Joachim Ringelnatz: Hafenkneipe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Joachim Ringelnatz: Hafenkneipe

Ringelnatz-Hafenkneipe

WIE MAG ER AUSSEHEN

Wer hat zum Steuerbogenformular
Den Text erfunden?
Ob der in jenen Stunden,
Da er dies Wunderwirr gebar,
Wohl ganz − − − oder total − − war?

Du liest den Text. Du sinnst. Du spinnst.
Du grinst – „Welch Rinds“ – Und du beginnst
Wieder und wieder. – Eisigkalt
Kommt die Vision dir, „Heilanstalt“.

Für ihn? Für dich? – Dein Witz erblaßt.
Der Mann, der jenen Text verfaßt,
Was mag er dünkeln oder wähnen?
Ahnt er denn nichts von Zeitverlust und Tränen?

Wir kommen nie auf seine Spur.
Und er muß wohl so sein und bleiben.
Auf seinen Grabstein sollte man nur
Den Text vom Steuerbogen schreiben.

 

 

 

Interview auf dem Parnass

Horst Drescher: Sehr geehrter Herr Bötticher, offen gestanden, wir waren nicht so ganz sicher, Sie hier oben anzutreffen. Selbst amtlich beglaubigte Informationen, dieser oder jener Autor sei in die Gefilde der Unsterblichen in Apoll eingezogen, erweisen sich oft schon nach kurzer Zeit als Falschmeldungen; und dabei handelt es sich um Persönlichkeiten, die im Rampenlicht der Literaturwissenschaft gestanden haben. Ihr allseits beliebtes literarisches Œuvre aber hat ja bisher außer einigen geistreich-aphoristischen oder biographisch-anekdotischen Äußerungen noch kaum fundierte wissenschaftliche Interpretation erfahren. So wäre es Aufgabe dieses ersten Kontaktes zwischen Ihnen als Mensch und Lyriker, einerseits und dem Reclam-Verlag andererseits, in einer Reihe grundlegender Exkurse…

Joachim Ringelnatz: Komm an Bord!

Drescher: Oh. Eine Kneipe.

Ringelnatz: Eine, Hafenkneipe. Meine Hafenkneipe. Ich hatte mir doch schon immer so eine solide bürgerliche, reputierliche Existenz erträumt. Welchen Rum trinken wir?

Drescher: Wie könnte ein Joachim Ringelnatz auch in geraffter, weißer antiker Toga, wandelnd auf klassischem Boden in edler Einfalt und stiller Größe… Aber eine Existenz auf dem Parnaß in einem solchen Pullover, mit dieser abgegriffenen Schiffermütze, den getrockneten Seepferdchen an der Wand… Nun, Ihre Existenzform in der Unsterblichkeit ist ja weitgehend Ihre persönliche Angelegenheit.

Ringelnatz: Das sind keine „getrockneten Seepferdchen“; dies nennt der Seemann Ringelnassen; und denen verdanke ich ja doch meinen Künstlernamen! Und so eine persönliche Angelegenheit ist unsere Unsterblichkeit nicht. Wir dürfen nämlich hier Oben nur so lange bleiben, wie bei euch unten unsere Bücher erscheinen und gelesen werden. Also!

Drescher: Lieber Herr Bötticher, unter uns gesagt, das hängt nicht immer allein vom guten Willen der Verlage ab. Um alle Bedürfnisse unserer Leser zu befriedigen, wird ein Plan gemacht, und an diesen Plan müssen wir uns dann auch halten; da können eben nicht alle Bedürfnisse unserer Leser befriedigt werden. Aber Sie sehen, daß wir in Ihrem Falle nun keine Mühe gescheut haben. Zudem bringt uns ein solches persönliches Gespräch auch jene letzte Authentizität im Faktischen, ohne die jede Wertung und Würdigung Versuch bleiben muß, auf dem schwankenden Boden hypothetischer Prämissen…

Ringelnatz: Prost! Das ist ein Rum von der Insel Martinique. Vor Martinique – das wird dich, für deine hypothetischen Prämissen interessieren −, vor Martinique habe ich als Schiffsjunge eine Flaschenpost losgelassen. Prost!

Drescher: Wäre es unserem Vorhaben nicht dienlicher, wenn wir erst nach… Prost!

Ringelnatz: Auf eine vorletzte Authentizität im Faktischen! Und das ist auch kein erster Kontakt. Auf See habe ich doch viele Jahre lang zwei Reclamhefte besessen.

Drescher: Welche Texte?

Ringelnatz: Bei einem hieß es auf der Rückseite: „ein Brautschatz des Geistes und Gemütes“ und „wohlfeilste Lehr- und Freudenmeister, auf dem Schreibtisch, sowohl des Gelehrten wie im Seesack des Schiffsjungen“. Das hat mich damals sehr berührt. Als Jüngling habe ich auch einmal in Leipzig in der Reclamstraße übernachtet! Die Dame hatte mich am Bahnhof ergriffen.

Drescher: Meine Bemerkung bezog sich auf Kontakte literarisch-editorischer Art.

Ringelnatz: Auch die haben bestanden. Bei Abfassung meines Buches Turngedichte habe ich außer dem Duden, 9. neubearbeitete Auflage 1919, auch das Reimlexikon von Philipp Reclam jun. genutzt und dies hinten unter „Benutzte Quellen“ angegeben.

Drescher: Sehr geehrter Herr Bötticher, um Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen, sollten wir zu einer mehr direkten Fragestellung im Rahmen systematisch begrenzter Exkurse übergehen. Als da sind: Fragen des Schaffensprozesses, literarische Vorbilder…

Ringelnatz: Karl May und Li Tai-po.

Drescher: Bitte?

Ringelnatz: Ach, das war doch nur Spaß! Mein Leben lang habe ich ein Buch geliebt: den Don Quijote des Cervantes. Heiß geliebt, von der ersten, gekürzten, bearbeiteten Ausgabe mit den vielen bunten Bildern, die mir noch mein Vater geschenkt hat; bis zu den bibliophilen Prachtausgaben, die ich später, manchmal besessen habe. Ich habe sogar eine spanische Originalausgabe besessen; obwohl ich des Spanischen des 17. Jahrhunderts nicht bis in alle Nuancen hinein mächtig bin. Oder um genau zu sein: ich kann nicht Spanisch. Dafür war ich eine Doppelbegabung: Dichter und Maler! Ein Naiver. Aber von allen Naiven war ich der Raffinierteste! Mein Ölgemälde An der alten Elster hängt zum Beispiel heute in der Leipziger Gemäldegalerie. Aber meine meisten Bilder sind‘ verschenkt und verschollen.

