Jesse Thoor: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jesse Thoor: Gedichte

Thoor-Gedichte

IN DER FREMDE

Ist es so auf Erden?

Bin in die Welt gegangen.
Habe mancherlei angefangen.
Aber die Leute lachten.

_ _ _  _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Auf dem Felde gegraben.
Einen Wagen gezogen.
Einen Zaun gerade gestellt.
Tür und Fenster gestrichen.
Warme Kleider genäht.
Hölzerne Truhe gezimmert.
Feine Stoffe gewoben.
Goldenes Ringlein geschmiedet.

Was soll nun werden?

Werde nach Hause wandern,
und barfuß ankommen.

 

 

 

Nachwort

Ihr Ungeheuer,
mein Herz ist euer
Paul Klee

Meine kleine Tochter hat angefangen zu singen.
Sie singt „Ah, ah, ah, ah“. Was kann das wohl
heißen? Ich fühle, daß es für sie bedeutet:
„Ah, ah! nichts ist schrecklich – alles ist nur Freude!“
Nijinskij, Tagebuch

Begehrt man allein das Gute, so steht man im Gegensatz zu dem Gesetz, nach dem das Gute mit dem Bösen verbunden ist wie der beleuchtete Gegenstand mit seinem Schatten, und weil man so zu dem allgemeinen Weltgesetz in Gegensatz steht, stürzt man unvermeidlich ins Unglück (Simone Weil).

Wer, in der Verstrickung durch das Relative verfangen, nicht gleichermaßen nach dem Absoluten zu lechzen vermag wie die Mystiker, denen ich Jesse Thoor zurechnen möchte, dem müßte, meint man, das unvermeidliche Unglück, das jene noch immer auf sich zogen, eigentlich den Mund verschließen, auch und gerade wenn dieser rühmen möchte. Vom Unglück als einer Gnade zu sprechen, obwohl man selbst sich diese verbitten würde, ist sicher ungehörig. Und doch macht sich dieser Ungehörigkeit jeder schuldig, der den Blick auf begnadete Dichtung zu lenken versucht, begnadete Dichtung, die ja stets dem Unglück abgepreßt wurde, begnadete Dichtung, wie sie uns, in der exaktesten – also religiösen – Bedeutung des Wortes, Jesse Thoor hinterlassen hat.
Das Geschäft des Kritikers bleibt aber, wo schon der Abstand zur Intensität der Gestalt, deren Werk er vorstellen soll, so unendlich ist wie im vorliegenden Falle, zumal dann extrem zweifelhaft, wenn dieses Werk gar nicht als Werk angelegt wurde, nicht die Summe der ästhetisch gelungenen „hinterlassungsfähigen Gebilde“ darstellt (als die Gottfried Benn, in der Art des um seine Erben besorgten Unternehmers, Gedichte gern verstanden wissen wollte), sondern jene Form eines Gebets angenommen hat, in der ein Franz Kafka die letzte Legitimation von Dichtung sah.
Wie Kafka überantwortete auch Jesse Thoor seine Texte dem Papier nicht für eine wie auch immer geartete Nachkommenschaft, sie waren vielmehr die lebendige Sprache, mit deren Hilfe er Umgang mit seiner Zeit und seinen Zeitgenossen suchte; in seinen letzten Lebensjahren konnte er sich buchstäblich nur noch in Gedichten ausdrücken. Daß er sie Reden und Rufe betitelte, ist nicht ohne Bedeutung. Wer sie wirklich verstehen will, muß sie hören, statt sie zu lesen. Und wer sie hört, dem ist das Schweigen, mit dem sie so oft enden, manchmal sogar anheben – Thoor hat es durch sorgfältig gezählte Striche festgehalten –, kein lebloses mehr, der ist plötzlich zum Zeitgenossen Thoors geworden, oder, um Worte zu wählen, die er vermutlich lieber akzeptiert hätte, zu seinem Nachbarn und Bruder.

Ich vernahm Thoors Stimme zum erstenmal, und gleich ganz brüderlich und unabweisbar prophetenhaft, als Walter Höllerer 1954 im 1. Jahrgang der damals noch von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift Akzente fünf der letzten Rufe und Reden des 1952 verstorbenen Dichters abdruckte. Im Jahr 1956 erschien dann beim Heidelberger Lambert Schneider Verlag, als Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, eine von Alfred Marnau herausgegebene Thoor Auswahl unter dem Titel Die Sonette und Lieder, die leider relativ unbeachtet blieb; aus ihr erfuhr ich aber, daß Jesse Thoor nicht als Mystiker auf die Welt gekommen war, auch nicht als Prophet, nicht einmal als Jesse Thoor, sondern als armer Wurm, als Peter Karl Höfler, und daß auch seine frühen Gedichte noch keineswegs fromm waren, sondern frech, keine Gebete, wie die späteren, freilich bereits „Lästergebete“ (wie Ludwig von Ficker einmal die Gedichte der Christine Lavant, Thoor in vielem wesensverwandt, genannt hat). Zehn Jahre danach erschien dann bei der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt, die damals von Thoors altem Freund Riepel geleitet wurde („Und daß du nicht ratlos wirst, wie Hanne Riepel, der Belesene, der einsam und schwatzhaft wie eine Drossel geworden ist!“ heißt es im Gedicht „Nachsatz“), unter dem etwas sorglos gewählten Titel Das Werk die Sammlung alles dessen, was von Thoor noch erreichbar war an Poesie und Prosa, eingeleitet von einem Vorwort Michael Hamburgers, der das an Informationen über Höflers Erdentage nachlieferte, was Marnau in seinem ganz auf Thoors Ton gestimmten Nachwort vor einer anonymen Öffentlichkeit offenbar hatte nicht ausbreiten wollen. Auf Marnaus und Hamburgers Arbeit stützt sich nicht nur die hier vorgelegte Thoor-Auswahl, sondern auch alles, was ich zur Person Höflers hier mitteilen kann und muß. Denn die Authentizität der Texte Thoors, die in ihrer Bedeutung freilich weit über alles Individuelle hinausgehen, erweist sich dort am stärksten, wo sie ganz subjektiv, wo sie nur noch mystische Monologe sind. Und wenn auch das Ich Thoors da als „blank und bloß“ und als „arm und bleich“ erscheint, tritt gerade hinter dieser niemals koketten Ich-Schwäche stets jener Engel hervor, der allein noch – um einen Bildtitel Paul Klees aufzunehmen – das Gewünschte zu bringen vermag:

Da ruft einer und schreit:
Hochherrliche Zeit!

Ich bin blank und bloß.
Aber mein Engel ist groß.

Ich bin arm und bleich.
Aber mein Engel ist reich.

*

Peter Karl Höfler wurde am 23. Januar 1905 in einem Berliner Arbeiterbezirk geboren. Die Eltern waren aus der Steiermark nach Berlin ausgewandert. Der Vater arbeitete dort als Tischler, ging aber 1912 mit seiner Familie nochmals nach Österreich zurück, offenbar in der Hoffnung auf günstigere Arbeit, d.h. keine Fabrik-Arbeit. Nachdem sich diese Hoffnung zerschlagen hatte, machte er sich 1914 wieder nach Berlin auf, ließ die Familie aber noch lange im österreichischen Rohrbach zurück, bis schließlich 1915 auch sie ins Berlin des Ersten Weltkrieges nachkommen durfte. Die frühe Berührung Höflers sowohl mit dem österreichischen Katholizismus bäuerlicher Prägung als auch mit dem Arbeiterelend der modernen Großstadt hat mit Sicherheit seine ganze Entwicklung beeinflußt. Am schmerzlichsten und deshalb nachhaltigsten muß ihn wohl beeindruckt haben, wie sein Vater, der Handwerker, immer mehr zum Industriearbeiter wurde. Sein Bruder, der nur 14 Monate ältere Leo, wurde nach seiner Schulzeit gleich Fabrikschlosser, und auch Peter selbst ging – nach einem kurzen Versuch, sich als Zahntechniker ausbilden zu lassen – als Feilenhauer bei der Firma Wenk in Berlin-Weißensee in die Lehre.
In dieser Zeit hat er schon geschrieben, „bei der Petroleumlampe, nachts, zum Ärger des Vaters“, wie es sein Bruder beobachtete. Früh trieb es Peter Höfler aus Berlin fort, auf ,Walze‘, wieder in südlichere Zonen, nach Österreich und Oberitalien, wo er nachts meist in Klöstern unterkam, tags oft sein Geld mit recht zweifelhaften Geschäften verdiente, u.a. mit Fechten (als ,Fechtbruder‘ wurde er auch einmal festgenommen und ins Gefängnis geworfen). Nach einem längeren Aufenthalt in einer Lungenheilstätte gelang es ihm, in einer mit einer Plane verdeckten Taurolle versteckt, als blinder Passagier auf einem Frachtdampfer bis nach Spanien zu kommen. Eine Zeitlang lebte er dann in Rotterdam, bei einer Prostituierten, heuerte als Heizer auf Küstenschiffen an und war nicht selten in wüste Raufhändel verwickelt, bei denen er auch einmal lebensgefährlich verletzt wurde. Obwohl er klein von Wuchs war, galt er als bärenstark. Nicht von ungefähr trat er, wieder nach Berlin zurückgekehrt, dem Arbeitersportbund bei.
Jetzt verkehrte er in Berlin auch schon regelmäßig mit Schriftstellern; in der Wohnung Theodor Pliviers in der Nähe des Alexanderplatzes traf sich die Gruppe anarchokommunistischer Autoren, zu der er stieß (und bei der auch gelegentlich Erich Mühsam auftauchte). An Mühsam und Ringelnatz, den Höfler in jener Zeit ebenfalls kennenlernte, erinnern denn auch deutlich die frühesten seiner Gedichte, etwa das „Frage“ betitelte:

Angenommen – gnädige Frau,
daß mein Vater einen ausgedorrten Magen
und im Delirium
meiner Mutter die Zähne ausgeschlagen –
daß meine Schwester zwar christlich erzogen,
aber ein Stück Mist
und die schamloseste Karrennutte ist –
und nehmen wirs genau:
meine Därme gingen plötzlich flöten,
und (wie es leicht geschehen könnte)
die Schläfen explodierten
und absorbierten
alle diese gesellschaftlichen Exkremente –
würden Sie auch dann noch für mich beten,
gnädige Frau?

