürzend tiefsichtige Auslotungen duldend über mich ergehen ließ, seine Gesichte miterlebte und in eine Erfahrung eingeweiht wurde, die von dieser Welt nicht sein konnte. Es widerstrebt mir sogar immer noch, dies alles anzuführen, weil ich mich in dieser mir anvertrauten Gedenkschrift auf eine scheinbar anfechtbare und vielleicht fragwürdige Ebene begebe. Und muß sich mein Bedenken nicht noch steigern, wenn ich mich zu bemerken gezwungen sehe, daß Jesse Thoor akademischer Bildung ferngeblieben ist und sich Bücher überhaupt vom Leibe hielt – wobei jedoch einleuchtet, daß so wie er ein Mensch ohnedies nicht redet, der etwas erlernt nur weiß; mir aber bleibt unheimlich, wie alles, was er sagte, übereinstimmt mit den Erkenntnissen der Denker, von diesen ausging und ihnen sogar rück- oder vorwirkend Authentizität verleiht, sei es Thomas von Aquino oder Augustinus, Heidegger oder Jung. Das mag wundernehmen, für mich gehört es zur Wirklichkeit des außerordentlichen Phänomens, das mit dem Verscheiden Jesse Thoors entschwunden ist. Doch nicht allein, was er sprach, froh gestimmt wurde der Hörer schon dadurch, wie er etwas aussagte, der Tonfall gleich, so seiner ästhetischen Formulierungen: Wunder waren sie nicht nur der Unbestechlichkeit, sondern des Beglückens ebenso. Mit Jesse Thoors Verstummen ist sein Sagen versiegt, er wollte es nicht anders. Außer den Gedichten viel anderes niederzuschreiben, versagte er sich. Und es wird wohl niemand mehr widerfahren, daß all sein Wirken so in den Wind gesprochen bleiben soll, denn wer verschlösse sich heute noch aus Gründen der Keuschheit dem Diktaphon?
Wie aber übertrifft es die Zeit, daß dennoch festzustellen bleibt: nichts ging verloren, es ist da, ist zu erkennen und wiederzufinden, bei anderen, vom Forscher bis zum Papst –, wird es auch niemals so empfangen, als käme es von ihm, von Jesse Thoor, der seinen Reichtum aus der Summe aller Dinge bezogen hat. Aber auch er war nur das Glied einer Kette illustrer Vorgänger, die in seiner Gestalt und seinem Wandeln leibhaftig fast zu erkennen waren; er war nicht er nur, Gott weiß, wen er noch darstellte; es machte Jesse Thoor ganz versonnen, darüber sich zu verwundern, wer alles in ihm sich regte und auferstanden war.
So wird wohl gesagt, der Dichter gehe in dunkle Welten ein, aus dem Chaos träten ihm Dämon und Bote entgegen, er erfasse Zusammenhänge und erkenne Wesenheiten, er vermöge zuweilen hineinzuhorchen in ihre Gespräche, zu durchschauen auch, was sich an innigst-geheimer Verquickung menschlichen Schicksals mit über- und außermenschlicher Absicht ereigne. Es wird wohl gesagt und zugestanden – doch es zu glauben traut sich wohl in geheimster Stille ein Einziger nur zu in seiner Einzigkeit, denn diesem widerfährt es auch. Jesse Thoor war ein solcher, ihm wurden Pforten geöffnet zu Regionen, wie sie das Grenzreich birgt. Dies geschah ihm in den Londoner Jahren, und zwar, als er die „Reden und Rufe“ niederschrieb, doch zeichnen solche Erfahrungen schon jene Sonette aus, die den „Reden und Rufen“ vorausgehen (und wirken selbst noch in den merkwürdig fragilen Liedern, mit denen sein Schaffen ausklang).
Die Gegend, in der er lebte, besteht aus geschwind aufgerichteten Ziegelhäusern, ein Dach wie’s andere. Dennoch, auch hierher war er geführt worden in besonderer Bestimmung. Denn was gerade recht war, Emigranten zu behausen, das damals oft bedenklich schwankende Häusermeer vor dem Primrose Hill, war zugleich jenem hügeligen Ort benachbart, wo William Blake die goldenen Säulen Jerusalems geschaut hat – und hier also begab es sich, daß Jesse Thoor Umgang mit Engeln und Erzengeln hielt. Peinigende Schreckboten meldeten sich zuerst, Unrast und Schlaflosigkeit bringend als böse Gaben, denn sie beharrten auf waches Empfangen. Die Nächte ohne Schlaf erstreckten sich auf Wochen und Monate. Aus welcher wachen Stunde rührte die damals drohend an mich gerichtete Frage: „Weißt du, was ein Salamander ist?“ Seine harte Hand wies auf meine Brust. Ich schüttelte den Kopf. Niemals konnte ich diese Frage nach dem Brandtier in seinem Sinne, aus seiner Erfahrung beantworten. Unwesen setzten ihm zu, er rang sie nieder, er vertrieb sie. Stumm ließ ich solche Berichte über mich ergehen: „Es war ein Engel da, ich sprach mit einem Engel. Es war entsetzlich!