Drescher: Unsere Aufgabe ist es, das Genie des  D ic h t e r s  Ringelnatz zu analysieren.

Ringelnatz: Zu der Malerei, speziell zu der Ölmalerei, bedarf es viel Genie. Dieses Genie und die Farben und die sogenannten Lichter, das muß man alles dick auf der Leinewand auftragen; ich habe aber manchmal bloß Pappe genommen. Und Ocker, viel lichter Ocker! Das läßt man dann trocknen. Du glaubst ja nicht, wie langsam so ein Gemälde trocknet. Pleinairmalerei macht man im Sommer, und da kann es schon mal vorkommen, daß eine Fliege kleben bleibt. Bei mir hat mal eine mit dem Rücken angepappt. Die hat gezappelt, als ob sie sich vor Entzücken gar nicht lassen könnte! So kann ein erster Eindruck oft täuschen.

Drescher: Abschweifungen, Abschweifungen…

Ringelnatz: Abschweifungen sind doch nichts Minderwertiges? Ich bin mein ganzes Leben nur abgeschweift. Das hängt auch zusammen mit meiner weitverzweigten Verwandtschaft mit dem Alchimisten und Erfinder des Porzellans Johann Friedrich Böttger:

Drescher: Mit diesem Böttger sind Sie verwandt?

Ringelnatz: Das ist eine Vermutung. In mir steckt doch von Kindesbeinen an eine direkt alchimistische Neugier. Ich hatte ein dauerndes Bedürfnis, etwas zu erfinden! Ich hätte auch um ein Haar wirklich was erfunden. Was, dss kann man auf Seite 40 f. nachlesen.

Drescher: Darf ich nun wieder auf den Lyriker Ringelnatz zurückkommen; in einem, wie mir scheinen will, für Ihre lyrische Produktion typischen Gebilde „Sinnender Spatenstich“ stößt man auf folgenden Text:

Unter der Erde murkst ein Ding,
Irgendwas oder ein Engerling.
Zappelt es? Tickt es? Erbebt es? −
Aber eines Tages lebt es.
Als turmaufkletternde Ranke,
Als Autoöl, als Gedanke − − −
Fäule, Feuchtigkeit oder feiner Humor
Bringen immer wieder Leben hervor.

Hier stutzt man…

Ringelnatz: Warum? Du mußt mal an einem warmen Märztage in einem Misthaufen graben!

Drescher: Man stutzt, weil dieses Konglomerat von Wortblöcken, Gedanken- und Gefühlstrümmern, dem doch offensichtlich die Endredaktion, eine letzte Feile fehlt, aus der Feder eines Dichters stammt, dem die Sprache bis in subtile Feinheiten hinein gehorchte; dem alle Register metrischer Aufbereitung zur Verfügung standen. Wurde hier Sprachlich-Formales nicht bewältigt? Sollte hier Sprachlich-Formales nicht bewältigt werden? Und auch das Reimschema beweist uns: abacb / aabb / ababc / aabcc / aa…

Ringelnatz: Habe ich in dem Gedicht nicht genau beschrieben, wie die Natur auch den vielen Sonderlingen Schutz und Asyl gewährt? Und wie wunderbar sie alle pünktlich im Frühjahr weckt, als Zwiebeln oder als Schmetterling oder sehr viel später als Kohlen oder Erdöl!

Drescher: Das wäre wieder ein eigenes Thema: Die Erweiterung des Arsenals, der in der Lyrik verwendbaren Gegenstände. Unseres Wissens hat vor ihnen niemand Engerlinge oder einen Bumerang oder Pellkartoffeln oder Bratkartoffeln in sein lyrisches Œuvre aufgenommen. In welcher Hinsicht…

Ringelnatz: In der Hinsicht von unten! Wer sich das Leben zu einem großen Teil von unten ansehen mußte, bemerkt Dinge, die andere, die immer von oben herabgucken, gar nicht bemerken!

Drescher: Es ist erstaunlich, wie und wo und in welchen Lagen Sie Ihren poetischen Spaten ansetzen und wie Sie überall Goldkörner finden.

Ringelnatz: Das Gold muß am Spaten kleben, mein Junge, dann kann man überall graben. Und man muß etwas können als Dichter, um eine Pellkartoffel, in seinem Gedicht unterzubringen, ohne das Gedicht zu beschädigen!

Drescher: Ob nicht doch im Spezifischen Ihrer Schaffensbedingungen die Erklärung zu suchen ist für das Spezifische Ihrer lyrischen Produktion? Goethe hat – um Ihnen thematisch entgegenzukommen −, Goethe hat bei der Arbeit an seinen Römischen Elegien das Versmaß auf dem Rücken seiner Geliebten abgezählt.

Ringelnatz: Solche Arbeitsbedingungen gehörten bei mir schon zum Keuschesten und Seriösesten. Da könnte ich dir Dinge erzählen, und das wäre nicht übertrieben, jedenfalls kaum; aber das würde uns nur wieder in diese Ab- und Ausschweifungen führen. Nein, das Tückische an meiner Arbeitsbedingung war immer, daß die superfeinsten Einfälle gekommen sind, wenn ich Alkoholisches genossen hatte. Aber da ist mir die Sprache nicht in der wünschenswerten Weise gefolgt. Die Verse zappelten schon, aber ich konnte sie nicht zum Ausschlüpfen bringen! War ich dann wieder nüchterner und folgte mir die Sprache in der wünschenswertesten Weise, dann kamen mir diese superfeinen Einfälle wieder nicht.

Drescher: Prost! Wir sollten den Versuch einer Werkanalyse vorerst zurückstellen und uns dem Biographischen zuwenden. Hier würde uns vor allem zeitgeschichtlich Relevantes und Soziales interessieren; aber das alles in einer gewissen Kontinuität der Abfolge! Sie wurden geboren am 7. August 1883, Ihr Geburtshaus steht in Wurzen…

Ringelnatz: An der Alten Elster hieß unsere Straße. Ich hatte Spielgefährten aus den verschiedensten Bevölkerungskreisen, aber die aus der Fregestraße waren ein besonders rohes Pack!

Drescher: Das mag zugetroffen haben, aber wir müssen uns hier auf Erlebnisse beschränken, die für Ihr ganzes Leben entscheidend waren.

