Jiří Gruša: Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jiří Gruša: Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall

Gruša-Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall

DAS GESICHT
ODER ÜBER DIE PRÄTENTION DER DICHTER

Als ich vor einem Jahr das Angebot bekam, in Dresden sprechen zu dürfen, war ich erfreut und dann verdattert.
Ich und Poetik? Ich und Fachgerede, das Fachsimpeln eines Poeten, der ja eigentlich – falls er gut ist – keine Erklärungen vermittelt oder preisgibt. Warum also noch diese Verzweigung des eigenen Werdens? War ich nicht bereits fremdgegangen – als Diplomat, ja Minister? Habe ich mich nicht gegen meine eigene Tendenz und Prätention versündigt, indem ich mich die vielen Jahre mit dichterfreien Dingen beschäftigte – und mich der Politik manchmal sogar begeistert hingab – obwohl ich sie ursprünglich haßte? Und gegen sie in die Schlacht gezogen war?
Ja, Sie hören richtig, ich wollte Dichter werden – und basta!
Noch immer in jener kakanischen Manier verheddert, mit der der Jüngling Rilke, schwarz angezogen und verträumt über den Prager Graben lief, dem Passantensturm entgegen, mit einer Iris in der Hand.
Die tschechische Literatur – und darunter die Lyrik, als ihr vielleicht am besten entwickelter Teil – hat in der Zeitspanne, deren Ende Rilkes Erscheinen in Prag markiert, eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Sie befreite sich von ihrem heimatlichen Rahmen und startete ihr kompatibles Leben in Europa. Sie hat den Fluch der Kleinliteratur abgelegt. So nannte das Kafka ungefähr zur gleichen Zeit in seinem Tagebuch: sie sagte sich von der patriotischen Nützlichkeit los, den Mini-Themen und der Geborgenheit im Kleinkarierten, fing an, unmittelbar zu agieren, erwachsen und weltläufig zu sein. Sie hat ihren Stolz durch ihre selbsttragende Leistung erworben, dem jedoch jetzt die Nachkriegszeit, die meinige, zuzusetzen drohte.
Nach dem Symbolismus, Expressionismus, Surrealismus etc. kam das Protektorat und mit ihm die neue, begreifliche und in den besseren Texten nicht nutzlose Pflicht des Außerliterarischen. Diese direkte, diesmal freiwillige Utilitarität wurde bald darauf zu einem nur halbwegs erzwungenen Dienst am Volke.
Nach 1948 kamen fast 50 Jahre Diktatur, und meine Generation kriegte den vollen Anprall ab. Die sukzessive, aber konsequente Säuberung der Bibliotheken, Lehrpläne und Biographien, ja, die Beseitigung des Gymnasiums als traditioneller Brutstätte der kakanischen Dichter (ungeachtet der Sprache und Orientierung nach Ismen), schufen ein Biotop totalitärer Schwüle. In einem Sprachraum wie dem tschechischen, der keine großen Ausweichmöglichkeiten bietet, kann so ein Schlag gründlicher und grausamer sein, als anderswo. Und seine Folgen tiefer als in den Sprachen, die man machtpolitisch nicht im ganzen besetzen kann.
Als meine Freunde und ich im Tauwetter nach Stalins Tod unsere ersten Veröffentlichungen hinter uns bringen durften, waren wir viele und wollten einen neuen Start. „Saubere Hände“ taufte ich das bei meinem ersten öffentlichen Auftritt… und holte mir die erste Ohrfeige. Und trommelte Kollegen zusammen, hielt Reden, schrieb Entwürfe, absolvierte Nachtdiskussionen in meinem Minizimmer zur Untermiete. Leidenschaftlich und diszipliniert zugleich. Man brauchte ein organisiertes Handeln. Es ging um eine Zeitschrift. Es ging darum, das Gesicht zu zeigen. Unser Gesicht.

Sie sollte auch so heißen… Tvář.