“ oder „Es war von unendlicher Güte erfüllt!“ Mein Schweigen war Besorgnis; weshalb hätte ich sein titanisches Selbstgespräch stören sollen! Doch ich ahnte auch, daß ihn diese Besuche das Leben kosten würden. Qualvolle Schmerzen setzten ein. „Die Schädeldecke“, klagte er. Das war es: es sollte ja das Hirn gesprengt werden; was der Welt galt, sollte an ihm vollzogen werden, er wußte es. Leiden verschärfte seine Empfänglichkeit ins Ungeheuere. Es fielen die letzten Grenzen zwischen ihm und dem, was in Menschenhirnen und geheim in den Weltzentren vorging. Er lebte in feuriger Wildheit. Aber nicht das Sichtbarwerden hoher Wesenheiten verstörte ihn, sondern niedrige, alberne Vexiergeschichten. Er sah sich geäfft und genarrt, er entdeckte zu seinem Grauen, daß Sätze, die er am Abend sprach, am Morgen in der Zeitung zu lesen waren; Ärzte beschnüffelten ihn (er sah es so), in den Spelunken der Wohlfahrt wurde er verletzt und registriert, Übelkeit ergriff ihn vor dem trostlos öden Getriebe, er fühlte sich verlassen und verraten –, was Wunder, daß er eines Tages mit einer Latte in der Faust durch die Straßen ging in tödlicher Verzweiflung und voll Ingrimm.
Und dennoch vermochte er so licht und sonnig zu sein wie jemand, dessen Frohsinn einer himmlischen Kindschaft entspringt, deren Wunder uns unverständlich geworden sind, zu welcher wir uns auch nicht mehr zu bekennen vermögen. Es werde nicht daraus geschlossen, daß Jesse Thoor dem Wunderlichen anders als abhold war; es ging ihm über alles, den Abstand zu wahren, er liebte Ordnung und Wohlbeschaffenheit in seiner Umgebung, die er, wer immer zugegen war, souverän beherrschte. Aber zu den Priestern ging er in seiner Ausgesetztheit doch „um Rat“. Furchtbar muß das Versagen dieser redlich ihn zu beschwichtigen versuchenden Väter gewesen sein. Sie erkannten nicht den Sendboten. Was nützte es Jesse Thoor, daß diese, so weit wir armen Menschen es wagen, sich im Banne der Unfehlbarkeit besänftigt fühlten; die Kirche mußte in der Tat unfehlbar sein – er verlangte, daß sie in ihrer Herrlichkeit als Licht ewiger Ordnungen entbrenne, ungeachtet jeglicher irdischen Bedrohung. Nach den geprüften Kardinälen in den Gefangenenhäusern ergriff ihn untröstliches Heimweh: solche Gnadenwelt in unserem Jahrhundert! Das war mehr, als er zu erleben erwartet hatte. Es war ein ihm verwandtes Schicksal, nach dem ihn verlangte! Ihn, den zweifelbeladenen Weltmönch, den Engelbändiger, der Erbarmen trug um die sanft resignierte Zuversicht versorgter Zweifelbeschwichtiger. Er kehrte von solchem Pilgergang, ohne sich Kritik zu erlauben, gleich einem vertriebenen Patriarchen zurück in die grausige Öde des abgeschmackten Alltags, in dem er sich zu bewähren hatte sonder Rast und Beistand. Es gab Augenblicke, da ihn eine auf Erden nicht mehr gesehene Hoheit umgab wie ein Waffenkleid, so verwundet war er schon, so weit voran, bald schon ein Abgeschiedener.
Von seinen rastlosen Gängen also, die nicht immer den Rang von Besuchen bei Kapitelherren hatten, kam er heim, setzte sich an seinen Tisch, der ihm sowohl zur Arbeit als zum Essen diente. Er nahm dann wohl sein Werkzeug, rückte Silber und Gold zurecht und schaffte starr und in sich verschlossen an seinen Blumen. Er war damals als Goldschmied beschäftigt. Da mag er sich manchmal im Herzen gefreut oder auch mit versonnenem Lächeln eine Blume gegen das Fensterlicht gehoben haben, denn er liebte der Hände Arbeit über alles. Schneeglöckchen aus bleichem Silber, goldene Rosen waren’s, von zaubrischer Gefälligkeit, Schmuck, den er im Auftrag eines Zwischenhändlers verfertigte. Wohlhabend ist Jesse Thoor nicht geworden, obgleich er sich einen Handbeutel anschaffte, den er mit Gold- und Silberbatzen zu füllen strebte. Hingegen schien es dem Kaufmanne von Woche zu Woche gedeihlicher zu ergehen; und da es ihn allmählich hoffärtig dünkte, dies Weltstadtglück, erschrak Jesse Thoor und erbarmte sich des Mannes; er meinte ihn trösten zu müssen:

Lieber Freund, seien Sie unbesorgt, ich bete für Sie jeden Abend, eh ich mich zur Ruhe begebe; da kniee ich in meinem Bette auf und sage: „O Gott, laß doch den Herrn Grün wieder zugrunde gehen!“

Es gab daraufhin keine Blumen mehr zu hämmern; der Schatz im Beutel war schnell dahin, er war wohl für die Lebensmittelpakete verausgabt worden, die er und seine Gattin ständig zur Post brachten, Notleidenden bestimmt in Deutschland und Österreich. Als die beiden schon hungerten, denn so schlecht ging es ihnen, begann Jesse Thoor einen Opferkelch aus reinem Silber zu schmieden, der sollte „dem ersten Altar gehören, vor den ich trete, wenn ich nach Deutschland komme“. Ein Gönner, dem Jesse Thoor sehr zugetan war, hatte an ihn geschrieben, er möchte doch nicht länger fernbleiben, das Reich rufe seinen Dichter. Dies war vielleicht insofern schon verkehrt, als er nicht erst ins Reich gerufen werden mußte, noch war es eigentlich möglich, ihn zu rufen, da er, Jesse Thoor, selbst des Reiches Rufer war; doch wohlan, er kam. Er ist mit seinem Kelch in Deutschland eingetroffen, er hat ihn auch dort verwahrt; geschlafen hat er, in der Heimat, im Nachtasyl.
Er kehrte bald wieder nach Lenden zurück. Die letzten Jahre hoben an, die unruhvolle Pause vor der endgültigen Nacht. Immer noch dort beim Primelhügel, wie einst im Krieg. Dort saßen wir eines Abends, ich schilderte ihm den Stierkampf; er hörte, schien mir, nicht sehr aufmerksam zu – es war ja auch nichts. Noch hatte er aufgehorcht, als ich den Faustdolch erwähnte, der dem Stier ins Genick gestoßen wird, wann immer des Degens geschmeidigerer Todesstich versagt. Einige Tage später jedoch gab mir Jesse Thoor einen von ihm eigens zu diesem Zweck geschmiedeten, schwer im Handteller liegenden Stoßdolch aus Silber „als Lohn“ für meine Schilderung. Wir beschlossen den Satz „noli me tangere“ in den Griff gravieren zu lassen. So war seine Großzügigkeit. So verlangte es die Ordnung im Leben, der er sich fügte und die der ihm geoffenbarten geistigen Hierarchie entsprach. Könige, Seher, Hirten und Handwerker, Bauern sollten sein; er selbst war ein Richtender, einer, der sondert. Seine Güte noch war erschreckend, sein Zorn – einen solchen gewaltigen Groll hat meines Wissens in unserem Jahrhundert nur ein deutscher Dichter noch der affenhaften Selbstherrlichkeit einer Schein- und Tollhäuslerwelt entgegengeschleudert – Jesse Thoors Zorn fiel wie die Geißel im Totentanz. Er schied von der Welt mit einem bitterharten Wort:

Nobel wart ihr alle nicht…

Könige, Seher, Hirten… das war ein wilder Spaß für seine Zeitgenossen! Er aber wollte diese Gerechtigkeit wahrhaben in einer Art trotziger Verzweiflung und um der Seligkeit willen, wollte daß auch die anderen nicht verblendet seien und sich fügen mögen der geistig-leiblichen Wirklichkeit, die er erschaut und erkannt hatte. Nicht lange nachdem er mir den Dolch zum Lohne gegeben, begegnete ich ihm auf der Straße. Ich entsinne mich wieder der natürlich-hoheitsvollen Art seines Ganges; dieser wirkte um so besonderer, als Jesse Thoor ansonsten von geringer Körpergröße war. Dies als Widerspruch zu empfinden, war nicht möglich, denn er war außerordentlich wohlgebaut; noch wäre Rührung zu empfehlen gewesen, etwa darob, daß er seine Schuhe, die er selbst besohlte, in des Schuhladens Knabenabteilung zu kaufen hatte, denn er war von hünenhafter Kraft. An diesem Tage aber erschien er mir völlig geschlagen und zerbrochen. „Wohin gehst du denn, Peter?“ Er schmunzelte kauzhaft-verbissen. „In die Stempelakademie.“ Er mußte also zum Arbeitsamt, zur Wohlfahrtsstelle, der Dichter, der des fernen Reiches Rufer war. Unterwegs geschah etwas Unerhörtes. Er blieb plötzlich stehen und maß mich geduckten Hauptes, mit löwenruhigem Spähen; mir war, als erwäge und erkenne er meine Existenz zum ersten Mal. Sein Antlitz begann sich zu verändern, der wehe Zug erhöhte sich über den Brauen, seltsam selig erschimmerten seine Augen, als weinten sie ohne Tränen, doch seine Stimme hustete, als er brutal ausstieß:

Du sollst wissen, ich habe Gott gesehen!

Das war, glaube ich, was er sagte. Die Sparsamkeit des Satzes ist nicht wiederzugeben, denn mir ist, daß er nicht einen so langen Satz, sondern nur ein einziges Wort hervorgestoßen hatte, welches diesen aussagte, doch das ist unvorstellbar. Wir gingen schweigend weiter, so wie wir jetzt immer noch und für immer schweigend weitergehen, und nur dieses Wort hallt durch den Raum, der mich umgibt.
In den letzten Monaten seines Lebens schrieb er nicht mehr. Ausgerungen war der Kampf mit Dämonengelichter und Engelgehorde. Hohe Wesenheit, Gott selbst war zu ihm gekommen: der Hl. Geist, der uns vom Tod erlöst. Nun war Jesse Thoor ausgeschöpft und still. Die Gnade des Wahnsinns wird nicht mehr erteilt: wir werden in dieser Zeit zur Wacht gezwungen. Er blieb, der er war, aber sein Stift lag brach, unbeschrieben das länglich rechteckig zugeschnittene Blatt, das er beim Schreiben der Länge nach auf eine schwarzpolierte Tafel legte, denn er brauchte Raum für seine langen Zeilen und litt es nicht, diese zu brechen; auch dieses schwarze Brettchen also lag verwaist zu des Dichters Lebzeiten schon neben sonstigem Werkzeug. Briefe zu schreiben hatte Jesse Thoor seit Jahren schon unterlassen, es sei denn, daß er ein paar Zeilen an eine alte Tante, an den Bruder richtete; das Telefon war von ihm wahrscheinlich überhaupt niemals benutzt worden, vor dieser Einrichtung packte ihn ein besonderer Widerwillen.
Als ich ihn das letzte Mal sah, war’s Juni. Wir stiegen zur Heide von Hampstead hügelan, er mit so müden Schritten wie ein alter Soldat. Unterwegs gerieten wir in eine Zeile, die rechts und links mit Buden und Schragen verstellt war, darin großtuerisch die albernsten Ölbilder, ein Gemisch von geometrischen Figuren und zerdroschenen Gesichtern darstellend, zur Schau gehängt waren. Die Artisten harrten gleich neben diesen Werken, im Falle es Geckengeld einzuheimsen gäbe. So durchquerte ich einmal noch an seiner Seite den höhnisch aufgeputzten Jahrmarkt der Eitelkeit. Als wir bergabwärts heimgingen, begann es zu regnen, so daß wir unter dem Schutz hoher Bäume stehen blieben; er wies auf ein nahes Gartengrundstück:

Das kenne ich! Dort möchte ich mir ein Haus bauen. Nebenan wohnt der Jasper.