Ringelnatz: Im Jahre 1933 bildeten sich Hohlräume um mich, umgeben von vielen Löchern. Man drohte, kitzelte und lockte: Gall sang nicht mehr. Im Sommer vierunddreißig wurde ich auch immer kränker. Die Lunge. So richtig gesund war ich ja nie gewesen. Und so Mitte November führte dann das langsame Tempo meiner Genesung zu meinem letzten Wunsch: Man möge alte Seemannslieder an meinem Grabe spielen. Paul Wegener, der große Schauspieler; hat ergreifende Worte gesprochen: Ich sei ein unbeirrt Liebender geblieben, in allen Stürmen, in allen Wettern. Und Asta Nielsen, die große Schauspielerin, hat geweint.

Drescher: Bei allem Wohlwollen in bezug auf mitgehende Interpretation, leicht machen Sie es einem nicht. Zwischen Geburt und Tod pflegen doch in einem fünfzigjährigen Leben, einem wildbewegten Leben, wie dem Ihren…

Ringelnatz: Oh, da könnte ich erzählen!

Drescher: Aber Wesentliches!

Ringelnatz: Mir war zum Beispiel schon von Kindsbeinen an alles mystisch und geheimnisvoll. Ich hatte einen Geist, der hieß Pinko, und äußerlich war er in einem Holzknauf eines Bettptostens meines Kinderbetts verkörpert. Aber in welchem und was es für eine Bewandtnis mit ihm hatte, das habe ich nie verraten. Das verrate ich auch heute noch nicht. Auch dir nicht.

Drescher: Darf ich auf Ihre Entwicklung als Dichter zurückkommen.

Ringelnatz: Ich war eine Doppelbegabung. Im Berliner Telefonbuch war ich zum Beispiel als Kunstmaler eingetragen.

Drescher: Wir wissen, daß Sie einem bürgerlichen Elternhaus entstammen…

Ringelnatz: Einem gutbürgerlichen! Wir hatten zeitweise zwei Dienstmädchen. Einmal hieß eine Berta; ein schönes, junges, strammes Weib. Wegen der gab es harte eheliche Auseinandersetzungen zwischen meinen Eltern. Aus dem Fenster stürzen wollte sich meine Mutter wegen dieser Berta! Meine Mutter war eine kleine, nervöse Person. Mein Vater war Musterzeichner für Tapeten. Und er war humoristischer Schriftsteller. Viele Jahre hat er Auerbachs Kinderkalender herausgegeben. Sein Hauptwerk aber war das Lyrische Tagebuch des Leutnants von Versewitz. Zurück zu Wesentlichem meiner eigenen Entwicklung. Ich habe nämlich unserer Berta einmal ans Bein gegriffen. Für mein Alter, ich werde damals so sechs, sieben Jahre gewesen sein, unverhältnismäßig weit oben. Eine unerhörte Ohrfeige von besagter Berta war gleichsam mein erstes Opfer auf dem Altar der Liebe.

Drescher: Der Aspekt des Erotischen! Bei dieser Schilderung, wie bei der Lektüre vieler Ihrer Gedichte, frappiert ein Hang zu vordergründiger, nicht immer motivierter Erotik. Im „Ferngruß von Bett zu Bett“ erinnern Sie die ferne Geliebte an gemeinsame Geschehnisse, und präzisieren dann diese Vorgänge mit Epitheta ornantia wie: „heiß“, „frei“, „besoffen“, „fromm“ und „scharf“. Diese immer wieder zu beobachtende Sicht aus dem Blickwinkel des Faunischen…

Ringelnatz: Quod licet Iovi, non licet bovi, dieser Spruch war mir schon am königlichen Staatsgymnasium verdächtig! Warum bin ich ein Faun, Johann Wolfgang von Goethe aber bekommt für dieses gleiche, gottgewollte Delikt das Prädikat Erotiker? Auch ich war ein Erotiker. Ich war immer ein großer Erotiker!

Drescher: Lieber Herr Bötticher, diese Selbstvergleiche mit dem größten unserer Lyriker…

Ringelnatz: Aber wir beide haben gewisse Dinge beim Namen genannt; darunter viel Erotisches. Und was dem großen Stier gestattet wird, darf dem kleinen Bock nicht angekreidet werden. Studieren Sie die Paralipomena zum Faust! Ich hätte zurückgeschaudert, so tief hinabzusteigen, ins Faunische. Das sagt dir ein Mann, der zeitweise eine bibliophile Bibliothek besessen hat: Der als Bibliothekar die Bibliothek des Grafen York von Wartenburg katalogisiert hat. Angefangen hat zu katalogisieren.

Drescher: Kann ich noch einen Rum haben?

Ringelnatz: Besagte Berta ist später eine bekannte Löwenbändigerin geworden, auf Jahrmärkten. Unter dem Künstlernamen Cläre Heliot. Konfirmiert aber bin ich schon in Leipzig. Meine Eltern waren in den Norden Leipzigs gezogen, Nach Gohlis, dort liegt das Rosental. Das war für entscheidende Jahre mein Revier. Wir waren nämlich eine Radfahrbande. Und ich bin einmal auf meinem Fahrrad Marke Brennabor in einer unglaublich kurzen Zeit nach Halle gefahren. Leider ohne Zeugen. Alle daran Interessierten wollten es mir nicht glauben; und die es mir glaubten, die hat es nicht interessiert. So war es später noch oft.

Drescher: Ich glaube es Ihnen; und Sie haben in diesen Jahren das Königliche Staatsgymnasiam besucht.

Ringelnatz: Gegen meinen Willen! Ich habe alle Fächer verabscheut, einschließlich „Allgemeines und sittliches Betragen“. Das Abitur habe ich dann auch schon auf einem privaten Institut nachgeholt.

Drescher: Wer hat diesen Wechsel gewünscht?

Ringelnatz: AIle Beteiligten; aber ausgegangen ist er von der Direktion des Gymnasiums. Ich hatte mich zu lange und zu oft bei den jungen, herrlich braunen Samoanerinnen aufgehalten, die damals als „Orientalische Truppe“ im Zoo aufgetreten sind. Für eine von ihnen habe ich mich tätowieren lassen, ihr habe ich auch den elterlichen Christbaumschmuck geschenkt.

Drescher: Sie waren also schon als Kind ein Außenseiter.

Ringelnatz: Nein, die andern waren anders! Der einzige Verlust am Staatsgymnasium waren die Senfgurken. Die legte der Pedell selber ein; und dann verkaufte er sie an uns Schüler. O die zergingen auf der Zunge!