Als es so weit war, kam ich mir wie bei einem der Wunderstücke bei den Salesianern in Pardubicz vor. Solches geschah auf der Klosterbühne meiner Geburtsstadt. Die Toten pflegten aufzuerstehen, Engel stiegen vom Himmel herab. Meine Laiengruppe war dabei. Ich sang mit Engelsstimme „Hallelujah“ und grinste das Publikum an. Einer der engsten Mitstreiter in der Causa Tvář war ebenfalls ein Theaterlaie aus Pardubicz, den ich einst als Kater Mikeš bewundert hatte. Jetzt schrieb er, wie ich, Verse in Prag und sollte etwas Profihaftes tun: Einen Chefredakteur benennen. Einen Kommunisten, verstehe sich. Die Partei lockerte zwar ihren Würgegriff, doch uns so ohne weiters agieren lassen wollte sie wohl kaum. Wir waren parteilos. Pištora, weil schon seine Eltern zu den Ur-Soz-Demokraten zählten und die Nazis aufgrund dieser Tatsache seinen Vater erschossen hatten. Ich, weil ich es ablehnte, als bei den Verhandlungen das Angebot kam. Übrig blieben also nur zwei salairfreie Jobs und die Pflicht, nach einem „soudruh“1  zu suchen, der ka’ Schwein woar.
Keine leichte Sache in unserem Freundeskreis. Lauter Nichtmitglieder! Aber wir hatten Glück und der Start von Tvář war mächtig. In einem halben Jahr handelte ich mir eine gesamtstaatliche Polemik, eine Ermittlung wegen Spionageverdachts, eine Untersuchung des Schriftstellerverbandes, und eine Staatsanwaltsrüge ein, vorgetragen im Knast. Und im Herbst lag ich mit einem Magendurchbruch im Krankenhaus, stellungs- und freundelos, aber mit Poetik. Man könnte diese erste Rede bei Ihnen als eine Abhandlung über die Prätention des Dichters auffassen.
Die „mani politi“ brachten mir eine „lingua pulita“, die Sprache frei von politischer Pollution der Ära. Den Ausstieg aus der Diktion der Diktatur. In einem nicht allzu guten Gedicht von mir rief der Dichter: Hin, nach Ikarien!
So nannte ich das Asylland, das Traum cerricorium, in dem ich meinen Antrag stellte. Hier übten die Söhne zuerst den Flug und dann vielleicht den Sturz. Unter dem heimischen Daedalus wurde niemand flügge. Hier kam der Sturz dem Fliegen zuvor. Unser Daedalus erfand die „objektive Realität“, die Welt als Laboratorium des Neuen Menschen, und experimentierte ausschließlich im Bereich des irdischen Kriechens, verfaßte unzählige Bücher hierfür, den „Diamat“ und „Histomat“, Kodexe des Wissens, Register des Handelns und Kanones des Schreibens.
In Dresden weiß vielleicht noch jemand, was die Kürzel wollten. Unlängst in Hietzing hielt das einer für Durchfall- und Hustenbonbons. Oh – wie gesund! Aber zu meiner Zeit steckte dahinter der Materialismus, die dialektische und historische Deutung des Alls. Und der Realismus – als verbindliche Methode der Künstler. Als ich dies schrieb, nahm ich ein Büchlein in die Hand, ein Lehrbuch des Dogmas von damals. Und war erschrocken. Ein gedanklicher Kopffurz schlechthin. Die Art zu reden klang so unwirklich, daß ich mich wunderte, ihr je feindselig begegnet zu sein. Ich tat mir leid, die Erfinder und Wiederholer eingeschlossen. Ja, der ganze Streit schien mir nunmehr sinnlos. Ein Ringen mit dem Nichts macht auch die „Matchwinner“ zunichte.
Sie aber fragen nach der Poetik, und da ich außer der meinigen keine andere verstehe, setze ich also fort.
Sie fing mit der Abscheu an – der „objektiven Realität“ gegenüber. Diesem mörderischen Ismus mit seiner Magna Mater Materie, die sich, angeblich ganz losgelöst, in mir wiederspiegeln sollte. Doch gäbe es sie so, dürfte ich meinen Widerwillen spüren? Und durfte ich dann zweimal oder dreimal das Gegenteil vernommen haben. Unwiderstehlich, ja blasphemisch – war ich mir doch sicher: Ich sei das Auge der Welt! Auf einem Berg in Mittelböhmen. Und später in der Zelle nach der Verhaftung. Das Schreiben also bloß als Teilnahme an einer planmäßigen Weltverwandlung? Nein, danke! Ich konnte das physisch nicht. Ich wollte Konfigurationen, die niemand vorzusagen hat und kein anderer erlebt. Die zu erkennen und festzuhalten sind. Verlangsamung der Blitze. Subjektive Realitäten im Zusammenspiel, ein Netz der Sinnbindung, Knoten, Kontexte.
Axiomatische Absurditäten, wie diese – erneut in Pardubitz. Dort also, wo das ganze begann. Ich mußte wieder hin. Wieder zu den Salesianern. Einst aufgehoben, beschlagnahmt, jetzt restituiert und wieder eingezogen. Die Nacht- und Nebelaktion anno 1950 prägte mich sehr. Alle Insassen wurden verschleppt. Ich stand da, vor der versiegelten Tür, und wußte: hier geschah etwas Böses. Mit ein paar Jungs der Laienriege schlich ich mich in das Oratorium und nahm Schauspieltexte weg. Wir übten nämlich ein Drama aus der Lepraserie, in die sich ein Heiliger verirrt und alle heilt. Unter den Papieren befand sich ebenfalls ein Stück, das ein junger Priester speziell für uns geschrieben hatte. Eine Komödie aus der Vorstadt, über eine ähnliche Gruppe wie wir selbst: Gut Ding will Weile haben. Es fehlte nur der letzte Akt.
„Schade!“ sagte ein Miteinbrecher, der heutzutage auf der größten Bühne Prags seine Rollen mimt. „Wir hören also auf.“
„Laßt uns das selber schreiben!“, machte ich den Vorschlag, und schuf somit mein erstes Werk und meine erste Premiere. Schöpferische Streber vortäuschend, durften wir das Opus dann doch zum Schuljahresende in der Turnhalle spielen.
Fast fünfzig Jahre später – saß ich also noch einmal am Tatort und las in meinem Leben. In einem Flügel der Klosteranlage hat sich ein Amt eingemietet, das das Vergangene noch einmal schmerzen läßt. Das Aktenarchiv der Staatssicherheit. Und für eine dicke Gebühr erlaubt eine elegante Dame der Lokalpolizei den Dokumenten, auf dem Bildschirm zu erscheinen. Innereien der Petzerei! Meldungen, Analysen, Beobachtungen und Anordnungen. Eine lange Reihe von Untaten. Und dennoch kürzer als ursprünglich verfaßt. Am 5.12.1989 ordnete man schon den Reißwolf an. Da hockte ich noch im Auto an der Grenze, mit einem Visum für das Geburtsland. Nach vielen Exiljahren habe ich also mit keiner Lektüre mehr gerechnet, bis irgendein Bastler einen Mikrofiche entdeckte, mit belebbaren Resten eines Tvář.

Eines Objekts namens Gesicht = so wie man mich führte.