Der sich so deklassiert empfand, obwohl er damals, wenn man den Beschreibungen seines Bruders Glauben schenkt, sich noch – auf Abzahlung – wie ein Dandy kleidete und mit Stöckchen und Lackschuhen daherkam, fand ganz selbstverständlich den Weg in die Kommunistische Partei und den Roten Frontkämpferbund (sowie, nach 1933, dessen illegale Nachfolgeorganisation Einheit). Den Braunen, die immer mehr die Straßen beherrschten, fiel er bald genug auf, weil er sich auch ohne Begleitung in SA-Lokale zu ,Diskussionen‘ wagte, die oft genug mit seiner Flucht geendet haben dürften. Bewundert wurde er von seinen Genossen z.B. der Geschicklichkeit wegen, mit der er auf öffentlichen Gebäuden unübersehbar rote Fahnen anzubringen vermochte. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde er immer wieder von Hitler-Leuten in seinen jeweiligen Verstecken aufgespürt und gejagt, er „entging einmal dem ausgestellten SA-Posten, indem er sich mit Gewalt Zutritt in eine andere Wohnung verschaffte, ein zweites Mal dadurch, daß er sich im obersten Geschoß eines Hauses aus dem Treppenhausfenster hinaus an die Dachrinne hing und dort verharrte, bis die Verfolger abgezogen waren(Michael Hamburger).
1932 war Höflers Mutter an einer Lungenentzündung gestorben, und mit dem meist arbeitslosen und meist auch betrunkenen Vater vertrug er sich nur schlecht, obwohl er ihn durchaus, später, als Opfer begriff („Doch heute weiß ich, daß von allen Armen er der ärmste war“, heißt es im Gedicht „2. Nachsatz“). Schließlich hat der junge Dichter, in einer hierin nur noch Joseph Roth vergleichbaren Intensität, selbst oft genug die Segnungen des Alkohols an sich erfahren und gefeiert:

Nun ist der Juli schon dahin – und der September – der Oktober auch.
Es schleicht die Kälte hinter mir und nagt an meinen Schuhn.
Der Nebel rührt mich an und beizt die Kehle wund wie gelber Rauch.
Und keiner gibt mir eine Antwort, frage ich – was soll ich tun.

Da wird die ganze Erde für den bravsten Mann zum Jammertal –
wenn ihn der Winter faßt und schwarze Beulen auf die Füße brennt.
Der Mut sinkt langsam hin wie nichts… und gegen jegliche Moral,
scheint eine Kneipe mir… ist sie geheizt – das allerbeste Argument.

Dort kehr ich ein nach Sonnenuntergang. Dort wetze ich die Zähne.
Das macht mich wieder warm; ich reck’ den Hals und krähe wie ein Hahn.
Das prasselt über meinen Kopf hinweg wie eine feurige Fontäne.
Der Wirt hockt neben mir und schmatzt – und stiert mich öde an.
Nun hefte ich den Wert von dreißig Silberlingen unter seine Sohlen.
Es denkt der Narr, ich habe sie erbettelt. Ach, ich habe sie gestohlen.
(„Sonett von der betrüblichen Überlegung“)

Zugegeben, nach Klassenbewußtsein klingt das nicht. Und doch wurde Peter Karl Höfler auch nach seiner Flucht nach Österreich noch in der Emigrationsgruppe der KPD als Mitglied geführt. In Wien wohnte er bei einer Tante in deren Josefstädter Einzimmerwohnung (!) und verrichtete Gelegenheitsarbeiten als Tischler, Silberschmied und Plastiker, aber auch als Schuster und Schneider (er beherrschte jedes Handwerk in kürzester Zeit). Ohne die grenzenlose Güte dieser Schwester seiner Mutter, die dem Neffen schon in seiner Berliner Zeit einige Male von ihrem Dienstbotengehalt abgesparte Geldsummen geschickt hatte, wäre Peter aber sicher nicht durchgekommen, vor allem nicht zum Schreiben gekommen.
Er arbeitete damals übrigens auch an Prosatexten, u.a. an einem Roman, brachte es dabei aber nur auf drei Kapitel. Seine Konzentration ließ schon in dieser Zeit immer mehr nach – oder vielleicht richtete sie sich auch nur immer mehr nach innen und erlaubte ihm keinerlei unnötige Äußerlichkeiten mehr, zu denen vermutlich auch ein Roman gehört hätte, dessen Inhalt, nach eigenem Zeugnis, „der Spiegel der sozialen und politischen Gegenwart“ hätte sein sollen. Solche Romane schätzte damals die Partei überaus, je plakativer desto besser. Aber die Partei fand bereits keinen rechten Gefallen mehr an unsicheren Elementen, wie dieser Höfler zweifelsohne eines darstellte, der nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich vor der Gestapo in die Tschechoslowakei geflohen war, nach Brünn, und dort „eine Zeit schweren Konflikts zwischen Heimweh und Gesinnung“ erlebte. Inka Moravec-Wichera, bei der der Flüchtling damals vorübergehend Unterschlupf fand, berichtet von einem Gespräch mit dem Dichter, bei dem dieser gesagt haben soll:

In der Partei sind ständig Streitereien und Reibereien, ich z.B. bin das schwarze Schaf unter ihnen. Ich denke ihnen zu selbständig und zu logisch, das können sie nicht brauchen. Da kommen sie gleich mit ,Trotzkismus‘ und derlei Schlagworten. Aber des Pudels Kern ist, daß sie mein Talent niederzuhalten bestrebt sind.

Eine ähnliche Erfahrung artikuliert eben zu jener Zeit Bertolt Brecht, wenn er im Dänischen Exil zu Walter Benjamin über die Parteitheoretiker Lukács, Gabor und Kurella sagte:

Es sind eben Feinde der Produktion. Die Produktion ist ihnen nicht geheuer. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist das Unvorhersehbare. Man weiß nie, was bei ihr herauskommt. Und sie selber wollen nicht produzieren. Sie wollen den Aparatschik spielen und die Kontrolle der andern haben.

Jesse Thoor, wie sich Höfler von jetzt an nannte – auch dadurch die Zäsur betonend, die sein Leben zu dieser Zeit erfahren hatte – bekam nun zu seinen alten Feinden, den ,Herren‘ und Herrenmenschen, die ihn verjagt hatten, auch noch die neuen in der Partei: „Von meinen ärgsten Feinden aber nenne ich nur drei: – / Das sind die Fabrikanten, und das sind die Pfaffen der Partei“, so heißt es im Gedicht „5. Nachsatz“. Letztere ließen ihn auch noch jagen, als er der Partei schon den Rücken gekehrt und durch ein Stipendium der American Guild for German Cultural Freedomo, zu dem er durch enthusiastische Empfehlungen von Alfred Neumann und Franz Werfel gekommen war, 1.000 Kronen und eine Flugkarte sowie die Einreiseerlaubnis nach London erhalten hatte; sofort wurde er in England von ebenfalls emigrierten Kommunisten als angeblicher Nationalsozialist denunziert und auch prompt bei Kriegsbeginn interniert (erst in Devon, später auf der Insel Man). Bekanntlich waren solche Denunziationen bei den damaligen kommunistischen Parteien an der Tagesordnung, ich erinnere nur an den Fall des großen französischen Schriftstellers Paul Nizan, der nach dem Hitler-Stalin-Pakt aus der KPF austrat, von dieser deshalb als Nazi-Spitzel denunziert und buchstäblich in den Tod getrieben wurde?
Unmittelbar nach seiner Ankunft in London hatte Thoor die aus Wien emigrierte Friederike Blumenfeld kennengelernt, die ein Jahr später seine Frau wurde. Im Oktober r939 widerfuhr ihm noch eine andere große Freude: die von Thomas Mann herausgegebene und von Ferdinand Lion redigierte Zeitschrift Maß und Wert, die in der Schweiz erschien, nahm sechs seiner Gedichte zum Druck an und machte ihn damit wieder stipendienwürdig. Das neue Stipendium der American Guild sicherte freilich nur das Existenzminimum, und mit Schreiben verdiente sich Thoor sonst keinen Cent, zumal seine Schreibhemmung in dem Maße wuchs, indem das, was ihm zu sagen aufgetragen war, wesentlicher wurde und immer weniger andere Worte neben sich duldete. So wurde ihm jetzt sogar das Briefeschreiben, selbst an die Tante in Wien, zur Qual, obwohl er doch selbst, nach eigenem Bekenntnis, tagelang nichts anderes tat, „als auf den Postboten zu warten“. Einer der ganz wenigen Briefe aus jener Zeit enthält ein paar Sätze, die wohl ziemlich genau Thoors damalige Situation, sein Mißtrauen gegen die Sprache und sein Abrücken von jeder Selbstliebe, spiegeln:

Ich habe hier bereits viele Leute kennengelernt. Weißt, ganz groß. Ich mach mir nur verdammt wenig aus ihnen… Ich behaupte übrigens, Selbstliebe und nur das, ist keine Liebe. Es ist – Dummheit… Und dann ist die Sprache nichts weiter als ein Verständigungsmittel – aber kein Mittel zu verdienen, oder sich durchzusetzen. Das soll man mit dem Hobel, mit dem Pflug, mit der Materie tun.

In einem Gedicht jener Zeit, „Karfreitagsrede“ betitelt, lauten die Schlußzeilen programmatisch:

Arbeitet auf den Feldern und achtet der Erde, die euch trägt.
Beachtet das Holz, den Stein, und so alle Dinge voller Wunder sind:
Behütet eure Werkstatt… sie ist ein Schrein der Offenbarung.