Drescher: Endlich war das Abitur bestanden, wir fragen nicht mit welchen Noten, und am nächsten Tage – das ist in jedem Lexikon nachzulesen – sind Sie durchgebrannt. Ohne Wissen der Eltern, als Schiffsjunge…

Ringelnatz: Ach, die haben alle meinen Vater nicht gekannt. Mein Vater hatte eine weiche Seele, der konnte doch seinem Jüngsten einen Herzenswunsch nicht abschlagen. Er ist mit mir nach Hamburg gefahren, hat mit dem Heuerbaas verhandelt, hat mir eine gute seemännische Ausrüstung gekauft – die war teuer! −, blauer Anzug, Seestiefel, Ölzeug, Südwester und ein langes Scheidemesser mit Lederriemen. Zum Abschied hat er mich an seinen struppigen Bart gedrückt, und die Tränen sind uns getropt. Das war am Abend des 3. April 1901. Da war ich zum ersten Male allein und auf mich gestellt.

Drescher: Erzählen Sie von Ihrer größten Reise!

Ringelnatz: Da ist nichts zu erzählen. Seefahrt ist nur schwer. Schön ist erinnern an Seefahrt. Anfänger läßt ein Heuerbaas auch gern verlotttern. Erst nach langem Drängen habe ich meine erste Reise bekommen. Nach Belize in Westindien. Auf der Elli. Aber dort bin ich desertiert. Ich hatte so interessante Fische gefangen und mit Tabak ausgestopft und zum Trocknen auf die Kombüse gelegt. Man hat sie mir alle über Bord geworfen: Das Zeug stinke nur. Und ein Schiffsjunge darf nicht an Widerstand denken angesichts einer solchen Übermacht. Aber ich habe immer ein Tagebuch geführt, auch unter den widrigsten Umstanden. Einmal habe ich sogar eine täuschende Kopie vor aller Augen über Bord fallen lassen, weil der Kapitän meine Notizen ausgeschnüffelt hatte. Zehn Jahre später hab ich sie unter dem Titel Was ein Schiffjungentagebuch erzählt als Buch herausgegeben.

Drescher: Ja, auf den Schriftsteller Ringelnatz wollen wir nun endlich hinaus. Denn im Jahre 1909 gelang ihm der große Durchbruch als Vortragskünstler eigener Gedichte im Münchner Kabarett Simplicissimus.

Ringelnatz: Soweit sind wir noch lange nicht. Ich werde dir jetzt etwas sehr Ungewöhnliches und Seltenes zeigen: Einen Flaschenpostantwortbrief! Ich habe doch auf meiner Westindienreise in der Nähe der Insel Martinique dem Meer eine Flaschenpost anvertraut. Den Korken hatte ich mit ranziger Margarine sorgfältig abgedichtet. So eine Flasche kann jahrelang unterwegs sein! Nach einigen Wochen erhielt mein Vater…

Drescher: Lieber und verehrter Joachim Ringelnatz, das erträgliche Maß an anekdotischen Abschweifungen ist doch irgendwann einmal voll…

Ringelnatz: Hier handelt es sich um meine fernste Post: In der Nähe von Riga habe ich später sogar eine Karte an meine Eltern an einem Bündel Kinderluftballons losgelassen! Nach einigen Wochen erhielt mein Vater vom Gouverneur der Insel Barbadu in Westindien ein Schreiben.

Drescher: Diese Luftballons sind bis Westindien…?

Ringelnatz: Diese Flaschenpost. Die Luftballonpost ist nie angekommen.

Dear Sir!

The bottle containing your message and card thrown overboard from the ELLI, 4 days from Martinique, was picked up on the 8th, June by a man living here and brought to me.
At your request I forward your card which I have no doubt you will be very glad to get again.
I am dear Sir yours faithfully

Oliver Nogent
Acting Magistrate Barbuda
British West Indies.

Drescher: Soso. Sind noch weitere Briefe aufzunehmen, von anderen Reisen?

Ringelnatz: Nein, 1903 habe ich meine seemännische Laufbahn verlassen. Als Bootsmannsmaat. Wegen der Augen. Meine Augen besaßen nicht die erforderliche Seeschärfe. Es waren nämlich zwei große Schiffe zusammengestoßen. Aber nicht meinetwegen, sondern ganz woanders. Mich hat nur das Gesetz betroffen. Und jetzt habe ich endlich – auch etwas auf Drängen meines Vaters – die kaufmännische Laufbahn eingeschlagen.

Drescher: Aber dieser Beruf erwies sich als Sackgasse, und es kam endlich zu dem Debüt als Vortragskünstler.

Ringelnatz: Meine kaufmännische Laufbahn war nicht ein Beruf, das waren viele Berufe! Buchhalter, Korrespondent, Geschäftsführer, Kommis, Empfangschef, Reisender und vor allem immer wieder kaufmännischer Lehrling. Aber nie lange und nie mit Liebe. Vermutlich hat dieses höhere Wesen, wenn es eins gibt, gar keine solchen Keime in mir angelegt, die sich durch zehntausend Bürostunden zu einem Buchhalter auswachsen. Ich mußte natürlich in meinem Bewerbungsschreiben umfassende Kenntnisse in amerikanischer und perfekt in systematischer doppelter deutscher Buchführung angeben. Aber an irgendeinem Tage – wenn ich die Kollegen auch noch so eingehend begrüßt und anschließend in den ausschweifendsten Formen gefrühstückt habe – mußte ich doch anfangen mit einer dieser systematischen Buchführungen! Dann hieß es eben, sich eine neue Stellung suchen. Denn meine vielseitigen Sprachkenntnisse, die ich mir in Hafenkneipen und auf hoher See angeeignet hatte, waren auch nicht für den Stil der Geschäftsbriefe zugeschnitten. Ich habe es als Auslandskorrespondent versucht. Eines meiner Gedichte, es hieß „Freundschaft“, habe ich an die Woche geschickt, verbunden mit der Bitte, mich mit einem Fixum von etwa zweihundert Marrk nach China zu schicken. Ich hätte doch von dort irgendwelche Dinge in heiterer Form berichten können. Sie haben weder auf mein Gedicht noch auf mein Anliegen geantwortet.

Drescher: Geben Sie mir noch einen Schnaps, denn von Ihren dreißig kuriosen Berufen haben wir ja bisher kaum einen ausführlich besprochen. Wann folgte denn Ihr Intermezzo als Schlangenbändiger?

Ringelnatz: Das war noch zu meiner Seemannszeit. Man bekam nicht immer ein Schiff. Und bis man wieder ein Schiff bekam, mußte man sich so durchschlagen. Da hatte mir einer was vermittelt auf dem Hamburger Vergnügungsrummel. In einer Tierschau. Wir fünf Männer in Matrosenanzügen haben die Schlangen hereintragen müssen. Ich, der Kleinste, habe das Schwanzende getragen. Dabei war ich der einzige echte Seemann! Dann rief Herr Malferteiner, der Besitzer der Bude: Die Riesenschlange! Bo-a-constric-tooooor! Ihre Heimat, Südamerika! In Freiheit ringt sie mit dem Löwen! Mit dem Tiger! – Wir bekamen fünfzig Pfennig pro Tag. Und manchmal ein Trinkgeld oder etwas Tabak.