Von 1962 bis 1989 machte mich ein Staat, der sich mit der Herstellung der objektiven Realität beschäftigte, zum Objekt der Gängelung. Wir hießen Objekte: Das Objekt verschwand im Hause und kam um 15 Uhr zurück; oder: Sie grüßte das Objekt ganz freundlich. Im Tschechischen klingt es noch verräterischer, da die Sprache zwischen den unbelebten und belebten Substantiva unterscheidet und beide anders dekliniert.2 Diese Berichterstatter, ungeachtet der grammatischen Sachlichkeit, entschieden sich für das Belebte. Man würde sagen: für das Erst-zu-Tötende. Eine beklemmende Klarheit. „Der Objekt schlief, die Objekt rannte“, würde sich das deutsch vielleicht anhören. Und immerfort, ununterbrochen in dieser Manier. Als die Russen 1968 einmarschierten und ihre Propaganda das Ritual der Rechtfertigung angekurbelt hatte, bemerkte W.H. Auden auf seine sarkastische Art: „An ogre“, der Riese-Menschenfresser, „can everything, but speaking does he not“.3
Er hatte recht. Aus dem Mund der Kannibalen kam es jetzt zurück: unverdaute Teile meines Lebens. Das Menü war so scharf, daß ich um eine Pause bat. Um einen Kaffee zu trinken, bei meiner Mutter. Sie wohnt noch immer an der Ecke in unserem Häuschen. Hier in den Straßen habe ich Fußball gespielt, wurde zum Meßdiener in der Wenzelskapelle, begleitete Begräbniszüge zum Stadtfriedhof… und vierhundert Meter von hier, da liegt meine Sippe – und mein erstes Mädchen, grausam vor diesem Kloster überfahren von einem LKW. Und auch der Pištora, Jiří wie ich, der, als die Russen kamen, nur litt, dann durchdrehte und Freiheit wählte – durch Gas.4
Mit ihm zusammen schrieb ich das Editorial für die erste Tvář-Nummer. Und sein Spruch: die Realität gilt immer, Literatur aber nur ab und zu – dies führte mich zu meiner ersten Betrachtung der Poetik, in einem Text – „Realismus als Sittlichkeit“ – veröffentlicht.5 Kurz darauf machte ich den ersten tschechischen Nachkriegsvorstoß, das Ido der Ideologie zu verpassen. Bislang waren all die Versuche, etwas zu verbessern, nur rein reformistisch – d.h. innerhalb der Kunstsprache unternommen (es gab sie aber und ohne sie wäre unser Bemühen kaum denkbar). Sie benutzten das Dia-Histomat-Vokabular und irrten im Kreise. Ich dagegen meinte: Die Realität gibt es zwar und vielleicht auch objektiv, doch was wir darin sehen, was wir aus ihr wählen, ist unser. Ist eben eine Wahl. Individuell und nicht zu ersetzen – wie ich das nannte – durch institutionelle Bestellung. So fing die Poetik an. Erweitert, ja gestärkt durch einen anderen Text von mir, veröffentlicht in einem Wochenblatt, als Diskussionsbeitrag, mein erster und letzter in dem Gemetzel, das sich mehr als ein Jahr hinzog und sich mit der Lyrik der fünfziger Jahre beschäftigte.
Ich war fünfundzwanzig, und bestand auf meiner eigenen Kompetenz der Namensgebung. Denn was ist ein Gedicht, wenn nicht ein Name für eine Konfiguration, die jemand sah und einmalig empfand? Was nicht existiert, erinnert sich nicht. Auch dieses deutsche Wort – Erinnern – hat mich immer fasziniert. Nicht unsere „vzpomínka“, nicht „memory“ oder „remember“… Erinnerung. Ich glaubte stets, die ganze Flexion zu hören: er innert, sie innert, es innert… diejenigen, die „innern“, sind eben anders als die, die nur äußern! Die „objektive Realität“ war die der „Äußerer“. Sie dachten, alles äußern zu dürfen, ohne es zu „innern“.
Ich spürte – auf jenem böhmischen Berg der „Innerung“ – daß ich ein Eintrag im Seienden bin, kein Werktätiger, wie wir alle als Objekte der Massenhaltung im irdischen Paradies unserer Genossen hießen. Wenn schon, dann war ich ein „Worttätiger“. Das gefiel mir besser, dort auf dem Hügel anno 1962 in der Morgendämmerung. Ich wollte mir allein die Sonne anschauen, und plötzlich wußte ich: Ich habe ihre Augen.
Die Namensgebung ist alles. Ein Eintrag im Seienden, ein Knoten – wir sind wieder bei den Dichtern. Das Spurennetz brauchte Synopsis – diese und keine andere. Und du hast es geschafft. Du bist selber die Synopsis, es ist ein Relais. Nur so kann die Vergangenheit erhellt werden. Durch dich. Und wir bekommen immer neue Beleuchtung dessen, was war und ist, da auch die anderen leuchten.
Was ich schildere, war kein prophetischer Aufstieg zum brennenden Busch. Ich kam mit keiner Tafel zurück. Im Gegenteil: das Prophetische ist mir suspekter geworden. Auch dieser Staat, der alles wußte und alles durfte. Auch er stützte sich auf heilige Texte und die Kompetenz der Glaubensboten. Ich habe den ständig wahrsagenden Tick der verstaatlichten Zukunftsträger einfach nicht gemocht. Und dieser Einfall auf dem Berg war Gruša-bedingt: Er meinte Selbstrettung – kein Heil der Heimatsuche.
Jedenfalls schrieb ich dann andere Gedichte. Die Sprache der Diktatur wurde mir klarer. Ihr Gehabe, wie sie auf das Sanktionieren und Sanktifizieren der Zustände zielte.
Ein Wort wie „Revolution“ oder „Partei“. Es war heilig. Besonders Zielnamen, wie der „Morgen“, „Volksdemokratie“ und „Plan“, waren opulent. Mich hat interessiert, ob solche Worte ohne jede Wirklichkeit auskommen können.
Ja, gewiß! Es reicht, sie aus dem Alltagsumgang wegzuschaffen. Sie dem Prüfstand des Gesprächs zu entziehen – und schon funktioniert es. Wer ihre Inhalte zerredet, wird auch so weggeschafft. Dann reicht es nur, die neuen Namen zu beschwören, auf den Massenseancen des Völkischen, oder sie in jene trockenen Schmöker hineinzupressen, wie Diamat und Histomat.
Nur eben sich nie auf das breite Feld des Alltäglichen einlassen, das sich zwischen dem rein Mechanischen und rein Magischen befindet. Zwischen den Zahlen und der Zauberei!
In diesem Sinne war mein Staunen über die Sprachwüste des Histomat-Diamat doch noch voreilig. Die Gefahr dieser Texte bestand genau darin. Sie mimten die Klarheit der wissenschaftlichen Kenntnis, Faktizität dort, wo Verifikation hinmüßte. Sie sorgten für die Unbestrittenheit der Sache, die nur realisiert zu werden braucht, nicht diskutiert. Mythen und Epen unserer Zeit sind „wissenschaftlich“ verfaßt worden. In dem „esperanto of science“ à la Kapital. Unter den vielen Verfechtern, ja Polemikern der Marxisten, mich eingeschlossen, erlebte ich keinen, der das Buch zu Ende las. Wäre Marx bei der durchschnittlichen Dichtung seiner Schuljahre geblieben, hätte er keine Fans gehabt. Sein geniales Stück bestand darin, daß er als einer der ersten verstand, in welcher Sprache die Ilias des Zeitalters „of science“ zu dichten ist.
Und wir wollten, ich wollte es besonders. Die Texte entprophetisieren. Ich sah, ja, ich sehe teilweise noch heute eine dichterische Aufgabe darin, Imperative und Ausrufezeichen zu meiden. Die Sprache als Gespräch zu erfassen. Sie ist es doch, sie ist selbst in ihrem Wesen stets ein Reden untereinander. Selbst wenn es sich nur um ein Vier-Augen-Gespräch handeln sollte, an das ein gutes Gedicht erinnert. Das Absolute verhindern, die Namen ohne Halt – ich kenne keine, die nicht morden möchten.
Die, die miteinander sprechen, senden unzählige Signale aus, die nicht immer adressiert sind. Der Empfänger muß suchen. Die Paradoxie des Gedichtschreibens meint: sich als Empfänger zu fühlen, der seine Nachricht erkennt und nimmt. Das geht nicht ohne Risiko der Ortung. Darum bist du als Dictor/Dichter nicht anonym. Denn das Gefundene will garantiert werden, will einen Namen tragen. Und aus dem gleichen Grunde lieben Machthaber Anonymität. Besonders Diktatoren, monologisch und allein. Schlafen jede Nacht in verschiedenen Zimmern, züchten Doppelgänger und Angst. Ihre Sprache kennt nur Adressaten.
Mein Erlebnis der „Innerung“ dagegen beinhaltete: die Zerbrechlichkeit der Welt, die Aufhebbarkeit des Geistes – und das Wunder der Sprache. Sie als einzige fliegt in die Gegenrichtung. Mit beängstigendem Blick sah ich unsere Häuser als ein verlangsamtes Bröckeln, vertagte Ruinen an, und die Diktatoren als Boten des Zerfalls. Doch daß noch etwas steht und daß es stehen wird, ist das Werk der Kommunikation, ein Gespräch, ja ein Gedicht, wenn Sie so wollen.
Wir sind keine objektive Realität, sondern Realisten vieler Subjektivitäten. Der Rahmen entscheidet. In Tvář sagte ich – Auswahl. Wir wählen aus – aus dem Reservoir, das wir selbst sind, vergleichen und ergänzen. Kodieren ein und speichern. Wir sind eine Stufenerfahrung. Erfahrung und Gefahr hängen nur im Deutschen zusammen. Aber sehr folgerichtig.
Ich sah eine Insel. Insel der Wahrscheinlichkeit, nicht der Wahrheit. Und eine Regel schwebte mir unprophetisch vor: Du wirst dir ein Bildnis machen! Du wirst das diktatorische Diktum verlassen, denn ein Dichter kann im Unterschied zum Diktator nicht als Widerspiegelung dieser oder jener Absolutheit leben. Er wird Gespräch (schön hölderlinisch, nicht wahr?). Er kann gar nicht aus dem Stoff seines Schaffens austreten (wie Maler oder Musiker). Sein Stoff – die Sprache – ist nie zu versachlichen. Es gibt hier kein Subjekt-Objekt-Gehege. Darum kann man ein gutes Gedicht nie richtig deuten, es be-deutet, ist vielschichtig und nie allein.
Rilke, der Prager, schrieb einst: Nichts gab es, bevor ich es sah. Ich hätte gesagt – mit meinem Bergerlebnis im Hinterkopf: Mich gab es nicht. Es wird noch alles geben.
Die Kaffeepause war vorbei. Der Bildschirm wartete. Noch hundert Seiten im Schnellauf. Kaum lesbar, die Blattränder wie angebrannt. Man sieht, die Negative waren schlecht.
Langsam wurde ich der Hasser müde. Und beruhigt, keine große Überraschung mehr zu erleben. Dann leuchtete die Schrift noch einmal auf – und ich sah Jirka: Jirka Pištora. Man schilderte sein Begräbnis. Und mich dabei – in den harten Tagen 1970. Er war der erste Tote in einer langen Kette von Selbstmorden – und Selbstaufgaben. Mir aber am nächsten. Wir Theatertiger, Gymnasiasten und Redakteure, längst rausgeschmissen, denn die Säuberung war gründlich. Auch er verlor alles, die Ehre, den Leumund, den Beruf. Wir begegneten uns oft. Doch er sah die Dinge düster. Ich nur schwarz. Ein Unterschied – ein lebenswichtiger. Doch hatte ich das Gefühl, ich könnte ihn umstimmen. Das Gymnasium in Pardubitz wurde 50 – und wir beide – noch seine bekannten Schüler. Er zögerte, dann aber wollte er doch mit. Und es wurde ein wunderbarer Abend. Mit Wein und Musik, Mädchen und Mentoren von einst. Er jedoch fehlte. Ich wurde nervös – fuhr dann voller Furcht nach Prag zurück und fand ihn nicht zu Hause, sondern im Leichenhaus. Diese Erinnerung kehrte oft zurück. Selbst in Deutschland noch – in meinem ersten und zweiten Buch:6