Gewiß, jemand der Jasper heißt, wohnt dort immer noch, wenn er auch nicht der Jasper ist. Nomen war Omen für ihn. Zufällige Namen existierten nicht, sowie es nichts Zufälliges für ihn gab. Er selbst, Peter Karl Höfler, nahm in den Jahren des Exils als Dichter den Namen Jesse Thoor an. Nach Norden und Süden weisen sagenhaft und sogar an Heiliges gemahnend die Namen Thoor und Jesse, breitete der Dichter auch noch körperlich die Arme nach West und Ost, vollführte er ein geistig-leibliches Kreuzzeichen, in dessen Haft das Menschenkind, das töricht-treue Leidensherz den Schnittpunkt einnahm. So stellte er es in einer silbernen Sphärenkugel dar, die er uns schenkte, und es gibt eine vollkommenere noch, er gab sie seiner Frau, darin auch das schwebende Herz dargestellt ist zwischen den Sphären.
Er wollte ein Haus bauen, acht Wochen vor dem Tode, er, der stets ein Wanderer gewesen war. Auch ein Schiff wollt’ er heuern und bemannen, ein Segelschiff, das Frachten führen sollte…
Im August riß es ihn fort von England. Seine Frau verkaufte die fast letzten Silberzierlichkeiten. Der Erlös deckte gerade das Fahrgeld für die Ausfahrt. Die Rückfahrkarte? Die würde sich wohl einst finden. Auf dem Viktoriabahnhof verabschiedete er sich von seiner Frau, verließ er die Stadt seines längsten Exils ein letztes Mal. Er kam bis Lienz im östlichen Tirol. Eine Greisin, seiner Mutter Schwester, kam zu ihm aus Wien; das war die letzte Wohltat, die ihm widerfuhr. – „Wirst brav sein, Peter!“ bat sie ihn noch, als er in den Krankenwagen getragen wurde. Und er, von der Tragbahre: „Nein, Tante, brav werde ich diesmal nicht sein.“
Über Jesse Thoors Dichtung will ich an dieser Stelle nichts aussagen. Sie ist hier gesammelt bis auf wenige verstreute Blätter, die sich wohl noch finden werden und folgt, soweit sie sich überprüfen ließ, chronologischer Ordnung, doch sei hinzugefügt, daß mit „Nachsatz“ betitelte Strophen oder Sonette nicht notwendig einem vorangehenden Sonett angehören, sondern meist einem Hauptsatze, der verschwiegen blieb; ähnlich verhält es sich mit den „stummen“ Zeilen, die der Dichter durch (genau gezählte) Striche andeutete. Die Gedichte mögen ohne weitere Erläuterung ihre eigene Sprache reden. Mir galt es, zurückzuholen, den Dichter zu zeigen, seines verklärten Lebens zu gedenken; es galt mir also, ein Grab zu feiern, den Schrein des Endes und Anfangs aller Wesen und Dinge.

Alfred Marnau, im Januar 1956, Nachwort

 

Der Dichter

Als im Jahre 1956 die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Jesse Thoors Gedichte mit dem Nachwort von Alfred Marnau herausbrachte, waren wir alle, die wir den Dichter kannten, tief beglückt. Es war eine posthume Anerkennung, von einer Akademie so ausgezeichnet zu werden.
Über das Nachwort gab es lobende, aber auch viele harsche Kritiken und Rezensionen. Mich ärgerten zwei Dinge: Erstens die Feststellung, daß Jesses Eltern „aus dem Steirischen“ kamen – es war Oberösterreich. Und zweitens das Mißverständnis um den „Ruf“ an Jesse als Dichter: Der erfolgte nicht nach dem Krieg, sondern wurde 1939 von einem Sendling des Dritten Reiches (heuchlerisch) ausgesprochen:

Deutschland braucht Dichter wie Dich, Peter.