Jesse Thoors Werkstatt lag nach Kriegsbeginn in der Fellowers Road, in Hampstead, und diente ihm und seiner Frau, die damals an Asthma und Lungentuberkulose litt, gleichzeitig als Schlaf-, Wohn- und Eßraum. Thoor stellte vor allem Gold- und Silberschmiedearbeiten her, seltsame Blumen, Kelche und andere religiöse Symbole, Schmuck und Ringe für Bekannte und Freunde; Phantasiestücke, die von erhabener Zartheit und manchmal auch von großer Wildheit gewesen sein sollen. Ein Zwischenhändler, den er ziemlich regelmäßig belieferte, soll dadurch immer wohlhabender geworden sein, während sich Thoors Los nie verbesserte; Thoor, so berichtet Marnau, meinte den Mann daraufhin trösten zu müssen:

Lieber Freund, seien Sie unbesorgt, ich bete für Sie jeden Abend, ehe ich mich zur Ruhe begebe; da knie ich in meinem Bette auf und sage: O Gott, laß doch den Herrn Grün wieder zugrunde gehen!

So also sieht sie realiter aus, „die Torheit der Gerechten“, von der Jesse Thoor – Paracelsus zitierend (dem er somatisch, laut Marnau, ganz erstaunlich geähnelt haben soll) – in seinen Gedichten von nun an so oft sprach wie von der „Seligkeit der Einschränkung“, die bereits der Silesius-Nachfahre Anton Reiser im gleichnamigen Roman des Karl Philipp Moritz predigte: beide waren wohl immer schon Voraussetzung für jene Zustände geistlichen Schauens, in die alle Mystiker versetzt werden wollten und in die Jesse Thoor jetzt immer häufiger geriet. Sie veränderten sein Denken und Dichten radikal, radikaler als das jedwede vermeintlich radikale Ideologie vermocht hätte. Und, natürlich, sie entzückten ihn nicht nur, sondern peinigten ihn auch unvorstellbar, erfuhr er durch sie doch jedesmal noch etwas krasser die Diskrepanz zur alltäglichen verstockten Umwelt. „Was Wunder“, sagte Marnau, „daß er eines Tages mit einer Latte in der Faust durch die Straßen ging, in tödlicher Verzweiflung und voll Ingrimm… Und dennoch vermochte er so licht und sonnig zu sein wie jemand, dessen Frohsinn einer himmlischen Kundschaft entspringt, deren Wunder uns unverständlich geworden sind“. Unverständlich ist von jetzt ab viel von dem, was Thoor sagt (obwohl er immer weniger sagt). „Weißt du, was ein Salamander ist?“, fragt er eines Tages Marnau mit drohender Stimme; der schüttelt den Kopf, weiß, daß er die Frage nach dem Brandtier niemals im Sinne Thoors beantworten könnte –, und erst viel später wird Ingeborg Bachmann dann in ihrem großen Fragegedicht an die Liebe ausrufen:

Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:
sollt ich dir kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?

Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn…
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.

Jesse Thoor schmerzte von jetzt an die Schädeldecke, Tag und Nacht, und es erschienen ihm Engel, gütige und entsetzliche – die vor allem, die Racheengel. Die Priester, die er um Rat anging, wußten ihn, wie sollten sie auch, nicht. Sie mußten hier versagen wie vor einer heimlichen Schwester Jesse Thoors, die in jenen Jahren auch, lodernd vor Gesichten und vor Schmerzen, die ihre Schädeldecke sprengen wollten, durchs Londoner Exil ging: Simone Weil.

*

Man muß glauben, um zu verstehen,
und verstehen, um zu glauben.

Paul Ricoeur, Die Interpretation
(Ein Versuch über Freud)

Es lohnt sich, bei dieser Wesensverwandtschaft zwischen Simone Weil und Jesse Thoor etwas zu verweilen, sie zitierend zu belegen, auch wenn es tragisch ist, sich dabei immer wieder bewußt zu werden, daß diese Geschwister im Geiste einander auf Londons Straßen, wo sie sicher einmal aufeinander zugetrieben wurden, sich nicht erkennen durften. Beide hatten damals der organisierten Linken bereits den Rücken gekehrt – Simone Weil, die erklärte Pazifistin, war 1936, nach dem Überfall auf das demokratische Spanien, zu den Republikanern geeilt, um mit der Waffe in der Hand Spaniens Freiheit zu verteidigen, hatte aber nach dem sowjetischen Verrat an Spanien die heraufkommende bürokratische Diktatur der kommunistischen Regimes vorausgesehen – und was sie am engsten verband, war das franziskanische Element („Der heilige Franz ist mein Zeuge“ heißt es einmal in einem Thoor-Gedicht), also jenes Staunen vor der Schöpfung und jenes Einverständnis mit ihr, das beiden immer neue Lobpreisungen entlockte, sie gleichzeitig aber auch in immer größeres Entsetzen über eine Menschheit versetzte, die im Begriffe stand, diese Schöpfung um ihren Sinn zu bringen und endgültig zu vernichten.
„Von allen Eigenschaften Gottes“, so steht es in La Connaissance surnaturelle von Simone Weil, „ist eine einzige im Universum, im Leib des Logos inkarniert, und das ist die Schönheit. Die übrigen können sich nur in einem menschlichen Wesen verkörpern. Die Gegenwart der Schönheit in der Welt ist der Experimentalbeweis der möglichen Inkarnation. Die Freude, wenn sie eine vollkommene und reine Zustimmung ist zur Schönheit der Welt, ist ein Sakrament (das des heiligen Franziskus). Außer bei St. Franziskus hat das Christentum die Schönheit der Welt fast verloren.“ Um diesen Verlust, um das Problem von Entwurzelung und Einwurzelung, kreiste das Denken sowohl Simone Weils als auch Jesse Thoors beständig. Beiden schien die Entwurzelung „die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft“ („Einmal wirklich entwurzelte Wesen verfallen entweder einer seelischen Trägheit, die fast dem Tode gleichkommt, oder sie stürzen sich in eine hemmungslose Aktivität, die bestrebt ist, auch diejenigen zu entwurzeln, die es noch nicht oder erst teilweise sind“). Und für beide war ,Wiedereinwurzelung‘ sowohl eine politisch-soziale wie eine religiöse Aufgabe, d.h. sie glaubten nicht länger an die Erlösung der Menschheit durch bloße Erringung der Menschenrechte. Für Thoor war Gerechtigkeit, wie für die Weil, mehr als Recht; „daß Franz von Assisi vom Recht spräche, ist nicht vorstellbar“, dieser Satz der Weil könnte auch von ihm sein. Beide hatten freilich erfahren müssen, daß jedes herrschende Kollektiv für sich Gerechtigkeit in Anspruch nimmt, und „da jeder sich der Gerechtigkeit hinreichend fähig glaubt, so glaubt er auch, daß ein System, worin er die Macht hätte, gerecht genug wäre; das ist die Versuchung, in die der Teufel Christus führte – die Menschen erliegen ihr fortwährend.“ So lehnten sie schließlich alle kollektiven Systeme ab, akzeptierten nur noch, was viel später einmal Thomas Bernhard in die Worte fassen sollte:

Wir haben nur ein Recht auf das Unrecht.