DER JIRKA AGAIN
(ausgestiegen 1971)

Der da des öfteren saß, die rechte nach
vorne, zwischen den fingern ein stäbchen,
die augen verkniffen, voll sorgsamen
schauens der MEISTER DER BÄUME AUS QUALM,
der mit der winzigsten geste rauchringe
schuf, zu erlen sie machte, zu laubholz
und diesem brodelnden wald unerforscht
fremder platanen, unwirsch und
unglaublich breit, mit einem schatten sehr
sterbensfroh…

Der Agent, dessen Name mir nicht viel sagte, beschrieb unsere Trauer in deftigen Worten. Stilistisch gar nicht mal so schlecht. Ich fand da sogar meine Rede nacherzählt, die ich am Grabe hielt: „Worauf sich heute ,Mensch‘ bezieht“, rief ich in die Menge, „schweigt. Jiří Pištora hat an die Kraft der zerbrechlichen Dinge geglaubt, damit sie weiter ihre Kraft behalten – darum ist er tot, und wir ,loser‘ ohne ihn.“
Nun, der Spitzel machte mich dann zur Schnecke. Seinem Bericht nach hätte ich äußerst provokant gesprochen, und dabei nicht strafbar. Eine schlimme Tücke. Das soll verhindert werden, und zwar ab sofort. Er hat die Zukunft (aus dem Stamm der Staatspropheten kommend) richtig gesehen. Es war das letzte Mal im Land für beinahe zwanzig Jahre, daß ich vor einem Publikum gestanden war. Axiomatische Absurditäten – hier schloß er sich, der erste Kreis meiner Poetik. Vom ersten Auftritt bis zu diesem letzten. Gut Ding will Weile haben. Es hat sie bekommen. In Pardubitz gibt es eine Straße, keine Avenue – sie heißt „Unter den Birken“; und an ihrem Ende liegt das Grab von Jirka. Ein Katzensprung entfernt vom Bildschirm, von all den Worten der Stasi-Deklination. Ich knipste ihn ab und machte mich auf den Weg zu meinen Toten.
Mein späteres Gedicht, wieder deutsch geschrieben, kam mir in den Sinn:7

Gutgelaunt
läßt er jetzt
frischgefiederte verse
undatiert wachsen
in seinem treibhaus

am morgen
erneut erfreut
über das endlose
ihres gepiepses

 

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe anwesende Freunde, sehr geehrter Jiří Gruša,