Aber das ist nebensächlich. Heute bin ich dem Herausgeber der 1956 erschienenen Sonette dankbar – er hat wie ein jeglicher nach ihm das Seine dazu beigetragen, den Lesern Jesse näherzubringen.
Wir, die wir Jesse von Angesicht kannten, wagen nicht, was Marnau wagte. Aber nur er mit seiner bewundernden Haltung hat es fertiggebracht, Peter so zu schildern, wie er uns erschien. Einmalig, zum Fürchten und selten zum Mitlachen. Nie aber lächerlich.
Über das Gottsuchertum, den Marienkult während des Dichters letzter Lebensphase ist viel gesagt worden. Wenn Marnau berichtet, Jesse habe ihm gesagt, er habe Gott geschaut, und wenn er schreibt, Jesse habe hellgesehen, dann neige ich mein Haupt. Ich bin kein Spötter in diesen Dingen. In psychologischen Bereichen, theoretisch und praktisch geschult, weiß ich allerdings auch, daß es eine Begleiterscheinung bestimmter Zustände ist, religiöse Perioden durchzumachen. Deshalb müssen wir bei der Deutung von Jesses Seelenzuständen die verschiedenen geteilten Ansichten gelten lassen.
Maxim Gorki, der über alle Zweifel erhaben völlig daseinsbewußt, also „normal“ war, hatte auch seine Zeit als „Gottsucher“ – eine kurzlebige russische philosophische Bewegung – verbracht. Die russische „Seele“ und die deutsche „Seele“ haben genug Artverwandtes und Dunkles in sich, eine Sehnsucht, die der britische Mensch jenseits des Kanals eben doch nicht kennt.
Ich habe mehrere Menschen befragt, die Jesse im Exil kannten, seine Wohnung teilten oder oft zu Besuch kamen. Sie alle berichten von den letzten Jahren einhellig, der arme Thoor habe an allen Ecken und Enden die Herren von der Geheimen Staatspolizei – nicht der deutschen – gesehen.
Gertrud Jansen berichtet von einem Vorfall an einem trüben Winternachmittag: Das schrille Hupen eines Rettungswagens war zu hören. Jesse, ganz blaß:

Da kommen sie, da kommen sie, die wollen mich holen…

Erst als der Wagen vorüberfuhr und nicht hielt, beruhigte sich der gequälte Jesse.
Antworten auf viele Fragen, die die biographischen Daten noch offen lassen, liegen wohl in Jesse Thoors Sonetten. In meiner sehr subjektiven Beurteilung sind nach wie vor die ersten dreißig Sonette (1934–1944) die bewegendsten. Sie sind, obwohl in Ichform, die erschütterndste allgemeingültige Aussage des Exils, der Exilierten. Sie sind der stärkste Ausdruck der unerträglichen Schmerzen des Entwurzeltseins, das trotz äußerlicher Anpassung in Wahrheit nie wieder in neuer Verbundenheit gelindert werden wird. Bestes Beispiel dafür ist wohl das bereits auf Seite 47 vorgestellte „Sonett im Herbst“. Und gelungenste Abrechnung mit Denunzianten und Hassern bedeutet folgender Nachsatz zu Thoors

LIED ZUM ABSCHIED

Freut Euch, die ihr mich gezwiebelt habt und kirre gemacht.
(Größer bleibt die Welt doch als ihr und alle eure Dinge.)
Hebt Euren Latz und Euer Schürzchen. – Hört, ein Käuzchen lacht
über euch: Schächer am Kreuze, Marodeure des Geistes, Kümmerlinge.

Und immer wieder ertönt die Klage über das, was Menschen Menschen antaten und antun. Stellvertretend für die anderen, denen es nicht anders ging und geht, sagt Jesse im Schlußvers seines „Sechzehnten und letzten Irrenhaussonetts“:

Bespitzelt und verleumdet und von Bauernfängern denunziert
Geh ich vorbei, wie einer, der sich selber und die Seinen kennt;
Die Freiheit ist durchaus nicht mehr mein Argument.

Damit meint er wohl, die Freiheit, seine Freiheit, beruhe nicht mehr auf Hurrageschrei und aufgestellten Fahnen; nicht mehr auf den Phrasen, an denen man sich einstmals berauschte. Es war nicht mehr die „Freiheit“ von außen. Jesse war in sich eingekehrt, ruhte in sich, war souverän.
Dennoch: Körper und Seele halten zu viel Tragen nicht allzu lang aus. Seine Krankheit mußte wachsen, je länger er dachte. Seinem Leid verdanken wir die großartigen Verse. Daß wir ihm so wenig gaben, ihn so selten erfreuten, bleibt für uns alle eine Last im Gewissen.
Es gibt sehr gebildete, kultivierte Menschen, die in ihren Essays und Analysen andere Gedichte in den Mittelpunkt stellen. Ihnen sei gedankt. Ihr Intellekt, ihr Wissen, gestattet ihnen, Jesse völlig abstrakt, esoterisch und semantisch zu beurteilen. Wir aber, die Freunde, können uns nicht lösen von der Erinnerung, nicht von dem Antlitz voll Leid und der so selten gezeigten kindhaften Freude in dem gleichen Gesicht.
Auch das drückt ein Sonett besser aus als Analysen, ein Sonett, das an die Lieder des Alten Testaments erinnert. Es manifestiert einen Jesse, der unter anderen Umständen zu einem Jubel fähig gewesen wäre, wie ihn der taube Beethoven in seiner Neunten erreichte:

AUFERSTEHUNGSSONETT

Die Wolken ziehn am Horizont wie weiße Vögel schon gelassen hin.
Doch traumverwirrt noch schläft der Glockenblume blauer Schlag.
Es liegen staunend Dachs und Hund und Hamster auf den Knien.
Und wundersam von zarter Röte überhaucht erwacht der jüngste Tag.

Dies ist der milde Atem wohl, der tröstend in den Lüften schwebt.
Schon regt es sich in allen Zweigen und die Bäche raunen.
Von allen Gipfeln zittert es beglückt und drängt und bebt,
dem Sphärenjubel ähnlich und den Liedern himmlischer Posaunen.

Wer spricht hier noch, wie fern ich war im Strome wesenloser Dinge?
Nun blühe ich empor aus jedem Tropfen und aus jedem Blatt,
und trinke mich mit tausend Mündern an der frühen Klarheit satt.

Aus Zedernholz sind meine Flügel, die ich rauschend schwinge.
Aus Meerschaum ist mein Leib, und meine Füße sind Kristall.
Und Sonnenstaub ist alles, was ich schuf aus meinem tiefsten Fall.

Nach dem Krieg kamen neue Freunde zu Jesse. Eine Anthroposophin, die deutsche Emigrantin Frau W., trat in Jesses Leben. Sie war eine große, stattliche Frau. Nicht nur ihre Kleidung, ihr ganzer Habitus war sehr priesterlich. Sie war lange in der Internierung auf der Isle of Man gewesen. Auch dort hatte sie einen Kreis um sich gesammelt und mit den zumeist Jüngeren meditiert. Die Frau war durchdrungen von ihrer „Mission“. Dennoch erstaunlich, daß der so skeptische, mißtrauische Jesse sichtlich beeindruckt war von dieser imponierenden Erscheinung. Natürlich wurde er kein Anthroposoph, schloß sich keinem „Kreis“ mehr an – dazu ruhte er zu sehr in sich selbst. Aber diese Frau oder die Diskussion mit ihr beeeinflußten zweifellos seine Gedanken, befruchteten ihn zu den zwischen 1944 und 1949 entstandenen „Reden und Rufen“. Jesses eigenes Wesen drängte nach „Erlösung“, nach dem Abstand von den kleinen Schikanen und der Bedrängnis immer spärlicher fließender materieller Einnahmen.
Thoors große Unsicherheit klingt aus dem nächsten Sonett an. Es ist Symptom einer sich verdunkelnden Psyche. Angst taucht auf, Angst vor sich selbst. Zweifel werden wach, die es vorher nicht gab. Es mehren sich die Tage einer Verzweiflung, die Greifbares nicht mehr beweisen kann. Ein Jesse schreibt jetzt, der noch unbequemer ist für die Umwelt als der „Durchschauende“. Hier geht es nur noch um das, was wir zumeist verwischen und verleugnen, damit es nicht stört im Tag-Tun.

DIE ZWEITE STIMME

Herr Herr… sie haben meinen Verstand zerstochen, daß ich schreibe:
Sie haben meinen Verstand zerstochen, die Elenden!
Herr… die der Mord freigelassen hat! – Lausige Knechte, die
der neuen Obrigkeit ihre Dienstbarkeit beweisen, daß ich schreibe:

Rattenzüngiger Dreck, der über den Ruinen tanzt.
Der du den Verdacht des Wahnsinns in mein Gemüt niedergelegt hast.
Verwischt die Spuren der Einfalt und der Frömmigkeit, zerbrochen
den Hammer, der das Gold hämmert in meiner Hand, daß ich schreibe:

Meinen Tod habe ich erwartet mit Ungeduld… und tagelang.
Daß ich weine ohne Ursache, daß ich rede ohne Schmerz.
Der ich einhergehe… verlegen – oder läppisch – daß ich schreibe:

Gestoßen wurde ich über den Rand des Ertragens… gehenkt dreimal.
Verbrannt wie Reisig… zerrieben wie trockene Erde…
Was soll bestehn – wenn nichts als Speichel allein uns verbindet?