Drescher: Wann kommen wir denn zu dem großen Durchbruch als Vortragskünstler eigener Gedichte!

Ringelnatz: Mein Durchbruch nach oben waren eigentlich lauter kleine Einbrüche nach unten. Der Simpl war um 1910 der berühmte Mittelpunkt der Boheme; es war aber nurein kleines, verräuchertes, von roten Ampeln magisch beleuchtetes Lokal in der Türkenstraße. Mit einer kleinen Bühne in einem Nebenraum. Deshalb hat Erich Mühsam seine Gedichte auch immer gleich von seinem Stuhle aus vorgetragen. Von mir nahm ja keiner Notiz. Aber ich habe dort Wedekind kennengelernt, dieses Stoßhorn! Und Roda Roda und Hans Thoma. Und die berühmte amerikanische Tänzerin Isadora Duncan. Und Hugo Koppel, aber der war gar nicht berühmt, der vertonte nur manchmal am Harmonium die Speisekarte.

Drescher: Zu Ihrem Debüt!

Ringelnatz: Ich hatte schon immer Verse geschrieben, schon als Kind, aber ich war schüchtern. Und ich hätte doch auch so gerne am Künstlertisch gesessen. Eines Nachts nun – ich hatte mir Mut angetrunken – habe ich Kathi gefragt, ob ich auch ein Gedicht aufsagen durfte. Kathi Kobus war die Besitzerin und sehr geschäftstüchtig. Es wurde ein durchschlagender Mißerfolg. Nur ein paar Leute haben etwas geklatscht, mehr aus Mitleid. Nach einigen Tagen wieder. Aber es dauerte nicht lange, da habe ich mich zum dritten Male aufgerichtet und vorgetragen: „Der Simplicissimustraum“. Von diesem Abend an saß ich am Künstlertisch! Jetzt hatte ich auch einen Künstlernamen „Der Hausdichter“, brauchte zwei Schoppen pro Abend nicht mehr selbst bezahlen, und als ich berühmt war, habe ich Abendgage bekommen: eine Mark für das zweimalige Aufsagen von vier bis fünf Gedichten im Laufe der Nacht. Und Trinkgelder.

Drescher: Konnte man denn davon leben?

Ringelnatz: Von Kithis Gagen konnte keiner leben. Ich hatte mir aber im Laufe der Jahre fünfhundert Mark gespart. Zur Gründung einer soliden bürgerlichen Existenz. Ich war schon dreißig Jahre alt! An jedem Reklameverswettbewerb habe ich mich beteiligt, und ich habe oft gewonnen. Mein Hauptgewinn war ein Bauer, dem habe ich einen Kartoffelnamen erfunden, für vierzig Mark. Ich habe auch für Mäzene lüsterne Gedichte angefertigt, für den Stammtisch.

Drescher: Sie waren Besitzer eines Tabakgeschäftes!

Ringelnatz: Da hatte ich zugegriffen, weil der Laden gleich in der Nähe war, in der Schellingstraße. Da wurde aus meinen Ersparnissen mein „Tabackhaus zum Hausdichter“. Ausgestaltet hatte ich alles nach eigenen Entwürfen, nur ein Totengerippe mußte ich auf Betreiben der Hauswirtin wieder aus dem Fenster nehmen. Meine Reklamekarte: Vorzügliche Cigarren & Cigaretten. (Bisher noch kein Todesfall). Prompte Lieferung nach Auswärts. Sehensw. Kunstschätze u. Merkwürdigkeiten. Treffpunkt der gebildeten Raucherwelt. Damen und Herren werden auf Wunsch gegen Bezahlung angedichtet. Jedermann wird gebeten, recht zahlreich zu erscheinen. Es grüßt der Hausdichter!
Spektakuläre Geschäftseröffnung mit allen meinen Freunden am 1. März 1913. Erloschen ist meine Firma ganz leise und nur mit mir allein am 31. Dezember des Jahres.

Drescher: Ein Bankrott?

Ringelnatz: Imponderabilien. Unwägbare Einflüsse. Das ist wohl alles nie so recht ergründet worden. Ein wenig, Schuld trug auch der Umstand, daß ich oft tagelang mein Geschäft nicht geöffnet habe. Auch sind wir nach durchzechter Nacht in meinen Laden gezogen, um unsere Fröhlichkeit dort fortzusetzen. Da störten uns natürlich die Kunden. Und der Markt ist hochsensibel!

Drescher: Ihre Schlüsse! Sollten wir nicht ein letztes Mal den Versuch wagen, aus dem Biographisch-Anekdotischen hinüberzuwechseln in einen kleinen Exkurs über den Bau, die innere Struktur Ihrer Gedichte?

Ringelnatz: Prost!

Drescher: Heinrich Heine liebte es, seinen naiv-stimmungsvollen Gedichten schockierend ironische Schlüsse zu geben. Einige lhrer Gedichte folgen anscheinend dieser Tradition. In liebevoller Weise beschreiben Sie einen kleinen Hund; glauben aber nach sentimentalen Passagen erwähnen zu müssen, daß dieser kleine Wolleball Ihre Hausschuhe gleichsam als eine Art Laternenpfahl…

Ringelnatz: Er hat mir immer in die Hausschuhe geschissen!

Drescher: Ja. – Stehen Sie mit solchen Schlüssen bewußt in einer Heine-Tradition?

Ringelnatz: In einer Tradition des Lebens. Das Leben hat so oft nach sentimentalen Passagen meine Hausschuhe als eine Art Laternenpfahl… Dir noch nie?

Drescher: Prost!

Ringelnatz: Aber anderen ist es viel schlechter ergangen; ich war doch nur ein Matrose. Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, die Sonne stand zum Gruße der Planeten, bist alsobald und fort und fort gediehen…

Drescher: Goethe. Urworte, 0rphisch.

Ringelnatz: Kennst du von ihm auch einen berühmten Vers mit Rinderbrust? Aber ich! Was von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht durch das Labyrinthderbrust wandelt  in der Nacht!

Drescher: Geben Sie mir mal die neue Flasche.

Ringelnatz: Als ich Aushilfsfremdenführer war auf der Burg Lauenstein, die hatte ein gewisser Dr. Meßmer gekauft. Das war auch so ein Don Quijote, aber reich! Der hat bei Vollmond um Mitternacht, auf dem Söller die Trompete geblasen. Wir haben uns gut verstanden. In dieser Burg trabe ich die Besucher experimentell geführt. „In der Tiefe dieses Brunnens sehen Sie: deutlich zwei menschliche Gerippe, verbunden durch einen goldenen Reif!“ Und alle haben gesehen.