ich bin von der Universität gebeten worden, der 2. Dresdner Poetikdozentur zur Literatur in Mitteleuropa, die an den Schriftsteller und jetzigen Botschafter der Republik Tschechien in Wien, Herrn Jiří Gruša, vergeben ist, eine kleine Einleitung voranzustellen. Und ich habe „Einleitung“ in zweifachem Sinne verstanden, einmal als Einführung, besser noch „Hinanführung“ des vortragenden Autors an sein Publikum, als auch sein Hineinführen, möglichst behutsam, in eine ihm unter Umständen nur wenig bekannte Landschaft, die politische eingeschlossen. Es gebietet mir die Höflichkeit gegenüber unserem Gast Jiří Gruša, unter dem zweiten Aspekt zu beginnen: Hineinführen also in eine, diese unsere, gegenwärtige Landschaft.
Vor etwa zwei Jahren, im November 1996, nahm ich an einer Podiumsdiskussion in der Alten Nikolaischule zu Leipzig teil, die unter dem Thema „20 Jahre Ausbürgerung von Wolf Biermann“ stand. Mit auf dem Podium saßen unter anderen der Schriftsteller Werner Heiduczek und mein im vorigen Jahr verstorbener Freund, der Liedermacher Gerulf Pannach. Im Saal waren auch und nahmen an der Diskussion teil in der DDR verfolgte und gedemütigte Autoren wie Horst Drescher und Roland Erb. Ich habe dort von Ihnen, lieber Jiří Gruša, einen Satz zitiert, der mir nicht nur an diesem Abend übelgenommen wurde, sondern den zwei Tage später die Leipziger Volkszeitung wiedergab wie folgt: Ich würde behaupten, ein gewisser Juri Krusa (der Vorname in der Mitte mit „u“, der Nachname am Anfang mit „K“) hätte gesagt, die DDR-Autoren würden sich seinerzeit von ihren tschechischen, polnischen oder ungarischen Kollegen vor allem darin unterschieden haben, daß sie nicht bereit gewesen wären, auf das bezahlte Wort zu verzichten. – Soweit zur überwiegenden sächsischen Presse. – Abgesehen davon, daß die Tatsache Ihres von mir zitierten Satzes mir und nicht Ihnen angelastet wurde, hatte der Schreiber des Artikels diese zur bloßen Meinung umgefälscht, nach Hannah Arendt eine typische Umgehensweise mit mißliebigen Argumenten, der einfachste Weg nämlich, sie zu umgehen. Daß es inzwischen ein Hannah-Arendt-Instirut hier in Dresden gibt, dessen Aufgabe darin besteht, Totalitarismen und ihre in der Realität vergangenen oder gegenwärtigen Strukturen zu erforschen, halte ich für eine glückliche Tatsache, die ebenfalls zu der Landschaft gehört, die ich Ihnen nahebringen möchte. Aber eben auch, daß ein Kollege und Freund, wie ich nach der „Wende“ aus Westberlin nach Sachsen zurückgekehrt, in einer mittelgroßen Stadt am dortigen Theater beim Intendanten vorspricht, einige dramatische Arbeiten von sich vorlegt und wieder geht. Einige Minuten danach klingele das Telefon in der Intendanz, und der Bürgermeister der Stadt verlangt ein genaues Gesprächsprotokoll über den Besuch des Autors. Hinzu kommt, daß der Bürgermeister selbst Künstler ist und einigen zentralen sächsischen Gremien vorsteht; der Intendant jedoch lehnt diese Art von Zuarbeit ab, mit den eher erschrockenen als spöttischen Worten: Ist es schon wieder so weit? Es ist immer noch so weit, ist meine Antwort, und auch ich bin erschrocken und ratlos bis in die Seele, wenn eine jüngere, begabte sächsische Autorin, von der ich sicher bin, daß sie mir nichts Böses will, sagt, sie könne es nicht mehr ertragen, wenn bei einer Einführung zu einer gemeinsamen Lesung als biographisches Detail genannt würde, daß ich wegen meiner Gedichte im Gefängnis war. Offenbar hat sie diese Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder vielleicht nicht aushalten können. – Oder ich sehe in meiner kleinen Stadt einen Lehrer mit einem Netz lustiger bunter Bälle über den Marktplatz gehen; hat er vor 20 Jahren eine junge Frau, die mit meiner Tochter schwanger ging, ins Gefängnis gebracht, weil sie das Buch Krebsstation besaß und verbotene Texte von Reiner Kunze abtippte? – Überredet eine Professorin an der TU Chemnitz eine polnische Studentin, eine angestrebte Magisterarbeit über Reiner Kunze (übrigens ein Solitär als Vermittler zwischen den Kulturen Tschechiens und Deutschlands) nicht zu schreiben, da Kunze ein „letztrangiger und eher unbekannter Schriftsteller“ sei, darüber hinaus ein Mensch von niedrigem Niveau, der an der Grenze zur Psychopathie stünde, denn er habe Akten veröffentlicht, um anderen zu schaden? – Oder ein Angestellter der Telekom klingele bei mir und will sich um den Kabelanschluß kümmern, ich erkenne ihn sofort als den, der vor Jahren über ein Dutzend Telefongespräche von mir abgehört hat; ich fand sie säuberlich notiert in den über mich angelegten Geheimdienstakten. – Oder wer lehrte bis vor kurzem an der Universität in Pilsen Kinderliteratur, hat dieser deutsche Professor die Luthergemeinde in Zwickau mit unterwandern helfen und wurde ausgezeichnet, hat dieser Professor vielleicht gar kein Abitur, sondern seine Karriere ausschließlich seinem angepaßten Leben in der kommunistischen Diktatur zu verdanken? – Und alle schweigen. Denn das ist ja das Markante an dieser Landschaft, die ich zu zeichnen suche, daß über eine Diktatur ein demokratisches System gestülpt wurde, wie auch nach der ersten deutschen Diktatur, und daß dies keineswegs bereits angenommen ist, geschweige denn aktiv durch die Mehrheit der Menschen gelebt wird. Nur die Attribute haben, so scheint es mir, gewechselt, aus „sozialistisch, real-existierend“ wurde „demokratisch und machbar“. Es nimmt mich wunder, daß die abschließende Briefformel nicht schon „mit demokratischen Kampfesgrüßen“ lautet, das würde nämlich der ignorant-arrogant-manifesten Stimmung der von mir gezeichneten Landschaft am ehesten entsprechen. Nun läuft Sachsen vielleicht nicht gerade Gefahr, das Zweite Rom der neuen Bundesländer zu werden, aber schaut man nach Berlin, etwa an die Ecke Leipziger Straße/Potsdamer Platz und hat Hannah Arendrs andere Worte vom besinnungslosen Tätigsein der Deutschen nach dem Kriege noch im Sinne, ist es vielleicht schon wieder zu spät, erschrocken zu sein. Oder spätestens dann, wenn man an die Entwurf-Monster aus Stein denkt, die ein „Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“ werden sollen. Da freut es mich schon, wenn jetzt aus Dresden ein humaner Entwurf zu solch einem Mahnmal nachgereicht worden ist; ein Wäldchen, darin auf ein Zentrum zulaufend, eine Deutsche Klagemauer, die, so ist es gedacht, sich mit den Jahren durch Flugpollen sozusagen begrünen wird. Und doch sehe ich auch in Dresden die Fortsetzung der preußischen Gigantomanie in anderer Weise, von meinem Kunstgeschichtsstudium her weiß ich noch, daß man diese Art von Sanierung, wie sie sich vor aller Augen vollziehe, architektonische Antiquitätenfälschung nennt. – Beschreibung einer gegenwärtigen Landschaft. Was gehört noch dazu? Was muß ich Ihnen, lieber Jiří Gruša, noch einführend von dieser Landschaft, die meine Heimat ist, erzählen? Denn ich finde es legitim, daß ein Kollege dem anderen den Hintergrund malt, vor dem der andere zu Gast weilen wird, um über Poesie und von seiner Poetik zu sprechen. Vielleiche noch etwas über die Angst der Menschen, die sich vergißt, weil sie in der Erinnerung leicht wird, jedoch vor wenigen Jahren noch das tägliche Aonen ausmachte, das eher einem Ersrikken glich. Ganz gegensätzlich zur Liebe, die immer schwer wiegt, im Gegenwärtigen als auch in der sichernden Reflexion. Aber das weiß der Autor Jiří Gruša selbst, weil es überall so ist, das muß ihm keiner erklären. – Und neue Ängste sind hinzugekommen, hier, und haben die alten überlagert, auch deshalb, weil Politik über Menschen sich anmaßte, in einer verheerenden Verkürzung diese Menschen mit ihren maroden Produkten und Arbeitsstätten gleichzusetzen. In Prag jedenfalls soll es kaum Arbeitslose geben – aber weniger Ängste?
Dann noch – der Hinweis für Sie, auf eine in Dresden erscheinende Literaturzeitschrift mit dem Namen OSTRAGEHEGE, die 1993 gegründet und – auch dies gehört zur Landschaft – vom Sächsischen Kunstministerium großzügig gestützt, nach knapp fünfjähriger Existenz unter die vier besten Literaturblätter Deutschlands gewählt wurde. In aller Bescheidenheit. Schon das Heft 2 hatten wir schwerpunktmäßig der tschechischen Literatur gewidmet. Es finden sich darin Namen wie Ivan Blatny, Jiří Orten, Konstantin Biebl, Jan Skácel, Jaroslav Seifert, Jan Zahradníčk, Ludvík Kundera, Antonín Brousek, Peter Ambros, Tomáš Kafka, Jáchym Topol, – und es gibt ein Gedicht darin von Jiří Gruša. Ich will es vorlesen, es hat den Titel „Freimal“:

… wieder am ort, wo mir dinge
passiere sind, urige dinge im spiel, der
mondkönig kommt, mein bruder – er will
meine krone…

ich bin der herrscher des tagsterns
und drehe mich um, unsere reiche zu
tauschen, es muß also herbst sein, wespen
lassen sich nieder, begatten das fallobst;
es werden firnis und honig gemacht

und aus dem landhaus tritt meine
mutter mit flackerndem haar, hellichte
mutter und ich – ich warne: du loderst,
doch sie ist sorglos, sie lächelt

es stehen in flammen: das dach, der
schuppen dahinten und dieser lange schon
schwellende kamm eines berges, von mir
noch unbenannt,
sie zündet den ahorn mitten im hof
mein freimal, den blitzbaum der sippe,
und mich zündet sie an, mich, der ein königreich aufgibt,
wir beben, wir brennen,
brausig brennen wir am ufer der
Elbe…

Ich hoffe, Sie haben gespürt, jetzt beginnt mein Teil zwei, die Vorstellung Jiří Grušas gegenüber einem Publikum, und wie Sie hörten, habe ich mit dem Herantragen der Landschaft des Jiří Gruša, seinem Hintergrund, begonnen.
Jiří Gruša wurde 1938 in Pardubice geboren, er genoß seitens seiner Familie eine katholische Erziehung. In Pardubice hatte der Salesianer-Orden einen Sitz. Noch als Kind sah er, wie im Jahre 1950 dort eines Nachts sämtliche Priester mit einem Lastwagen abgeholt, die Gebäude verriegelt wurden und gegen Betreten gesichert. Nachts drang er zusammen mit Freunden dort ein und nahm die verbotenen Bücher über Don Bosco und Franz von Assisi mit, auch Schauspiele über Leiden und Martyrium der Heiligen gehen in seinen Besitz über und werden bald zu seinem geistigen Besitz. Möglicherweise weist diese Spur seiner Kindheitserlebnisse und Jugendlektüre noch bis in die Jahre des Prager Frühlings, als Eduard Goldstücker, sein Schwiegervater, der Prorektor der Prager Karlsuniversität, in den fünfziger Jahren selbst verfolgt und inhaftiert, ihn zum Eintritt in die reformierte kommunistische Partei überreden will, Jiří Gruša ihm den entschieden zornigen als auch wissenden und vorausschauenden Satz entgegenhält:

Das brave Mädchen, das ins Bordell kommt, wird eher zur Hure, als das Bordell sich in ein Kloster verwandelt.

1963, ein Jahr nach seiner Heirat, schloß Jiří Gruša sein Philosophiestudium in Prag ab, leistete den Militärdienst. Schon 1962 war sein erster Gedichtband mit dem Titel Torna erschienen. Als Nicht-Parteimitglied blieb er ohne feste Anstellung, gründete zwei Literaturzeitschriften, Tvař und Sešity, bis er zu Beginn des Prager Frühlings Ende 1967 eine Redakteursstelle fand. Im April 1969 wurde Alexander Dubčk endgültig entmachtet, kurz vorher erschienen noch Jiří Grušas Die Abenteuer des Kudlasek, ein Kinderbuch, der Gedichtband Folterübungen und auszugsweise ein Vorabdruck seines großen Romans Mimner (erster vollständiger Abdruck erst 1973), über den die Kritik schrieb:

Da müssen wohl sogar die Kollegen aus Argentinien – ich meine die Herren Borges, Bioy Casares und Cortázar – zugeben, daß da einer genauso viel Dampf hat wie sie. Und auch Herr Tolkien scheint mir zwar umfangreicher, aber keineswegs geistreicher, gehaltvoller und phantasievoller zu sein.

Als Redakteur wurde Jiří Gruša im März 1969 gekündigt, er arbeitete vorübergehend in einer Werbeagentur, danach als Polier und Angestellter bei einer Baufirma. Und dies mit Einsatz und Engagement, gegen die manchmal aufkommende Verzweiflung, vor allem aber aus der Oberzeugung heraus, daß er nicht hassen dürfte, die Welt nicht, nicht seine Situation, nicht sich selber.
Jiří Gruša schrieb in dieser Zeit seinen Roman Der 16. Fragebogen, wegen dessen Erscheinen in der halblegalen Edice Perlice er im Jahre 1978 verhaftet wurde. Diese Edition „Hinter Schloß und Riegel“, in der über 200 Bücher verbotener Autoren erschienen sind, hatte Jiří Gruša selbst mitgegründet. In diesem Roman betrachtet ein Jan Chrysostomos die böhmische Geschichte von der Nazi-Okkupation 1939 bis zu der des Warschauer Paktes 1968, indem er einem Parteifunktionär den ihm abverlangten 16. Fragebogen ausgefüllt vorlegt. Mit Antworten gespickt, die für die Bürokratie völlig unbrauchbar sind, und die diese künstlich konstruierte, ideologische Welt quasi mit humaner Essenz aufsprengen. Ein Beispiel:

Für mich ist die Kunst kein Entertainment. Der Dichter hat die Pflicht, keine falschen Märchen zu schreiben. Die Pflicht der Literatur besteht darin, nicht etwas Neues zu schreiben, sondern das gleiche zu sagen, was andere vor dir gesagt haben. So hat es die Philosophie getan, deshalb ist Plato nicht rückschrittlich und Kant, weil er später gelebt hat, fortschrittlich. Der Unterschied zu früheren Dichtern besteht für mich nur in der anderen Distanz oder Nähe, die sie zu ihrem Ende, für mich zu Gott haben.

Und auf seine Inhaftierung angesprochen, sagt Gruša:

Obwohl ich kein bigotter Mensch bin, habe ich immer wieder in lateinischer Sprache diese Worte wiederholt, und es hat mir geholfen.

