Joachim Kaiser: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Wandelt sich rasch auch die Welt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Wandelt sich rasch auch die Welt“ aus Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Wandelt sich rasch auch die Welt

Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.

Über dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.

Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,

ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.

 

Unbegreifliches Leiden und Kunstschönes

Man liest die erste Strophe dieses – wie sagte doch Gottfried Benn irgendwo? – „fast unverzeihlich schönen“ Gedichts und ist sogleich ergriffen vom zarten, visionären A-Dur-Klang. Ganz unmittelbar, noch diesseits angestrengter analytischer Nachprüfung, stellt sich jene „Emotionsgewißheit“, jenes „Neugierigwerden“, jenes Gefühl des „Griffs nach der Kehle“ her, worauf es in der Kunst, zumal in der Lyrik, vor allem andern ankommt. So meisterhaft wie unauffällig macht Rilke in der ersten Strophe den Vokal a zum Hauptton: Vom „Wandelt“ über „rasch“ bis zu den „Wolkengestalten“, welchen dann in der vierten Zeile das „heim zum Uralten“ majestätisch kadenzierend, archaisch originell und tief beruhigend entspricht.
Das ist der Rilkesche Zauber, den der Parodist Robert Neumann nach Kräften zu blamieren suchte („Durchklirrt die Gefahr und schirrt seine Stute. Und der ganzen staunenden Mädchenschaar – ihr girrt noch geblufft über Tag und Jahr der Rilkesche Rhythmus im Blute“). Den aber immerhin Musil mit der Feststellung feierte, Rilke habe „das deutsche Gedicht zum erstenmal vollkommen gemacht“. Was hebt nun Rilkes XIX. Sonett sternenweit hinaus über die blöde Neumann-Formel vom Bluff? Es ist der Umstand, daß hier die Sprache, wie es im lyrischen Wortkunstwerk sein soll, einerseits ihr tönendes Eigenleben führt, in eigener Sache rauscht. Aber sie be-rauscht nicht nur: sie teilt zugleich ein Weltbild, eine charakteristisch gestufte Ordnung der Dinge mit.
Um dieses Weltbild, diese Ordnung der Dinge zu erkennen, braucht der Leser kein Kenner antiker oder mittelalterlicher Philosophie zu sein, wo das Dauernde und Wesenhafte dem Besonderen, Zufälligen, Veränderbaren in strenger Hierarchie übergeordnet erschien. Der Sonett-Text verdeutlicht sein Daseinsmuster hinreichend. Weltliches Treiben wandelt sich so rasch wie Wolken – doch das Vollendete fällt in den Bereich des Alten, Wahren. Die zweite Strophe bezieht Orpheus in dies Spannungssystem ein. Vor allem Wandel und Getriebe „wahrt“ die Kunst. Des Orpheus Gesang. Ob da vielleicht sogar eine Dreidimensionalität gemeint ist, der zufolge Orpheus’ Kunst, als „Vor-Gesang“, gleichsam zuallererst da war, braucht nicht eindeutig entschieden zu werden. Die zweite Strophe und die beiden letzten Verse des Sonetts deuten es zumindest an.
Schön und gut – denkt man: was für eine treffliche, scholastische Ideen-Pyramide. Nur, was hat diese perfekte Orpheus-Ontologie, die unterstellt, alles sei von Gott fabelhaft sinnvoll geordnet, mit uns zu tun? 1915 schrieb Rilke in einem Brief:

Wenn wir im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tod gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich, dazusein?

Genau diese Einwände, diese ewigen Felsen des Atheismus, nimmt das Sonett in seine Kunstfeier hinein. Und zwar im ersten Terzett, dem genialen und lakonischen Höhepunkt des Gedichtes. „Nicht sind die Leiden erkannt“  – kann dies etwas anderes meinen, als daß wir armen Erdenbürger keinen Sinn in den Leiden zu sehen vermögen, die uns ein unbegreifliches Fatum zumutet? „Nicht ist die Liebe gelernt.“ Was im Korinther-Brief über die Liebe steht, dem hat die Menschheit nie zu entsprechen vermocht. Und schließlich: Orpheus durfte zwar den Versuch wagen, Eurydike aus dem Totenreich zurückzuholen. Doch ob der Tod etwas Endgültiges ist, ewige Entfernung, oder nur Wandlung – uns bleibt es verschleiert.
Doch das Lied überm Land, so will es der Künstler Rilke, heiligt und feiert trotzdem. Macht ein herbes Dasein überstehbar. Man merkt es der Anmut dieser Verse an, daß Rilke, nach langer Qual mit den Duineser Elegien, seine Sonette an Orpheus 1923 rasch und wie in einem Zuge niederschrieb.

Joachim Kaiseraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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