Gerechtigkeit, heißt das, kann nur von einzelnen kommen, egal, wo diese in der jeweiligen sozialen oder politischen Hierarchie angesiedelt sind. Jesse Thoor, der einst villonhaft-anarchistisch gegen alle Hierarchien wütete, stellte diese nun, wie die Weil, scheinbar nicht mehr in Frage, wenn er etwa in seinem „Weihnachtslied“ den Königen gute Bauern und gute Hirten wünschte oder in dem herrlichen Gedicht „In einem Haus“ Bettelmann und Kaiser einträchtig miteinander trinken und lachen ließ, in einer gewiß voreiligen Versöhnung. In Wahrheit wußte er wohl, daß jene von ihm akzeptierten Hierarchien, die nicht länger auf Ausbeutung gründen, sondern auf Spiritualität, eine fromme Utopie darstellten. Und doch: vielleicht dürfen heute schon solche Träume in China, wo die Kluft zwischen geistiger und körperlicher Arbeit endgültig beseitigt werden soll, legitim geträumt werden.
Man weiß, daß Simone Weil in ihren letzten Londoner Aufzeichnungen, die sich alle mit der Frage des Wiederaufbaus und der Wiedereinwurzelung der Menschen nach dem Zweiten Weltkriege beschäftigten, heutige chinesische Vorstellungen antizipiert hat: also statt Wiederaufbau industrieller Ballungszentren die Bildung ländlicher Kleinbetriebe, in denen Arbeiter, Bauern und Intellektuelle gemeinsam für eine Spiritualisierung der Arbeit sorgen in dem Sinne, daß körperliche Arbeit die geistige Mitte ihres gesellschaftlichen Lebens wird; d.h. Beseitigung des Proletarierstandes statt seiner Ausdehnung auf die ganze Menschheit, wie das der Sowjetkommunismus (in seiner Fixierung auf bloß ökonomische Erfolge) betreibt, mithin Aufhebung der Entfremdung, die ja, wie 50 Jahre Sowjetherrschaft demonstrieren, lediglich mit der Liquidierung des Privateigentums noch keineswegs beseitigt, eher noch vergrößert wurde.
Mag sein, daß die fanatische Eloquenz, mit der die Weil theoretisierte, Thoor sogar abgestoßen hätte, sicher ist, daß er – in Analogie zu allem, was sie dachte – auf der Wiederentdeckung des Individuums durch seine Wiedereinwurzelung und auf der Wiederentdeckung der Grundwerte, z.B. der Heiligkeit von Brot und Wein, insistierte, daß er, wie sie, konservativ wurde, konservativ, wie es merkwürdigerweise nur noch Kommunisten, Christen oder Schriftsteller – am besten dies alles in einer Person! – werden können. Ein paar Jahre zuvor hatte Ignazio Silone in seinem Roman Wein und Brot – der Titel schon stellte ein Programm dar – einen ebenfalls an den geschlossenen Systemen verzweifelten Kommunisten, der, eigentlich gegen seinen Willen, der Partei entfremdet und fromm wird, beschrieben (und damit seine eigene Entwicklung literarisch vorweggenommen), und die italienische Literatur, sie vor allem, hat seither immer wieder den Christen ohne Kirche und den Sozialisten ohne Partei beschworen, jenen frommen Kommunisten, der „das alte metaphysische Gefühl der bäuerlichen Epochen“ wiederentdeckt, der weiß, „daß alles, was ein Bourgeois tut, immer nur falsch sein kann, weil die Bourgeoisie den Sinn für das Sakrale verloren hat“, wie P.P. Pasolini es in seinem Film-Buch Teorema ausgedrückt hat. Jesse Thoor hat, wie nach ihm Pasolini, erkannt, daß die Bourgeoisie die Verzweiflung immer noch der Veränderung vorzieht, ja, daß Verzweiflung der ihr gemäße Ausdruck, ihre spezifische Sünde ist. Kierkegaards Satz: „Der Gegensatz der Sünde ist nicht Tugend, sondern Glaube“, trifft aber auch auf ihn, den sicherlich nicht Tugendhaften, zu; er entkam der Bourgeoisie – d.h. der Verzweiflung, die ihn immer noch mit dieser verkettet hatte –, indem er seinen Sinn für das Sakrale wieder zu schärfen vermochte, indem er gläubig wurde.
Gläubig, der Begriff bedarf, auf Thoor gemünzt, der Interpretation. Noch in seinem frühen Gedicht„ Am Totenbett der Mutter“ hatte er ja geschrieben: „Ich glaube nicht an Gott. Es tut mir leid.“ Versteht sich, daß Leidempfinden über den Zustand der Ungläubigkeit bereits von größerer Frömmigkeit zeugte als das, was gemeinhin als Ausdruck von Frömmigkeit gilt, nämlich das wohlfeile Einverständnis mit sich und dem Weltzustand, das im blinden Vertrauen auf den großen Papa wurzelt, der’s schon richten wird. „Eine der köstlichsten Freuden der irdischen Liebe, dem geliebten Wesen zu dienen, ohne daß es dies weiß, ist in der Gottesliebe nur möglich durch den Atheismus“; vermutlich wäre sowohl dem Atheisten Höfler wie dem Gläubigen Thoor dieser Satz der Weil zu spitzfindig, eben zu wenig gläubig, erschienen, obwohl er, wie sie, nie einen festen Platz in der Kirche fand. Seine Gläubigkeit resultierte ja nicht aus der Reflexion – er hielt sich Bildung und Gebildete möglichst vom Leibe, lebte ganz ohne Bücher! –, sondern aus der Erfahrung, jener physischen Erfahrung der Güte z.B., die ihm zuteil wurde. Er erwähnt einmal in einem der späten Sonette die Namen derer, die seinen „Glauben gerettet‘ haben (eine Formulierung übrigens, die voraussetzt, daß dieser Glaube immer da, nur verschüttet war), und es stehen da bezeichnenderweise die Namen überzeugter Kommunisten neben denen von überzeugten Christen, etwa der von Wolfgang Langhoff („… der mir Geld und gute Worte mitgegeben hat“) neben dem des St. Galler Bildhauers Max Pfänder („… der mich aufgenommen und gesund gepflegt hat“).
Jesse Thoors Gläubigkeit hatte nichts Abgrenzendes, nichts Verbohrtes, nichts Asketisches vor allem („Der heilige Franz wußte die allerköstlichsten Orte zu wählen, um dort in Armut zu leben; er war durchaus kein Asket“, sagt Simone Weil), auch wenn die materiellen Umstände Thoor oft zur Abstinenz gezwungen haben. „Es geht durchaus nicht darum, an Gott zu glauben, sondern darum, sich in Gott zu verlieben“, dieser wunderbare Satz aus dem Tagebuch von Witold Gombrowicz könnte von der Gläubigkeit Simone Weils und Jesse Thoors inspiriert worden sein. Wie alle wahrhaft Verliebten müssen beide allerdings oft sehr erschreckend gewirkt haben. T.S. Eliot hat einmal geäußert, die Weil (die er nicht persönlich kannte, doch bewunderte) müsse „unausstehlich“ gewesen sein; und Alfred Marnau hat über den Freund Thoor bemerkt:

Seine Güte noch war erschreckend!

Marnau hat auch eindrucksvoll beschrieben, wie Thoor auf offener Straße in der Nähe des Primrose Hill, während von dorther die englischen Abwehrgeschütze donnerten, mit erhobener Stimme und in deutscher Sprache – wie der ins New Yorker Exil verschlagene O.M. Graf hatte auch Thoor sich geweigert, je gründlich Englisch zu lernen – seine Visionen verkündete: „Sätze, in glühenderem Feuerofen geläutert und geprägt als die zum Himmel sprengenden Geschosse… so daß mich Grauen eher vor seinen Gesichten packte als vor den berstenden Sturzgeschossen rings um uns…“ denn indessen wir von den scheelen Blicken der Vorübereilenden abgewertet wurden, rief mir Jesse Thoor mitten im Kriege zu, daß eine wundersame Offenbarung bevorstehe: die Bezeugung der körperlichen Himmelfahrt der Frau in der muttergöttlichen Gestalt Mariä. Das war sieben Jahre vor der Verkündigung des Himmelfahrtsdogmas durch Pius XII., die der Tiefenpsychologe C.G. Jung, selbst Protestant, für eine der größten Geistestaten unseres Jahrhunderts gehalten und die Thoor noch erlebt hat; übrigens starb er an einem 15. August, also am Tage der Himmelfahrt Mariä – C.G. Jung hätte sich in seiner Vorstellung von „Synchronizität“ und „bedeutungsvollen Zufällen“ sicherlich wieder einmal bestätigt gefühlt.
Es ist leicht, Thoors Marienkult, wie er sich etwa im Gedicht „Rufe am Nachmittag“ zeigt, auf einen Ödipuskomplex zurückzuführen, und es ist zugleich völlig müßig (ebenso nichtssagend wäre es, die Abwesenheit dieses Marienkomplexes bei Simone Weil mit psychoanalytischen Kategorien erklären zu wollen). Ob nun „Gott im Grunde nichts anderes ist als ein erhöhter Vater“, wie Freud in Totem und Tabu ausführt, oder Maria nur die erhöhte Mutter, ob Heiligkeit nur eine gesellschaftliche Sanktionierung von Triebverzicht ist, wie Freud in Die ,kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität behauptet – alle diese Einschränkungen (,nichts anderes‘, ,nur‘) vermögen es keineswegs, ,Gott‘, ,Maria‘, ,Heiligkeit‘ ihrer Bedeutung zu berauben und dadurch überflüssig zu machen (so wenig wie Kunst dadurch überflüssig wird, daß sie ,nur‘ als Produkt von Sublimation erkannt wird). Simone Weil meinte einmal, Freud sei besessen gewesen von der fruchtlosen Mühe, sich seines eigenen Vorurteils zu entledigen, und habe infolgedessen seine ganze Psychoanalyse mit eben diesem Vorurteil durchtränkt, nämlich daß das Geschlechtliche niedrig wäre. „Die körperliche Liebe“, sagt sie, „ist ein Streben nach der Inkarnation. Man möchte in einem menschlichen Wesen die Schönheit der Welt lieben, nicht die Schönheit der Welt im allgemeinen, sondern jene besondere Schönheit, welche die Welt für jeden einzelnen bereithält und die genau dem Zustand seines Körpers und seiner Seele entspricht.“ Da diese ,besondere Schönheit‘ des einzelnen hinfällig, vergänglich ist, wird sie von den großen Liebenden – und nicht nur denen, die man Heilige zu nennen pflegt – ins Unvergängliche, in den Mythos projiziert; „alles, nur Gott nicht, muß vergehen“, so steht es im Koran, und bei Thoor findet man die Gedichtzeile:

Hört die Zeit auf, geht die Ewigkeit noch immer um… Liebe Christen.

Über den Verstand, den auch nur endlichen, führt zu dieser göttlichen Ewigkeit kein Weg. „Alles, was man von Gott denken kann, ist Gott nicht“, heißt es bei Meister Eckhart, und das gilt im Grunde auch für Maria, diese Chiffre für ein ewiges Wunschbild der ,Anima‘ (im Sinne C.G. Jungs). C.G. Jung glaubte, in striktem Gegensatz zu Freud, nur durch die Anerkennung und ,innere Erfahrung‘ einer höheren Autorität könne sich der Mensch davor schützen, weltliche Zwänge wie Sexualität, Wille zur Macht oder auch Vernunft zu Göttern zu erheben. Jesse Thoor hat diese innere Erfahrung einer höheren Autorität nicht nur in ,überirdischen‘ Erscheinungen gemacht, sondern gerade in den ganz irdischen; mit Staunen spricht er vom „Dach, das keinen Regen durchläßt“, und vom „Stuhl, der fest steht, und der uns trägt“, hierin wieder im Einklang mit den alten deutschen Mystikern, von denen etwa Tauler geschrieben hat:

Dann schaue der Mensch auf die unaussprechliche Verborgenheit Gottes, wie Moses sprach: „Wahrlich, Herr, du bist ein verborgener Gott…“ Er ist verborgenerweise in allen Dingen.