Die Rede ist vom einfachsten, vom „Vaterunser“. Und:

Jeder Mensch muß fast etwas Mystisches haben, sonst ist er verloren.

Dann sein Schlüsselsatz:

Der unwahrscheinlichste Weg bietet eine Lösung.

ach seine Freilassung aus dem Gefängnis aufgrund internationaler Proteste arbeitete er an seinem Roman Dr. Kokeš, der Meister der Jungfrau, in Deutschland leider unter dem marktkonformen Titel Janinka erschienen. Auch hier greift der Autor Jiří Gruša auf ein Sujet der mittelalterlichen Welt zurück, neben dem Faust-Thema, das er benutzt, geht es um die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tod, über den Sinn des Lebens, anhand jenes um 1400 geschriebenen Prosadialogs von Johannes von Saaz („Der Ackermann von Böhmen“), der in der Umbruchszeit zwischen Mittelalter und Renaissance das Aufbegehren des Einzelnen gegen veraltete Glaubensprinzipien gestaltet.
Im Sommer 1980, sein Roman ist beinahe fertiggestellt, drängt ihn die politische Polizei in Prag zur Annahme eines Studienaufenthaltes in den USA. Als Gruša zögert, beginnt sie mit dem damals Üblichen: Verhöre, Zeugenvorladung gegen Freunde, Drohungen, Erpressungsversuche. Als Jiří Gruša merkt, daß er selbst wieder vor der Möglichkeit der Inhaftierung steht, verläßt er das Land. Am 22. Dezember 1980 kommt er in der Bundesrepublik an. Als Autor versucht er, vollständig in der deutschen Sprache Fuß zu fassen. Er überzeugt darin so sehr, daß Harald Hartung über seinen 1994 erschienenen Gedichtband Wandersteine schrieb:

Der Dichter, der Botschafter ist, überbringt uns mehr als eine Botschaft – ein Geschenk an die deutsche Sprache.

Und er leistet dabei das Schwierigste, fuge ich hinzu, denkt neben dem Künstlerischen das Politische mit, hält beides in sich aus, trägt es aus, war Mitgründer der Charta 77, ab 1991 Botschafter in Bonn, Kulturminister, ist jetzt Botschafter seines Landes in Wien. Deshalb habe ich mir auch erlaubt, in meinem ersten Teil ihm und dem Publikum Bilder zuzumuten, die scheinbar mit Poesie nichts zu tun hatten. Ich bin sicher, dieses mitzudenken, es zuzulassen, gehört zur Poetik gerade Jiří Gruša. Andere sind daran gescheitert und lagen nach kurzer Zeit genau auf dem Niveau der Zeitungen und blieben dort liegen, künstlerisch auf der Meinung des Tages.
Und ehe ich nun an ihn das Wort weitergebe, will ich ihn nochmals zitieren, übrigens ein Zitat, das Parteichef Novotný Ihnen, lieber Jiří Gruša, in der Rudé Právo als Frechheit ankreidete, das Sie damals als öffentlichen Autor vernichten sollte. Sie schrieben:

Ein Dichter ist nur dann ein Dichter, wenn er sich niemals auf eine ideologische Form des Schaffens einläßt. In der Poesie geht es um die Poesie. Entweder bist du ein Propagandist, dann bist du ein Politiker – oder du verläßt dich auf deine ureigenste Fähigkeit, die Realität selbst zu eröffnen, sie neu zu schaffen.

Sie aber haben wunderbarerweise diese beiden Enden verknüpfen können, vielleicht ein Wunder, vielleicht weil Sie in beiden Eigenschaften Ihrer Existenz allen Ideologien ihren eigenen Satz vorzogen und an ihn glaubten:

Der unwahrscheinlichste Weg bietet eine Lösung.

Dieser Satz ging mir lange durch die Sinne, als ich im vorigen Sommer in Jena zusammen mit Ludvík Vaculík nach einer gemeinsamen Lesung in einem nächtlichen Terassen-Café saß, und er mir sagte, daß in seiner Heimat kein Hund mehr einen gedanklichen Bissen von einem „Dissidenten“ nehmen würde; dann sang Vaculík, ermuntert durch einige Gläser Saale-Unstrut-Weines, über Stunden hinweg deutsche Volkslieder, von denen mir gut die Hälfte unbekannt war. Erst am Morgen wurde mir klar, daß er unseren begonnenen Dialog auf unwahrscheinlichen Wegen gerade fortsetzte.
Lieber Jiří Gruša, seien Sie herzlich willkommen an der vielleicht gemeinsamen Landschaft der Elbe, willkommen in Dresden!

Utz Rachowski, hier als Nachwort gedruckt (gehalten an der TU Dresden als einführender Essay)

 

Der Dichter Jiří Gruša

Ich glaube, viele Menschen, die Jiří Gruša in Österreich begegnet sind, sehen in ihm vor allem den Botschafter und Diplomaten, jemanden, der Politik und Gesellschaft analysiert, der sich zu Wort meldet, wenn es angebracht und wichtig ist, dessen Meinung und Rat gefragt sind, schlichtweg einen „opinionleader“ und Wortbeflissenen, der die Dinge auf den Punkt bringen kann… einen Vermittler, Direktor oder Präsidenten, sei es in bilateralen oder internationalen Angelegenheiten. Selbstverständlich zeichnet sich Jiří Gruša dadurch aus und es gäbe vielerlei im Rahmen einer Festschrift anzusprechen, und doch… ich möchte sein Jubiläum vor allem dazu nutzen, um über den Dichter und Schriftsteller zu sprechen, dessen Werk mir seit vielen Jahren vertraut ist und von dem ich schon auf der Universität hörte, noch bevor ich das große Glück hatte, mit ihm bekannt zu werden.

Der Dichter Jiří Gruša hat in seinem Leben viele bemerkenswerte Bücher und Gedichte verfasst… neben Schlüsselromanen wie Der 16. Fragebogen und essayistischen Meilensteinen à la Gebrauchsanweisung für Tschechien, erinnert er vor allem in seinen Gedichtbänden (etwa Im Babylonwald) eindrucksvoll an die Zeit des politischen Umbruchs in der ehemaligen Tschechoslowakei, an eine Zeit des poetischen Aufbruchs, dessen Ausgang lange Zeit ungewiss und doch immer mit seinem persönlichen Schicksal verknüpft blieb. Sein schmaler und ungleich gehaltvoller Gedichtzyklus Wandersteine (aus dem Jahr 1994) ist etwa in diesem Umfeld angesiedelt.
Jiří Gruša versteht es, mit seiner ungewöhnlichen Handhabung der (deutschen) Sprache und den ihm eigenen Duktus Synthesen zu ermöglichen… also etwa zwischen dem Genre Essay, politisch-philosophische Betrachtungen und der Poesie. Ich möchte auch betonen, dass sich ein Dichter seine Sprache irgendwo erkämpft haben muss, damit sie eine Botschaft trägt, seinen Urheber charakterisiert und repräsentiert – und genau das hat der Dichter getan. Jiří Gruša ist nicht nur „verknappt“ und geistreich, er ist auch zutiefst ernst oder schelmisch, wenn er etwa Verse notiert wie… ,,Wir heizten mit Strohhüten und Kleidern der Tanten“ oder „GUTEN TAG sagten wir zu den tagen, GUTEN TAG SCHWESTERN, weil sie so weiblich, so schwanzlos, GUTEN TAG BACKPFERDE.“
Er hat stets darauf geachtet (und wohl auch keine andere Wahl gehabt), ein zutiefst persönliches Werk vorzulegen… seine Biographie findet sich in den konzentrierten Versen stets wieder – wenn Gruša etwa vom Verlust seines Sohnes und dem Verlust seiner Sprache schreibt, wenn er uns allen Einblick in die Wirren einer politisch brisanten Zeit gewährt und die Unmenschlichkeit totalitärer Systeme verdeutlicht, denen er scheinbar machtlose Verszeilen entgegenhält…