Drescher: Was sah man wirklich?

Ringelnatz: Ein schwarzes Loch. Wer nun partout nichts sehen wollte, den habe ich mir einzeln rangeholt: „So müssen Sie sich stellen! So! Na?“ Jetzt sah der auch. Das hat mir oft zu denken gegeben, in bezug auf die menschIiche Willensfreiheit: Mir hat auch ein an und für sich recht dummes Mädchen einmal gesagt; ich hätte wohl nie so recht Mutterliebe genossen. Nun war mein Vater weich und gütig, aber in jenem „unergründlichen See von Liebe“, so hatte sich das Mädchen ausgedrückt, bin ich wohl nie geschwommen.

Drescher: Herr Ringelnatz, jetzt ist uns der rote Faden aber entfallen.

Ringelnatz: Laß ihn liegen. Das Beste an so einem Hafenkneipengespräch, das läßt sich eigentümlicherweise sowieso nicht auf so einen Faden fädeln. Das sagt dir Kuttel Daddeldu, und dem hat als Schiffsjunge der Kapitän, Pommer hieß der Kerl, vor Martinique für eine Tarantel und sechs Skorpione den Kognak verweigert. Wo ich doch keinen Spiritus hatte für eine Konservation.

Drescher: Konversation!

Ringelnatz: Konservation.

Drescher: Lieber Herr Seemann, wie wir das alles abschließend in einer Wertung; und Würdigung von Leben und Lebenswerk… Mir ist auch gar nicht mehr gegenwärtig, waren wir denn mit unseren Exkursen zu einem positiven Ergebnis gekommen? Schenk mir doch noch mal von dieser Insel, wo du diese Flaschenpost…

Ringelnatz: Die Buddel kommt jetzt da hoch, und dort oben bleibt sie! In meinem Etablissement wird nicht randaliert! Wir müssen heute noch systematisch und chronologisch mein halbes Leben abhandeln ohne Abschweifungen! Denn am 1. August 1914 habe ich mein Testament gemacht, obwohl mein Vater mir geschrieben hatte: „vielleicht kommst Du gar nicht dran, wegen Deiner Füße.“ Aber ich war bis an den Rand meiner Brust mit Abenteuerlust erfüllt:. Und die Bevölkerung in Wilhelmshaven war uns Matrosen sehr zugetan. Mir hat sich eine große, schöne Dame erboten, Namensläppchen in meine Unterwäsche einzunähen!

Drescher: Sind Sie Kommandant eines Minensuchbootes geworden?

Ringelnatz: Und Leutnant der Reserve. Obwohl mich mein Vorgesetzter, ein Gewisser Bertelsmann, nicht leiden konnte. Er hatte einmal im Kasino geäußert: Dieser Kröpel wird auf keinen Fall Offizier! Es war nämlich dort bekannt geworden, daß ich literarisch einen Ruf hatte, und da hatte der einen großen, schönen, langlockigen Dichter erwartet. Aber das war aIles schon am Ende des Krieges. In meiner Cuxhavener Zeit. Da hatte ich gar kein Schiff  mehr, da habe ich mit meinen Leuten große Terrarien gebaut. Paradiese für Eidechsen, Schlangen, Frösche und Kröten. Kröten haben wunderbare, goldumrandete Augen. Sie sehen einen an wie Festredner. Mein Bursche und ich, wir mußten in jeder freien Minute auf der Wiese rumrennen, Fliegen, Würmer und kleine Frösche fangen. Es diente ja einer guten, friedlichen Sache. Aber manchmal, besonders nachts, wenn ich an meinem Drama „Der Flieger“ geschrieben habe, da überfiel mich so eine nervöse, unheimliche Angst. Es ging dann auch alles Schlag um Schlag: Es verbreitete sich das Gerücht, daß der Kaiser wünsche, das Volk soll sich mehr an der Regierung beteiligen; die patriotischen Briefe meines Vater entsprachen gar nicht mehr meinen eigenen Ansichten; in meinen Terrarien haben die Eidechsen zweimal ihre Jungen gefressen; und der Drei-Masken-Verlag schickte mir mein Dramenmanuskript zurück; ganz zerknittert.
In diesen Nächten habe ich „Macbeth“ gelesen. Und schon bildeten sich in Cuxhaven, Arbeiter-und-Soldaten-Räte. Ich habe getan, was in meinen Kräften stand; es müssen über hundert Reden gewesen sein, die ich gehalten habe. Aber für die Matrosen war ich ein Offizier, und für die Offiziere war ich nur ein Kröpel.Was für eine helle Begeisterung lag auf den Gesichtern, als sich einmal eine malerische Demonstration mit leuchtend roten Fahnen durch die Straßen bewegte! Da bin ich zum Admiral gegangen; dort habe ich energisch verlangt, daß wenigstens die dringendsten Forderungen der Matrosen anerkannt werden. Der hat mich angeschrien: „Was muten Sie mir zu? Wer sind Sie überhaupt! Sie! Sie!“ Ich war ihm doch als kleiner Reserveleutnant nie vorgestellt worden. Meine Soldaten hingen auch nicht mehr mit der alten Liebe an mir. Ich war ganz verzweifelt. – Immer hatte ich nur das Beste gewollt, und jetzt stand so eine graue, kalte Luft an meinem Himmel.

Drescher: Ach Herr Bötticher, wir sind gewiß schon auf Seite 17, und Sie sind kaum aus dem ersten Weltkrieg heim. Und kein Exkurs ist absolviert, und keine Wertung und Würdigung, und laut PIan hatten wir doch für das Ganze nur 8 Seiten.

Ringelnatz: Hättest du doch ein Wort gesagt; gleich, ehe wir uns gesetzt haben! Da hätten wir doch alles schön ordentlich und exIursisch und vor allem chronologisch!

Drescher: Mir kommt jetzt so eine Ahnung, warum über Ihr so verbreitetes Werk und Leben so relativ wenig fundierte , theoretische Untersuchungen… Aber für dieses Mal ist es zu spät.