In Thoors Sonett „Der vierte Brief des Bedienten Abu“ wird die Sehnsucht nach dem Einfachen, nach einer archaischen ,Heimat‘ (deren Archaik zu dieser Zeit aber längst von den braunen Machthabern in Thoors wirklicher Heimat nur noch zur Verdummung und Disziplinierung der Massen propagandistisch eingesetzt wurde) zur Erfahrung der mystischen Gemeinschaft :

Es leben in meiner Heimat viele edle Handwerker und heilige Bauern.
Der eine zeigt uns einen Weg, der andere faltet unsere Hände.
Daß wir alle ein Auge werden, daß wir alle ein Mund werden.

Und lobet den Nachbar… und lobet sein Haus… und lobet seine Felder.
Und lobet den Pflug… und lobet den Hammer… und lobet seinen Amboß.
Und lobet das Feuer… und lobet das Wasser… und lobet die Luft.

Wer über den ausgiebigen Gebrauch des Prädikats heilig bei Thoor verwundert ist, sei wiederum auf Simone Weil verwiesen, die Heiligkeit als Voraussetzung für einen Christen betrachtete; in einem Brief an Maurice Schumann schrieb sie:

Nebenbei bemerkt liebe ich die Art nicht, in der die Christen von der Heiligkeit zu reden sich angewöhnt haben. Sie reden davon wie ein Bankier, ein Ingenieur, ein kultivierter General vom Genie des Dichters reden würden – eine schöne Sache, von der sie sich ausgeschlossen wissen, die sie vielleicht lieben und bewundern, aber nicht einen Augenblick kommt es ihnen in den Sinn, sich deswegen Vorwürfe zu machen, weil sie sie nicht besitzen. Dabei scheint mir, daß in Wirklichkeit… für den Christen Heiligkeit das Minimum ist.

Diese anspruchsvolle Sainte Simone hätte genauso Liebe als Minimum von den Menschen fordern können, es wäre dies eine nicht minder radikale Forderung. Aber sie und Thoor beharrten auf dieser Forderung so selbstverständlich, daß sie damit auch Wohlgesinnte verstören konnten und immer häufiger als rücksichtslos oder närrisch gelten mußten. Wie sich so antipodische Figuren wie Trotzki und de Gaulle einig darüber waren, in dieser Simone Weil „eben eine Verrückte“ (de Gaulle) vor sich zu haben, waren sich sicher die meisten derer, die in London überhaupt noch mit Thoor in Berührung kamen, darüber einig, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Als ob nicht Verrücktheit das Minimum für einen Liebenden wäre! Michael Hamburger berichtet von einer Begegnung mit Thoor, nachdem dieser gerade vom Verlag Faber & Faber in Soho kam, wo er T.S. Eliot – den er nicht kannte, der ihm aber als ,christlicher Dichter‘ empfohlen worden war – eine eigenhändig geschmiedete goldene Blume überreichen und sich als Gegengeschenk dafür ein Schiff hatte erbitten wollen (mit dem er fortan, gleich dem Fliegenden Holländer, das Meer zu seiner Heimat zu machen gedachte); natürlich war er nicht bis zu Eliots Büro vorgedrungen, sondern von der nächstbesten Sekretärin als Wahnsinniger abgewiesen worden.

Seine Enttäuschung hatte wenig mit der Vereitelung des Vorhabens zu tun: wieder war ein Symbol zerstört worden, ein Bild in den Schmutz gefallen –  d a s  zerrüttete ihn tagelang.

Da für ihn alles, was ist, für mehr als das nur Sichtbare stand, da ihm alles zum Symbol wurde, mußte er überall Enttäuschungen ernten; so war beispielsweise der englische Dichter Stephen Spender, mit dem zusammen er einmal eingeladen war, für ihn schon dadurch ,erledigt‘, daß Spender beim Abendessen achtlos das Brot zerkrümelte „und sich damit als Bürger bloßstellte, der die geheiligte Materie verachtet und vergeudet“.
Die „Torheit der Gerechten“ verband Thoor auch mit jenem englischen Dichter-Mystiker, der in seiner Jugend, wie Thoor, ein Aufrührer gewesen war und in Londons Straßen die rote phrygische Mütze getragen hatte, später aber, unmittelbar in der Nähe von Thoors derzeitigem Londoner Domizil, die goldenen Säulen Jerusalems erblickt hatte: William Blake. Blakes tiefsinniger Satz: „Wenn der Narr auf seiner Narrheit bestünde, würde er weise werden“, hat wiederum Simone Weil kurz vor ihrem freiwilligen Hungertod intensiv beschäftigt, als sie über Shakespeares Narren nachdachte:

Bei Shakespeare sind die Narren die einzigen Personen, welche die Wahrheit sagen… In dieser Welt haben allein die Wesen, welche bis zum letzten Grade der Erniedrigung, weit unterhalb der Bettlerschaft, gefallen sind, die nicht nur ohne gesellschaftliches Ansehen, sondern auch in jedermanns Augen selbst der Menschenwürde, nämlich der Vernunft, entblößt sind – nur diese haben in der Tat die Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen. Alle anderen lügen.

Jesse Thoor gehörte zu jenen Narren, die auf ihrer Narrheit beharrten und deshalb weise wurden. Diese Weisheit – nur ein andres Wort für Heiligkeit – verbot ihm nicht seinen Zorn, diesen heiligen Zorn, der ihm noch das letzte Wort, mit dem er von dieser Welt schied, diktierte:

Nobel wart ihr alle nicht…

Nachsicht, um die Brecht in seinem großen, gleichsam testamentarischen Gedicht „An die Nachgeborenen“ die geschätzte Nachwelt gebeten hatte, Nachsicht kannte Jesse Thoor nur für seine Peiniger (wofür als eindrucksvolles Beispiel sein Gedicht „Rede in einem Gefängnis“ stehen mag), nicht aber für seine intellektuellen Freunde („Der Teufel hat sie alle bereits am Kragen, und ich sehe keinen Grund, warum er sie nicht eines Tages ganz und gar holen sollte“, so heißt es in dem ersten Nachkriegsbrief, den er an die Wiener Tante schrieb) und schon gar nicht für sich selbst, wovon nicht zuletzt sein ,Testament‘, ein „Nachsatz“ betiteltes Gedicht, Zeugnis ablegt, in dem sich die Zeile findet:

Und daß du nicht frech wirst, wie Jesse, der Nachsichtige!

Schwer, sich vorzustellen, was er an sich als frech empfand; vielleicht schon dies, daß er seine Gesichte nicht alle bei sich behalten konnte, daß er für manche doch Worte prägen mußte, daß er sie auf Gedichte reduzierte, Gedichte, die den Makel der Verkäuflichkeit – ,Warencharakter‘ sagt man wohl seit Adorno – trugen, auch wenn er selbst in seinem ganzen Leben nur ein einziges Gedichtbändchen publizierte, 1948, im Nürnberger Nest-Verlag, den Band Sonette. Ja, das wird er wohl als seine Frechheit empfunden haben, daß er sich an das Gebot Du sollst dir kein Bild machen nicht halten konnte, daß er doch in immer neuen und für ihn immer neu furchtbar unvollkommenen Bildern das ausdrücken mußte, was seine Seele so unendlich viel vollkommener erblickte, so daß er gut mit Novalis hätte ausrufen können:

Ich sehe dich in tausend Bildern,
Maria, lieblich ausgedrückt,
Doch keins von allen kann dich schildern,
Wie meine Seele dich erblickt.