Wir konnten kotzen wann immer uns lieb, am liebsten unter den Schwalben alleine.

Und doch ist genau das (für mich) ein Jiří Gruša, der in seinen vielen Jahren in diversen Führungspositionen nicht ganz im Vordergrund stand, weil Diplomatie, Präsident- und Direktorenschaften ein anderes Agieren erfordern. Hier ging es weniger um den Dichter, als um die (wichtige) Sache, und ich erinnere mich an so manche meiner Begegnungen mit ihm, wo ich für eine Konferenz oder Ansprache Unterlagen ausgearbeitet habe und dann hieß es bisweilen mit einem schelmischen Lächeln…

das könnte Stavarič sagen oder schreiben, aber nicht ich!

Einer der ersten Sätze, der mir je von Jiří Gruša untergekommen ist, lautet…

Im Gegensatz zum Maler oder Musiker kann der Dichter nicht aus dem Stoff seines Schaffens heraustreten; sein Stoff – die Sprache – ist nie zu versachlichen.

Vielleicht hätte mich dieser Satz gar nicht weiter beschäftigt, wenn ich nicht schon bald danach über eines seiner Bücher gestolpert wäre (Der 16. Fragebogen), dessen Übereinstimmung von Aussage, Form, Biographie und Dichtung mich zutiefst beeindruckte.
Eines der mir persönlich wichtigsten Bücher von Jiří Gruša ist im Dresdner Universitätsverlag Thelem erschienen, es nennt sich: Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall. Ich erinnere mich noch, als die Anfrage aus Deutschland kam, eine Vorlesung an der Universität Dresden abzuhalten – und Jiří Gruša sagte prompt zu. Er rief mich damals zu sich und begann zu diktieren bzw. brachte mir in den nächsten Wochen jede Menge handschriftlicher Notizen, die nach und nach zu jenem Korpus anwuchsen, der schlussendlich vorgetragen und publiziert wurde. Ein Teilstück dieser Vorlesung war der Passus über die Annäherung an die deutsche Sprache mittels Ideogrammen, die eine vereinfachte Form von Worten darstellten. Für mich war es faszinierend nachzuvollziehen, dass, wenn eine Sprache „gedanklich“ in eine andere übergeht, an ihrer Grenze ein Bild steht – gewissermaßen als „Mittler“, zwischen noch nicht miteinander verbundenen oder gar bekannten Worten.
In einem Interview wies Jiří Gruša einmal darauf hin, eine typisch kakanische Biographie zu haben… mit dem Unglück (oder auch Glück), dass alles, was er zu Beginn seiner Laufbahn schrieb, verboten wurde. Ebenso kakanisch, so Gruša, sei die herrschende Bewunderung des Lyrikers:

Das geht nur bei uns, hier sind die Dichter immer etwas Schrulliges und immer werden sie für etwas Besseres gehalten als beispielsweise die Schuster: Ein Schuster, der nur fünf Paar Schuhe verkauft, ist lächerlich – ein Dichter, der fünf Gedichte veröffentlicht, ist eine wichtige Persönlichkeit.

Die Relativierung des Eigenen und Anerkennung des Anderen, ich denke, hier hat mich der Dichter Gruša sehr geprägt.
Es ist, um eine von Jiří Grušas Thesen zu paraphrasieren, die Sprache, die als Quelle der Vieldeutigkeit des Lebens fungiert, die ins und zum Gespräch untereinander führt, in dem Bedeutung entsteht und wieder schwindet, es brauchte eine Sprache, die niemals monomanisch oder monotheistisch agiert. Eine Sprache, die die Gegenwart des Sprechens als die wichtigste Zeitform des Menschen zum Ausdruck bringt und diesen nicht mit Vergangenheits- oder Zukunftsbürden belastet, da eben die ständige Überprüfung der geerbten und prophezeiten Begrifflichkeit die Vergangenheit und Zukunft (auf)klärt.
„Und ob das Wort noch bildet?“ – diese einstige Frage von Václav Havel hat Jiří Gruša auf seine Weise neu gestellt und zu einer weiteren Grundthese gemacht. Sie lautet, wenn ich das so sagen darf:

Ob das Wort denn noch bindet?

Und die Antwort ist ein Ja – es bindet! Denn es verbindet uns alle. Und die Antwort ist auch ein Nein – denn:

Es reicht nicht, die Brücke in einer letztendlich überschaubaren Landschaft zu bauen. Es gilt, den Ozean zu wagen.

Auf die Frage „Wohin gehen Sie?“ hat Gruša einmal geantwortet…

Ich bin zukunftssüchtig und konzentriere mich auf das, was vor mir liegt. Ganz so wie eine Figur aus meinem Roman auf diese Frage antwortet: Das, wohin ich gehe, liegt vor mir und das, woher ich komme, liegt hinter mir.

Auf die Frage, wo man ihn künftig treffen kann, pflegt ein Gruša gern zu antworten: Auf Reisen!
Jiří Gruša hat mit seiner Sprache und seinem Wesen nicht nur meine persönliche Lebensgeschichte verändert – ich bin sicher, er hat jedem Menschen, der im Laufe des Lebens seinen Weg kreuzte, etwas „mitgegeben“. „Zurückgefordert“ hat er nie etwas – also möchte ich ihm in dieser Festschrift wenigstens ein schlichtes, aber umso gewichtigeres Dankeschön hinterlassen.

Werter Dichter, alles Liebe und Gute zum 70er!
Und eine Gute Reise weiterhin –
oder Guten Flug natürlich!

Oder, um es mit seinen Versen zu sagen:

Erde Luft und Meer und Leuchter, wer sie richtig mischt, bekommt die Welten, und ist er ein Falke, darf er sich üben im Sturz, um wieder zu landen in den Nestern.

Michael Stavarič, aus Wolfgang Greisenegger & Wolfgang Lederhaas (Hrsg.): Antworten. Jiří Gruša zum 70. Geburtstag, Wieser Verlag, 2008

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&DIMDb +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Jiří Gruša:

 

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