Ringelnatz: Das wird doch nicht dein letzter Versuch sein. Ich habe doch auch nach dem Kriege zwei Jahre lang vergeblich versucht, wieder ein Engagement im Simplicissimus zu kriegen! Da war ich inzwischen bei der Postzensur in München und Gartenbauschüler in Freyburg an der Unstrut und… viel arbeitslos. Vom Simplicissimus hat mich Hans von Wolzogen dann direkt nach Berlin verpflichtet. An das berühmte Kabarett Schall und Rauch. Im Herbst 1920 erschienen auch meine Bücher Turngedichte und Kuttel Daddeldu. 1925 war ich drei Wochen lang in Paris! In diesem Jahre hat auch die sehr berühmte und erste Galerie am Platze Flechtheim eine Ausstellung meiner Ölgemälde eröffnet. Eigentlich habe ich sie eröffnet, mit eigenen Gedichten. Und in der ersten Stunde wurde schon gekauft!
1928 habe ich eine Flugreise nach London gemacht und einen Freiballonflug in Augsburg. Eine Ballonfahrt mit Autoverfolgungsrennen! Bei der Landung sind wir in einem Baum hängengeblieben; aber mir ist nichts passiert, nichts Ernsthaftes. In dieser Zeit sind auch meine Reisebriefe eines Artisten erschienen und autobiographische Prosa Als Mariner im Kriege. Ein Jahr nach meinen Flügen, kamen auch meine Flugzeuggedanken. 1930 erfolgte dann der endgültige Sprung nach Berlin. Am Sachsenplatz Nr. 12 habe ich ein Atelier bezogen. Und dort hat mehrmals diese Nachtigall gesungen, wie ich es auf Seite 91 f. etwas sentimental beschrieben habe. Von hier aus habe ich Vortragsreisen in alle Welt unternommen; nach Wien, nach Prag, nach Zürich. Es ist wieder Biographisches von mir erschienen: Mein Leben bis zum Kriege. Und mit Erfolg! Mein Verleger, Ernst Rowohlt, hat mich immer wieder animiert, „Mein Leben nach dem Kriege“ zu schreiben; aber ich war nicht mehr so gesund, wie es wünschenswert gewesen wäre. Ein Drama habe ich noch geschrieben, Die Flasche. Und nach so langer Zeit darf ich es sagen: Ich hatte es für Asta Nielsen geschrieben. In heißer Verehrung. Ich habe es ihr auch selbst vorgelesen in ihrem Sommerhaus auf Hiddensee. Sie sollte die Seemannsbraut Petra spielen. Sie hat sie nicht gespielt. Es schien ihr alles zu sentimental. Und es war mit meinem Herzblut geschrieben. Da bin ich mit Nordhausener Schauspielerkollegen auf Tournee gegangen. Von Mai bis Juli 1932. Harte Wochen. Ich war der Hauptdarsteller, die Zugnummer auf allen Plakaten: Joachim Ringelnatz ! Aber als ich alle Steuern bezahlt hatte und alle Gagen ausgezahlt… Und Ich hatte doch auch das Stück geschrieben! Dabei habe ich noch nicht einmal alle Steuern bezahlt.

Drescher: Wie denn das?

Ringelnatz: Aber meinen 50. Geburtstag hat man im Hotel Kaiserhof gefeiert. Da habe ich ganz gerührt erfahren; wie viele Freunde ich doch hatte.

Drescher: Wir haben uns und keine Würdigung…

Ringelnatz: Komm, ich bring dich an Land!
Da muß eben Kuttel Daddeldu mal wieder an Deck und den lecken Kahn flottmachen. Euch hat doch von allen Masken, hinter denen ich mich versteckt hatte, die vom angedudelten Kuttel Daddeldu immer am besten imponiert; und gelacht, habt ihr immer am lautesten, wenn ich so große Angst vor allem hatte. Deshalb habe ich auch immer mal was getrunken, ehe ich auf meine kleine Bühne gestiegen bin; nachher nur, weil ich so müde war, und manchmal so verbittert. Oder glaubt denn einer, es wäre nur vorteilhaft, so schief ins Leben gebaut zu sein? Ob nun in einem kleinen Ort in der Mancha oder tief im Innersten von Sachsen. Kinder, ihr glaubt nicht, wie lebensgefährlich so eine einsame Reise unter diesen vielen Menschen ist. Und es kann doch keiner aus seiner Haut, aus dieser Schwarte, die so rauh wird, aber das Herz will nicht verhornen. Oder was weiß ich. Man hat doch auch seinen Stolz. Und wieviel Merkwürdiges sich ansammelt in einem Leben hinter so einer Maske! Und wie lange der Mensch braucht, bis er bemerkt, daß Amseln keine Käserinde nehmen: Aber ich habe immer eine Blume im Knoploch getragen! Es war manchmal auch nur ein Krautblatt oder ein Hobelspan oder ein längliches Steinchen. Wovon habe ich Abschied nehmen müssen ganz am Ende? Vom Spatz ohne Schwanz. Wir hatten keinen günstigen Wind. Vergeßt das nicht in besserer Zeit.

 

 Joachim Ringelnatz (1883–1934)

Alle Mann an Bord, ihr Mühseligen und Geladenen, in meine himmlisch verschwimmende Hafenkneipe, komme, wer ein Gelüste hat auf Lust, in See zu stechen und anderswo. Verlaßt den schwanken Boden der Nüchternen, und kommt in das undichte Boot meiner Dichtung, zu einer Hafenrundfahrt um die Welt.
Kommt, ihr Sehleute, (Ein Blick ins Glas gibt mehr Sehschärfe als das beste Scherenfernrohr), und dann zwei Blicke ins Leben: einer von oben herab, vom Mastkorb, und einer von unten, auf die Planken hingestreckt, kühn der Zeit unter die Röcke geblinzelt.
Laßt uns eines zwitschern wie die Nachti-Galle, daß es an Herz und Nieren geht, ins Auge, und meistens ans Zwerchfell (2,5-53,7% Geist pro Gedicht werden garantiert).
Dies sagt euch der Ringelnatz, erfahren in allen Untiefen und in mehr als dreißig Berufen, darunter: Schlangenbändiger (die Schlangen werden sich bilden, wenn dies Büchlein erschienen ist – vor den Buchläden).

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1988

 

Von Kuttel Daddeldu kam er nicht los.

– Joachim Ringelnatz, das vervielfachte Original. –

Sein literarisches Nachleben, Weiterleben hat etwas Klabauterhaftes, und ich glaube nicht, daß man das nur in ihn hineinsieht. Obwohl es eine Ringelnatz-Mode nach dem letzten Krieg nie gegeben hat – wie wir etwa zweimal von einer Benn-Welle sprechen konnten und anderthalbmal auch von einem Brecht-Trend –, sind der kleine Mann und sein luftiger Mythos einfach nicht aus der Welt zu kriegen, aus dem anhänglichen Gedächtnis seiner Leserwelt nicht. Auch ohne das Vorhandensein einer kritischen Gesamtausgabe spuken seine Gedichte als quicklebendige und leicht zitierbare Geister in vielen Köpfen herum. Kaum daß man ihn für vergessen hält, hat sich gerade wieder jemand an seine Fersen geheftet, ihn für sich an Land gezogen, ihn einer Neuauswahl oder philologischen Untersuchung für würdig befunden, die im Augenblick letzten Liebesbeweise: ein von Norbert Gescher besorgtes Sammelbüchlein im Rowohlt Verlag und eine stilkundliche Analyse von Leben und Werk von Walter Pape bei de Gruyter.