*

Im Sommer 1952 riß es Jesse Thoor von London fort, zurück nach Österreich, in die vermeintliche Heimat. Das Geld, das er vom Verkauf einer seiner letzten Goldschmiedearbeiten erhalten hatte, reichte nicht für eine Rückfahrkarte. Aber er kam damit bis Matrei bei Lienz in Osttirol, wo sein Freund Otto Daubrawsky wohnte. Mit dem bestieg er, der gerade erst eine Herzthrombose überstanden hatte, als erstes einen Berg. Als er am nächsten Tag zum Omnibus ging, mit dem die Tante aus Wien kam, brach er zusammen. „Ich durfte ihn noch vier Tage pflegen“, berichtet die Tante, „aber das Herz war schon zu schwach. Am 15. August schickte der Arzt einen Rettungswagen, und Karli wurde nach Lienz gebracht in die Klinik, der Freund fuhr mit. Aber nach zwei Stunden war Peter verschieden, am 15. August, und wurde dann in Lienz begraben. Als der Arme wegfuhr von Matrei, sagte ich zum Abschied: Wirst brav sein Karli und den Ärzten folgen. Er sagte, nein, Tante, brav werde ich diesmal nicht sein.“
Auch wenn es Jesse Thoor von Anfang an nie um Kunst an sich, nie um das ,absolute Gedicht‘ ging, sondern darum, vom Absoluten Zeugnis abzulegen, ist anläßlich einer Auswahl aus seinem Werk für eine der Dichtung reservierte Buchreihe der Versuch legitim, dieses literarisch ,einzuordnen‘. Die stilistischen Einflüsse in Thoors Lyrik sind vielfältig, stammen aus dem Alten Testament und von den christlichen Mystikern – auf Johannes vom Kreuz etwa beruft sich Thoor im Gedicht „Hinweis“ (nicht in diese Auswahl mit aufgenommen) ausdrücklich – ebenso wie von dem großen Visionär des Dreißigjährigen Krieges, Andreas Gryphius, oder vom späten, umnachteten Hölderlin. Betrachtet man chronologisch Höflers Entwicklung, fällt zunächst ins Auge, wie wenig Modisches schon seinen ersten Gedichten, so unbeholfen sie auch sein mögen, anhaftet, also vor allem kaum Expressionistisches. Die frühesten Vorbilder sind ganz offensichtlich Villon und Rimbaud; an Villon besticht ihn wohl primär das anarchische Lebensgefühl, an Rimbaud mehr die kunstvoll gebändigte Form. Der Autodidakt Höfler, der akademische Bildung nicht nur nicht empfangen hatte, sondern sogar zeitweilig exzessiv befehdete, befleißigt sich merkwürdigerweise dennoch schon früh sogenannter ,strenger‘ Formen; vor allem das Sonett, diese durch Rilke gerade endgültig abgewirtschaftete Versform, hatte es ihm angetan, schien ihm offenbar die richtige Festung für sein immerzu ausbrechen wollendes Pathos des Selbstmitleids.
Höfler schrieb damals eine Nachdichtung von Rimbauds Gedicht „Le Dormeur du Val“ (wobei diese – er konnte ja keine Sprachen – bereits auf einer anderen deutschen Nachdichtung basiert), die ich – obwohl er sie später als allzu willfährig errichteten Tribut an den politischen Aktivismus verwarf – dennoch in die vorliegende Auswahl mit aufgenommen habe, demonstriert sie doch ziemlich einleuchtend, was diesen jungen Dichter damals von seinen bürgerlichen Kollegen unterschied. Die Freiheit, ja Frechheit, mit der er das Original Rimbauds behandelt (man kann auch sagen: völlig ignoriert), mag damals noch – man denke nur an Brechts Aneignung der Ammerschen Villon-Übertragungen! – relativ üblich gewesen sein, aber die wilde Politisierung des Rimbaudschen Gedichts, in dem ja nichts von sterbenden Genossen, geballten Fäusten und der Freiheit die Rede ist, hebt Höfler ziemlich deutlich ab vom Gros der übrigen Dichtermannschaft jener Tage (zum Vergleich sei nur einmal die Lektüre von Paul Zechs unsäglich harmloser Übertragung des gleichen Rimbaud-Gedichts empfohlen!). Und wie entschieden Höfler aus Rimbauds hochartistischem L’art-pour-l’art-Produkt, in dem auch der Tote nur eine Kunstfigur ist, einen Appell an alle gemacht hat, auch auf die Gefahr hin, den literarischen Wert des Gedichts dabei erheblich zu mindern, das zeugt doch von erstaunlicher Eigenart.
Auffallend an Höflers frühen Gedichten ist neben ihrer strengen Form – in solchen Formen schrieben damals vorwiegend die ,Nüssebewisperer‘, wie Benn sie nannte, die angeblich unpolitischen Naturlyriker, freilich auch der große Polemiker Karl Kraus, dessen Lyrik ja immer noch sträflich unterschätzt wird – auch der Verzicht auf ein irgendwie ,modern‘ geartetes, d.h. von Technik und Großstadt geprägtes Vokabular. Es geht bei Höfler schon früh ziemlich archaisch zu, archaisch und zugleich anarchisch, sind doch die meisten seiner Gedichte, soziologisch gesehen, im Lumpenproletariat angesiedelt, und stilisiert Höfler sich damals gern als „Erzvagant im Königreich der Asche“. Sucht man hier nach literarischen Verwandtschaften, stößt man auf den Niederösterreicher Theodor Kramer, der bezeichnenderweise fast so unbekannt ist wie Höfler selbst, dessen Gedichte aber eine ähnliche Unmittelbarkeit des Elementaren und ein ebenso exakt getroffener plebejischer Tonfall auszeichnen (der Fabrikantensohn Brecht, obwohl er doch so genau wußte, daß „das Volk nicht tümlich“ ist, traf diesen Ton, so sehr er sich um ihn mühte, fast nie). Theodor Kramer machte, im Gegensatz zu Höfler, allerdings keinerlei Entwicklung durch; seine im Exil geschriebenen Verse – auch er mußte 1939 nach London flüchten, wo er lange von Almosen der Hilfsorganisationen lebte, bis er endlich eine Bibliothekarstelle fand – unterscheiden sich in nichts von seinen Vor- oder Nachkriegsgedichten, während Höflers Gedichten im Exil völlig neue Dimensionen zuwuchsen, die aus Höfler schließlich Jesse Thoor werden ließen.
Die Sprache der Exilierten, so hat man gesagt, kenne zwei äußerste Möglichkeiten, die sich bedingten: das Verstummen und das Pathos. Wie wahr das ist, beweisen die Exilgedichte Jesse Thoors, in denen neben Strophen von fast prophetischem Pathos viele ,stumme‘ Strophen stehen, die Thoor durch sorgfältig von ihm ausgezählte Striche durchaus als Bestandteil seiner Gedichte gekennzeichnet hat, halten sie doch, im Sinne Wittgensteins, das fest, worüber man nicht sprechen kann und also schweigen muß, künden sie doch von jener „wahren Gemeinschaft der Heiligen“, die sich, nach Madame Guyon, „allein im Schweigen“ herstellt.
Die Exilliteratur-Forschung hat inzwischen der Sprache vieler Emigranten auch eine Tendenz zum Sakralen nachgewiesen; Heinrich Mann hat dieses ,Sakralwerden der Sprache‘ mit Verblüffung sogar an den Exilbüchern seines Bruders Thomas registriert. In Jesse Thoors Exilgedichten ist das Sakrale nicht nur ein Tonfall, nicht nur eine Tendenz, sondern das, was Schweigen und Pathos miteinander verkettet: Identität eines Mannes, den für Augenblicke „eine auf Erden nicht mehr gesehene Hoheit umgab wie ein Waffenkleid, so verwundet war er schon, so weit voran, bald schon ein Abgeschiedener“.
In seinen letzten Lebensmonaten hat Jesse Thoor nichts mehr geschrieben.

In einer der spärlichen tagebuchartigen Aufzeichnungen Jesse Thoors, die Michael Hamburger bei der Wiener Tante kurz vor deren Tod einsehen durfte, fand er die Sätze:

Viele Menschen sprechen das Wort ,Volk‘ so aus, daß man annehmen muß, sie wünschten es nicht, mit dem Volk gleichgestellt zu werden. Und richtig, beobachten wir sie in ihren Tätigkeiten, so erkennen wir immer wieder, daß sie tatsächlich außerhalb der Gemeinschaft stehen. Wenn ihr von Menschen nichts versteht, so habt ihr von Kunst schon lange nichts verstanden.

Und an einer anderen Stelle dieser Aufzeichnungen betont Thoor, daß es „in erster Linie auf das Dienen ankommt“. Die beiden Bemerkungen sind wichtige Schlüssel zum richtigen Verständnis Jesse Thoors, sie korrespondieren auch genau mit jenem seltsamen Namen, den er sich wählte und der scheinbar so Unvereinbares wie Nord und Süd miteinander versöhnt: Jesse Thoor. Beide, Jesse = der Prophet Jesaja und Thoor = der germanische Gott Denar, waren Symbole des Dienens an der Gemeinschaft. Donar, dessen Attribut im altnordischen Mythos der Hammer war, galt als helfender und schützender Gott, der vor allem von den Bauern um gute Ernten angerufen wurde, und der sich im übrigen durch überragende körperliche Kräfte auszeichnete, die ihn befähigten, die Menschen gegen alle Arten von Riesen und Ungeheuer zu verteidigen. Jesaja aber war jener Prophet, der dem jüdischen Volk das Ende des babylonischen Exils und die Aufrichtung eines Friedensreiches verkündete, das ein König aus dem Hause David herbeiführen würde („Ein Sproß wird ausgehen aus der Wurzel Jesse…“); „er war erfüllt von der wahrhaft prophetischen Vision einer schließlichen Erlösung Israels und der Welt“.
Thoors Gedichte, die so inbrünstig eine heilige bäurische Ordnung zu feiern vermögen, haben auch die Kraft, die Ungeheuer Entwurzelung und Entheiligung zu überwältigen. Sie verkünden ein Ende für unser aller Exil und unsere Erlösung noch aus dem tiefsten Fall:

Die Wolken ziehn am Horizont wie weiße Vögel schon gelassen hin.
Doch traumverwirrt noch schläft der Glockenblume blauer Schlag.
Es liegen staunend Dachs und, Hund und Hamster auf den Knien.
Und wundersam von zarter Röte überhaucht erwacht der jüngste Tag.

Dies ist der milde Atem wohl, der tröstend in den Lüften schwebt.
Schon regt es sich in allen Zweigen und die Bäche raunen.
Von allen Gipfeln zittert es beglückt und drängt und bebt,
dem Sphärenjubel ähnlich und den Liedern himmlischer Posaunen.

Wer spricht hier noch, wie fern ich war im Strome wesenloser Dinge?
Nun blühe ich empor aus jedem Tropfen und aus jedem Blatt,
und trinke mich mit tausend Mündern an der frühen Klarheit satt.
Aus Zedernholz sind meine Flügel, die ich rauschend schwinge.
Aus Meerschaum ist mein Leib, und meine Füße sind Kristall.
Und Sonnenstaub ist alles, was ich schuf aus meinem tiefsten Fall.
(„Auferstehungssonett“)

P.S.
Wenn man, wie ich, gerade von einer Reise aus einem der sog. sozialistischen Länder Südosteuropas heimgekehrt ist und erstaunt beobachtet hat, daß die Menschen dort, ganz gleich ob Arbeiter, Bauern, Künstler oder Intellektuelle, alle ohne Alternative und erst recht ohne die offiziell propagierte Perspektive leben (weil nämlich jeder Versuch ihrer materiellen und ideellen Realisierung mit allen Methoden des Machtapparats unterdrückt würde), und daß diese Menschen immer mehr und unübersehbarer jene neue Religiosität verbindet, die an keine bestimmte Konfession mehr gebunden ist, jene neue Metaphysik (wie sie etwa auch Alexander Piatigorsky in der Sowjetunion festgestellt hat), die sich auf die Wiederentdeckung des Archaischen gründet, so wird einem erst vollkommen bewußt, wie exemplarisch die Entwicklung Jesse Thoors die Entwicklung einer ganzen Epoche Europas vorweggenommen hat.