Immer wieder, nicht nur in der folgenden Karfreitagrede aus den „Reden und Rufen“, mahnt Jesse Thoor, die Verbundenheit mit der „Erde“ nicht zu vergessen, und bis zuletzt respektiert er den Stoff, der geformt werden kann, als Höchstes:

Arbeitet auf den Feldern und achtet der Erde, die euch trägt.
Beachtet das Holz, den Stein, und so alle Dinge voller Wunder sind:
Behütet Eure Werkstatt… sie ist ein Schrein der Offenbarung.

In den „Liedern und Rufen“ steht das so oft zitierte Sonett

IN DER FREMDE

Ist es so auf Erden?

Bin in die Welt gegangen.
Habe mancherlei angefangen.
Aber die Leute lachten.
– – – – – – – – – –
Auf dem Felde gegraben.
Einen Weg gezogen.
Ein Zaun gerade gestellt.
Tür und Fenster gestrichen.
Warme Kleider genäht.
Hölzerne Truhen gezimmert.
Feine Stoffe gewoben.
Goldenes Ringlein geschmiedet.

Was soll nun werden?

Werde nach Hause wandern,
und barfuß ankommen.

Hier fragt Jesse mit echter oder gespielter Naivität. Aber in diesen knappsten Sätzen ist sein Leben dargetan, nur, daß er auf dieser Erde nie ankam, nicht barfuß und nicht beschuht. Aber war die letzte Reise, von der wir sprechen werden, doch eine symbolische irdische Heimkehr, weil er die „Tante“ wiedersah, die Freunde? Darüber später. Dieses schlichteste Lied geht zu Herzen, anders kann man es nicht sagen. Hier schweigen Traumdeuter und Analysierer, hier schweigen die Entzückten und die losen Mäuler. Das ist Jesse, wie er war und bei uns bleiben wird.
Einige Rezensenten haben sich über die gelegentlich verwendeten Füllsilben wie Da da, so so, lala, Türli belustigt gezeigt, andere haben in die Strichelungen vieles hineingeheimnist. Auffällig ist jedoch, daß die Füllsilben in Thoors letzten Jahren zunehmen. Allerdings gab es schon im „Veronika-Sonett“ ein Ziri und Zira – aber da war es sozusagen naturverbunden. Liest man das Sonett, dann hört man den Frost klirren, einen Vogel schreien und sieht eine kalte Schneewinterlandschaft vor sich:

… und krächzend singt ein Rabe krah,
singt oh, du du, singt oh dada – – er singt von einem Meilenstein,
den Winter in mein Herz hinein, als wüßte er, was mir geschah,
ziri zira, Veronika…

So lautete die bereits in Brünn verfaßte Urform. Thoor hat später an dem Sonett herumgefeilt. Als die Europäische Verlagsanstalt 1965 seine Sonette veröffentlichte, war auch dieses dabei.
Einige wenige Gedichte lassen an andere Dichter denken, zum Beispiel das

FRAGELIED

Darf ich bei dir sein?
Sag mir, wie lange?

Bis über alle Sterne
ein Schweigen drängt,
und in den Zweigen hängt,
die rote Mondlaterne.

Dennoch kommen immer wieder, auch in Liedern, die wie viele klingen, ein paar Zeilen, die unnachahmlich eigen Jesse Thoor sind –

… die Not zerschlug mir beide Knie
daß ich wie eine Eule schrie…

Eulenschreie sind unheimlich, und ein Schmerz muß groß sein, bei dem man schreien muß wie ein Schuhu im Nachtwald.
Zum Schluß stehe sein

WANDERLIED (FÜR FRIEDERICKE)

Wie soll es sein, wenn der Wind weht,
die Sonne lacht, der Mond sich dreht?

Wenn der Tag über die Dächer steigt.
Wenn die Nacht redet oder schweigt.

Wenn der Regen rauscht oder rinnt.
Einmal – wenn wir einsam sind.

Einmal zu zwein, und einmal allein,
wie die Grille hüpft am Wiesenrain.

Einmal, wie die Blüte im Grase ruht,
weiß wie Schnee, oder rot wie Blut.

Einmal oben, hoch oben – o he!
Einmal unten, ganz unten – o weh!

Gerdamaria Thom, aus Gerdamaria Thom: Rufer ohne Fahne. Der Dichter Jesse Thoor, Österreichischer Bundesverlag, 1986

 

 

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