Peter Hamm, Nachwort, Herbst 1974

 

Schwer zu vergessen: Jesse Thoor:

– Zur Neuauflage seiner Gedichte in der Bibliothek Suhrkamp. –

Aus gegebenem Anlaß hat sich der Suhrkamp Verlag entschlossen, den vergriffenen Band 424 seiner Bibliothek neu aufzulegen. Es handelt sich um die von Peter Hamm herausgegebenen und mit einem Nachwort versehenen Gedichte von Jesse Thoor. Der 1905 in Berlin geborene Peter Karl Höfler, der sich nicht nur als Dichter Jesse Thoor nannte, war Mitte August 1952 in Lienz/Osttirol gestorben. 1975, als er 70 geworden wäre, erschien die Hammsche Auswahl zum ersten Mal. 2005, zu Thoors 100. Geburtstag, war nun die zweite Auflage fällig. Ohne sie wäre auf dem Markt der Bücher nichts von Jesse Thoor zu hören und zu haben.
Dieser sonderbare Dichter, dieser zufällig in Berlin geborene Österreicher, war ein frommer Anarchist und Mystiker, ein in vielen Handwerken geschickter Überlebenskünstler, der sich gelegentlich selbst als „Emigrant, Kommunist, Lump und Landstreicher, aber im Besitz einer Künstlerseele“, vorstellte. Den Zweiten Weltkrieg überlebte er in London im Exil. –

In Berlin war Karl Peter Höfler mit Theodor Plivier, Erich Mühsam und Joachim Ringelnatz bekannt geworden. Er war Mitglied der KPD und floh 1933 nach Österreich, später in die Tschechoslowakei. Durch Fürsprache von Alfred Neumann und Franz Werfel erhielt der junge Dichter 1938 ein amerikanisches Stipendium, verbunden mit 1.000 Kronen, ein Flugticket und die Einreiseerlaubnis nach London.
Ein Jahr danach heiratete er die aus Wien emigrierte Friederike Blumenfeld. Nach Beginn des Krieges machte er in Hampstead eine Werkstatt auf und verdiente seinen spärlichen Lebensunterhalt hauptsächlich mit Gold- und Silberschmiedearbeiten. Beharrlich sträubte er sich, Englisch zu lernen.

Sein Werk umfaßt Sonette und Lieder, Gedichte, Gebete und Erzählungen. Verschwunden und nie wieder aufgelegt sind die Auswahlbände von Alfred Marnau Die Sonette und Lieder (1956), von Wilhelm Sternfeld Dreizehn Sonette“ (1953) und von Michael Hamburger Das Werk. Sonette, Lieder, Erzählungen (1965). Nur antiquarisch wären Dreizehn Sonette für EURO 70.00 heute noch zu haben, die einst in der Eremiten-Presse in Düsseldorf erschienen waren. – Kündige Herausgeber deutscher Lyrik-Anthologien haben öfter Gedichte von Jesse Thoor in ihre Sammlungen aufgenommen, zuletzt Paul Konrad Kurz in die Bände Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart (1978) und in Höre Gott! Psalmen des Jahrhunderts (1997). Es ist kein Ruhmesblatt für deutsche Verlage, daß keiner auf die Idee kam, dem Dichter Jesse Thoor wenigstens zu seinem 100. Geburtstag eine Werkausgabe in einem Band zu spendieren. Das ist umso beklagenswerter, als jede Auswahl immer nur ein Notbehelf sein kann und eine Einschränkung bedeutet. Ein Beispiel mag für viele stehn, „Das dritte Irrenhausgedicht“, das der Autor später nur „Gebet“ genannt hat. Es kommt in der Hammschen Auswahl nicht vor. Warum eigentlich nicht!

Gebet:

Oh Herr… erbarme dich der Menschen
in der Zeit der großen Nöten,
daß sie, den Schafen auf der Weide ähnlich,
fromm beisammen stehn.
Und daß sie nicht die Leiber sich
noch ganz zertreten.
Erleuchte sie, und laß sie nicht
in Irrtum untergehn.

Und deine Sonne laß recht oft
auf alle Kreaturen scheinen.
Und gib, daß für die Armen endlich auch
das Osterfest beginnt.
Und schütze nicht die Lüsternen,
die Großen und die Kleinen,
und jene, die den Starken dieser Welt zu sehr ergeben sind.

Vielleicht sollten interessierte Lyrik-Leser mal ein Wörtchen mitreden und begabte Melodisten um ihre Mithilfe bitten: Komponisten aller Länder, mal hergehört und mitgesungen! Hier ließe sich eine Gebetserhörung intonieren! Auf daß unter deutschen Verlegern mehr Unternehmungslust aufkomme. Und das kleine Gesamtwerk des armen Dichters Jesse Thoor ihrer Aufmerksamkeit nicht für immer entschwindet.
Das Schillerjahr 2005 bietet Anlässe genug, nicht nur eines toten Dichters zu gedenken. Es gab mehr als einen in Deutschland der keine 50 Jahre unter den Lebenden weilte. Schiller starb mit 45, Jesse Thoor mit 47 Jahren. Der eine warb für die „Ästhetische Erziehung des Menschen“ in einer Reihe von Briefen, der andere sehnte sich auf den Landstraßen Europas, in Werkstätten, Kneipen und Notquartieren nach einer Ästhetik des Humanen“. Und beide immer im Widerstand;

Seht… ich lebe! Noch hat mir keiner das Genick gebrochen. Das war einfach so: gesprungen oder gekrochen.
Und seht: In allen Provinzen Europas habe ich die Erde gerochen

(Jesse Thoor).

exil-archiv.de

Thoor, Jesse: Gedichte

Die deutsche Literaturgeschichte hat eine Reihe von Namenlosen, von Unentdeckten aufzuweisen, denen es nach ihrem Tode nicht besser als zu Lebzeiten erging. Es mag mit dem Einzelgängertum der Betreffenden zusammenhängen, mit der Art, wie sie ihr Leben führten und wie sie schrieben. Jesse Thoor, der als Karl Peter Höfler 1905 in Berlin geboren wurde und am 15. August 1952 im Osttiroler Lienz starb, gehört in diese Reihe. Kaum jemand wird sich erinnern, daß von ihm einmal, 1948, ein Versband veröffentlicht wurde. Der Titel lautete schlicht Sonette. Der Autor lebte zu diesem Zeitpunkt noch in der englischen Emigration.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Jesse Thoor und sein dichterisches Werk vorzustellen. Walter Höllerer tat dies 1954 in der Zeitschrift Akzente. Zwei Jahre später brachte Alfred Marnau eine Auswahl Die Sonette und Lieder als Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung heraus. Und nochmals – zehn Jahre danach – unternahm Michael Hamburger bei der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt den Versuch, an Höfler/Thoor zu erinnern. Er publizierte eine Sammlung Poesie und Prosa unter dem blassen Titel Das Werk. Alle diese Versuche blieben ohne Folgen.
Nun hat Peter Hamm, wieder in schmaler, sehr begrenzter, aber vorzüglich zusammengestellter, für Thoor charakteristischer Auswahl, Gedichte des von ihm in einem umfangreichen und weit ausholenden Nachwort analysierten Autors vorgelegt. Man sollte mit Hamms Nachwort die Lektüre beginnen, denn man darf nicht unvorbereitet sein auf das, was einen als Leser der Thoorschen Gedichte erwartet, die so fast ausschließlich von Wesen und Leben des Verfassers her bestimmt sind. Sie entziehen sich durch Eigenschaften, die ungewohnt sind: durch ihre Leidenschaft, durch Pathos, ja, durch unverkennbare poetische Deklamation. In Jahren, in denen das Lakonische sich durchgesetzt hat und in denen Gedichte sich eher verleugnen, sind die Verse Jesse Thoors etwas völlig Überraschendes. Hamm bezeichnet Thoor mit Recht in den ersten Sätzen seiner Charakteristik bereits als einen Mystiker und nennt, was er hinterließ, mit einer starken Kennzeichnung „begnadete Dichtung, die ja stets dem Unglück abgepreßt wurde, begnadete Dichtung, wie sie uns, in der exaktesten – also religiösen – Bedeutung des Wortes, Jesse Thoor hinterlassen hat“.
Das Leben Karl Peter Höflers endete im Sommer 1952 so, wie es begonnen hatte, unter dürftigen Umständen. Er wurde im Januar 1905 in einem Berliner Arbeiterbezirk geboren. Die Eltern waren Steiermärker. Der Vater, ein Handwerker, wurde immer mehr zum Industriearbeiter. Der junge Höfler ging als Feilenhauer bei einer Berliner Firma in die Lehre. Doch die Unruhe seines Lebens setzte früh ein. Es zog ihn nach Österreich, Italien. Als blinder Passagier landete er mit einem Frachtdampfer in Spanien. Er tauchte in Rotterdam unter, verdingte sich als Schiffsheizer. Später, wieder in Berlin, kam er in Kontakt mit extrem linken Literaturgruppen, schrieb Gedichte, die gelegentlich an Erich Mühsam, mehr noch an Ringelnatz erinnerten. Er wurde Kommunist, aber innerhalb der Partei blieb er höchst individualistisch und ein unbequemer Mann. Er bekam Ärger und hat es lyrisch so ausgedrückt:

Von meinen ärgsten Feinden aber ich nenne nur drei – das sind die Fabrikanten, und das sind die Pfaffen der Partei.

Und natürlich widersetzte er sich dem Nationalsozialismus auf eine lebensgefährlich mutige Weise.
Auf Empfehlung Alfred Neumanns und Werfels erhielt er ein Stipendium in London, wurde dort bei Kriegsbeginn interniert. Er heiratete. Unter schwierigsten Wohnbedingungen ging er seiner Arbeit nach. Er stellte Gold- und Silberschmiedearbeiten her, die Hamm beschreibt:

Seltsame Blumen, Kelche und andere religiöse Symbole, Schmuck und Ringe für Bekannte und Freunde, Phantasiestücke, die von erhabener Zartheit und manchmal auch von großer Wildheit gewesen sein sollen.

Es ist kennzeichnend, daß der grundreligiöse, der mystische Mensch Jesse Thoor sich an eine solche Arbeit begab, während er sein seltsam isoliertes und eigenwilliges Leben fortführte, kaum korrespondierte und sich immer mehr auch im alltäglichen Umgang einer Sprache hingab, die die Sprache seiner Gedichte war.
Hamm stellt fest:

In seinen letzten Lebensjahren konnte er sich buchstäblich nur noch in Gedichten ausdrücken. Daß er sie Reden und Rufe betitelte, ist nicht ohne Bedeutung. Wer sie wirklich verstehen will, muß sie hören, statt sie zu lesen.

Die „mystischen Monologe“, die er innerhalb und außerhalb seiner Verse führte, gehören hierhin. Das blieb bis an Thoors Lebensende so. Das Geld, das er sich in England durch seine Schmiedearbeiten verdient hatte, reichte im Sommer 1952 für eine Fahrt nach Österreich. Hier kam der plötzliche Zusammenbruch. In Lienz wurde er begraben.
Die Gedichte sind so sehr „persönliche“ Gedichte, an die Individualität des Autors gebunden, daß sie keinen oder fast keinen literarischen Standort haben. Es sind weder „absolute Gedichte“, wie Hamm bemerkt (absolut im artifiziellen Sinn), noch einer literarischen Richtung verschriebene Arbeiten. Es sind eher Texte, die wie ein Echo von weither wirken. Solche Echo-Wirkungen versucht der Herausgeber nachzuweisen, indem er stilistische Einflüsse aus dem Alten Testament und von den christlichen Mystikern (Johannes vom Kreuz) nennt, auch Gryphius und den späten Hölderlin. Thoor war Autodidakt. Der Zufall spielte bei der Suche nach dem literarischen Vorbild zweifellos eine bedeutende Rolle. Villon und Rimbaud (den er nach- und umgedichtet hat) wären zu nennen. Bemerkenswert ist sein Bedürfnis nach strenger Form. Aus diesem Grunde wählte er das Sonett. Es spielt in seiner Dichtung die dominierende Rolle.
Der einmal gefundene Ton wird nicht wieder aufgegeben. So verstanden, sind die Arbeiten Jesse Thoors – trotz der gelösteren, liedhaften Form zuletzt – ohne Entwicklung. Sie kommen auf das zurück, was ihm als literarische Aussage lebensnotwendig wurde. Denn nichts, was von ihm je zu Papier gebracht worden ist, läßt sich in einen lediglich artifiziellen Raum übertragen. Mit seinen Gedichten folgte er einem Zwang, den man archaisch oder anarchisch nennen mag, pathetisch, sakral oder utopisch: seine Unbedingtheit, die durch nichts zu verhindernde Notwendigkeit wird jede Charakteristik berücksichtigen müssen. Es sind spirituelle Texte. Hamm spricht von der „frommen Utopie“. Das Gedicht ist der Gebets-Ersatz eines Gläubigen, der nicht gottgläubig war. In dem frühen Text „Am Totenbett der Mutter“ wird es ausgesprochen:

Ich glaube nicht an Gott. Es tut mir leid.

Die Gedichte sind „Erleuchtungen“ der Thoorschen Vitalität, Ausdruck einer Daseins-Heftigkeit, die alles lediglich Literarische, hinter sich läßt, vielmehr den eigenen Ausdruck erzwingt und zwanghaft auf ihn zurückkommt. Sie haben eine eigenartige Aura um sich, eine Schutzhülle, etwas Einfältiges und Sublimes zugleich, etwas Entrücktes und Stilles, eine stille Raserei.
In der Dichtung dieses Lyrikers gab es nichts Indirektes. Was er versuchte, was ihm gelang, war die direkte Umsetzung seines ergriffenen Wesens in das angemessene Wort, auch in das grelle, das „laute“ Wort. Auch das unscheinbarste liedhafte Gedicht, hatte explosive Kraft, hatte eine Wildheit, die es vermochte, in wenigen Zeilen die ganze Biographie zusammenzudrängen:

Ist es so auf Erden?

Bin in die Welt gegangen.
Habe, mancherlei angefangen.
Aber die Leute lachten.

Auf dem Felde gegraben.
Einen Wagen gezogen.
Einen Zaun gerade gestellt.
Tür und Fenster gestrichen.
Warme Kleider genäht.
Hölzerne Truhe gezimmert.
Feine Stoffe gewoben.
Goldenes Ringlein geschmiedet

Was soll nun werden?

Werde nach Hause wandern
und barfuß ankommen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.6.1975

Dem die Seele fror

– Vor hundert Jahren wurde der Lyriker Jesse Thoor geboren. –

Er war viel zu sehr seinen Visionen verfallen, viel zu gehetzt von mystischen Offenbarungen, um als Dichter im Literaturbetrieb bestehen zu können. Der Dichter Jesse Thoor, der mit bürgerlichem Namen Peter Karl Höfler hiess, war kein pflegeleichter Zeitgenosse. Auf der Flucht vor der Gestapo irrlichterte er durch halb Europa und versuchte seine Dichterfreunde, bei denen er unangemeldet aufkreuzte, von der Nichtswürdigkeit des bürgerlichen Daseins zu überzeugen. „Mit ihm zusammen zu sein“, berichtet der englische Dichter Michael Hamburger über ihn, „war eine Gnade und eine Feuerprobe“.

Jesse Thoor, der am 23. Januar 1905 als Sohn eines steirischen Zimmermanns in einem Berliner Arbeiterbezirk geboren wurde, hat sein kurzes Leben lang vergeblich nach dem literarischen Königsweg gesucht. Den vielseitig Begabten, der als Tischler, Goldschmied, Porträtist und Flickschuster verblüffende Fertigkeiten besass, hielt es nicht lange in Berlin. Er zog als Vagabund durch Österreich, Norditalien und Ungarn, scheiterte aber bei seinem Versuch, als blinder Passagier auf ein Schiff zu gelangen. Ohne Geld und nur mit einem Sack voll Kaffeebohnen kam er nach Berlin zurück und exponierte sich dort im Kreis der anarchokommunistischen Schriftsteller um Erich Mühsam und Joachim Ringelnatz. Thoor trat der Kommunistischen Partei bei, zog es aber vor, Paradiesvogel zu bleiben, statt Parteisoldat zu werden. In der Schweiz suchte er 1936/37 den Kontakt zu Thomas Mann, der ihm, anders als später T.S. Eliot in London, Gehör und Aufmerksamkeit schenkte. Von den Nazis gejagt, floh Thoor über Österreich in die Tschechoslowakei, wo er eine Porträtbüste des tschechischen Staatspräsidenten Eduard Benes anfertigte. 1939 erreichte er mit einer Empfehlung von Franz Werfel in der Tasche London, wo man ihn nach einer Denunziation durch die KP internierte. In dieser literarischen Frühphase schreibt er plebejische Balladen und Trinklieder in der Manier Erich Mühsams:

Von meinen ärgsten Feinden aber nenne ich nur drei: –
Das sind die Fabrikanten, und das sind die Pfaffen der Partei.

In seinen Londoner Jahren wandelten sich seine „Irrenhaussonette“, „Reden“ und „Rufe“ zu christlich-verzweifelten Lästergebeten. Ab 1949 gelingen Thoor einige ergreifende Gedichte von der Verlorenheit des ewigen Exilantendaseins:

Ich, der Dichter Jesse Thoor –
dem Zünglein, Zeh und Ohr
und die Seele fror!

Seine Rückkehr nach Österreich im Sommer 1952 hat Thoor nicht lange überlebt. Er starb am 15. August 1952, nachdem der Rekonvaleszente, gerade von einer Herzthrombose genesen, die Warnungen der Ärzte in den Wind geschlagen hatte und zu einer Bergwanderung aufgebrochen war. Es ist Michael Hamburger und Peter Hamm zu verdanken, dass die Spuren dieses Dichters, der zu Lebzeiten nur ein einziges Büchlein mit Sonetten veröffentlicht hat, noch nicht ganz verweht sind. Eine neu aufgelegte Bibliothek-Suhrkamp-Auswahl aus dem Jahr 1975 (mit einem kundigen Nachwort von Peter Hamm) hat nun die Rückkehr des ketzerischen Mystikers Jesse Thoor ermöglicht.

Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 22.1.2005

Ein Leben im Exil

Peter Karl Höfler, alias Jesse Thor, ist ein großer Unbekannter der deutschen Literatur, aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er führte ein Leben bei dem er von einem Exil ins andere gelangte. Er führt ein Leben im Exil als Exil. Er war stets auf der Suche nach der formvollendeten Menschenwürdigkeit. Seine Gedichte sind einerseits von einer ungeregelten Sentimentalität geprägt, andererseits wiederum voll infantiler Gottgefälligkeit.

Carl-Heinrich Bock, amazon.de, 25.5.2005

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Cornelius Hell: Proletarische Mystik
Die Furche, 27.1.2005

 

NOCTURNE FÜR JESSE THOOR

ich hatte kontakt zu einem heiligen
in hohen, fettglänzenden
schuhn

er ließ sich von seinen füßen tragen
in würde, er entleerte sich
in der früh in würde

so war er.

die toten amseln fielen von seinen
schultern, wenn er
sich zuckte

er rieb seinen schwanz an den mauern
der häuser, wenn es
ihn juckte

und roch nach frischem sperma
und rosmarin, wie
ein könig

so war er.

die zahmen häuser peitschten
seinen scheitel auf, bis
er lachte

die schenkel der triangeln glühten,
wenn er es ihnen
machte

so war er.

rasend schnell, und schlaflos, und
expressiv, als er mich
im vorübereilen

segnete und sagte: „iss deine
pizza, herzchen
und stirb!“

Andre Rudolph
(hier gelesen vom Autor)

 

 

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