Papes Buch, das der Wissenschaft dient, ohne die gemeine Leserschaft dabei gleich aus den Augen zu verlieren, hat uns allerhand Wissenswertes auch über Ringelnatzens geheime Anziehungskräfte mitzuteilen. Obwohl dessen häufig zitierte und gar nicht genug zu rühmende „Originalität“ sich bei näherem Hinsehen als ein ziemlich buntes Bukett von ziemlich ausgefallenen Vorlieben entfaltet (ein Exmariner im Matrosenanzug auf der Brettlbühne, wo gibt es das schon ein zweites Mal?), scheint die Mischung dennoch nicht derart extravagant, daß sich nicht eine ganze Menge ähnlich verschrobener Subjekte und vergleichbarer Abnormitäten darin zu erkennen vermöchte. Nehmen wir einmal an, daß die Poesie eigentlich nie eine schönere Aufgabe gekannt hat, als der Abweichung von der Norm zum öffentlichen Ausdruck zu verhelfen, dann bedient sich bei Ringelnatz zweifellos eine Klientel von Einzelgängern, die mit ihm (und Paul Scheerbart) Charakter für Eigensinn hält und das Vorhandensein von vorkragenden Persönlichkeitszacken für beachtlicher als ein angepaßtes Strömungsprofil. Abgesehen von sogenannten ästhetischen Werten (oder was uns die Literatur so lieb und teuer macht) genießen wir in der Ringelnatz-Nummer auch den Sieg des solitär Handgemachten über den Konfektionsartikel – eine wahrhaft rare Erscheinung auf der mit positiven Helden nicht gerade voll gestellten Bühne der modernen Poesie.

Über das, was bei einer tragikomischen Maske das eigentlich Erhebende sei – der heitere Schein von Fassung oder ihre heimlichen Leidensgründe –, läßt sich natürlich gut streiten. Das erklärt vielleicht auch, warum in der Ringelnatz-Gemeinde der rechte logenbrüderliche Geist bislang nicht aufkommen wollte und das Gerangel um einen Platz an Ringelnatzens grüner Seite immer gleich diesen sonderbaren Anstrich von Querulantismus bekommt. Schon die 1964er Biographie von Herbert Günther eröffnet mit einem charakteristischen, weil besitzergreifenden Angriffszug:

Über kaum einen Künstler dieses Jahrhunderts ist soviel Unsinniges und Entstellendes verbreitet worden wie über Joachim Ringelnatz.

Und ganz ähnlich leitet zehn Jahre später Walter Pape seine Untersuchung mit einem besserwisserischen Schlenker auf die oft mißverstandenen Gedichte und das mißverstandene Leben ein. So insinuiert beinah jeder neue Deutungsversuch zunächst einmal das begrenzte Fassungsvermögen aller anderen Ringelnatzianer und gibt bereits im voraus zu erkennen, daß es mit dem wahren Verständnis jetzt erst richtig losgehe.
Um der Kutteldaddeldukunde neu auf die Sprünge zu helfen und sich von seinen Mitbewerbern gleich gehörig zu unterscheiden, hat der Germanist Walter Pape zwei nicht oft zusammen vor einem Wagen gesehene Steckenpferde zugleich aufgezäumt: die Lernpsychologie und – man sollte das zunächst einmal gelassen zur Kenntnis nehmen die von Alfred Adler begründete Lehre von den Organminderwertigkeiten und den sie begleitenden Kompensationsbedürfnissen. Die wunderliche Paarung stellt sich bei näherem Hinsehen nämlich als ganz vernünftiges und leistungsfähiges Gespann heraus. Folgt man dem Verfasser nur mit der gebotenen Unbefangenheit auf seinem dreigliedrigen Untersuchungsgang („Der Vater“ – „Der Nasenkönig“ – „Das uralt Kind“), stellt man mit wachsendem Aha-Vergnügen fest, daß die ungleichen Methoden sich vorzüglich ergänzen und die Kompensationstheorie immer dann kompensierend einspringen kann, wenn komplizierte Bildungsprozesse sich nicht einfach in die Klippschuldialektik von Trial and Error, Reiz und Reflex oder Lohn und Strafe fügen wollen. Was sich im Eingangskapitel noch einfach mit lernpsychologischen Begriffen erklären läßt, die geistige Abhängigkeit des jungen Hans von seinem Vater Georg Bötticher (einem bekannten Mundartdichter und Lokalliteraten) und seine schrittweise Einübung in den bürgerlichen Harmoniekanon des Guten, Wahren und Schönen, lenkt wie von selbst zu einem Schwenk in der Optik über, als der jugendliche Träumer ziemlich unsanft – und man muß schon sagen, direkt mit der Nase – auf die Widersprüche dieses Harmoniesystems gestoßen wird.

Daß man einen kleinen Hans seiner langen Nase wegen zu hänseln beginnt, kann für diesen gelegentlich folgenreicher sein als der große Wogengang der Weltgeschichte. „Ich bin überzeugt, daß mein Gesicht mein Schicksal bestimmt“, äußert der Dichter noch im Jahre 1924 gegenüber einem Journalisten, „hätte ich ein anderes Gesicht, wäre mein Leben ganz anders, jedenfalls viel ruhiger verlaufen.“ An solche Selbstaussagen und zahlreiche ähnlich klingende hängt Walter Pape sich mit wahrhaftigen Alfred-Adler-Augen an, um einem verschlungenen Lebenslauf/Bildungsgang auf die Schliche und den poetischen Motiven auf den Lebensgrund zu kommen. Die wirklich beunruhigenden Kollisionen zwischen dem Ich und der Welt finden für Pape eben nicht in jenen abgehobenen Ideensphären statt, wo die großen philosophischen Antithesen aufeinanderprallen, sondern auf jenem unscheinbaren Abenteuerspielplatz, wo eine unverhältnismäßig lange Nase leidigerweise immer wieder aneckt und ein hähnchenhaftes Gestältchen zum tragischen Spottobjekt werden kann. Das entidealisiert die geläufige biographische Schönschreiberei allerdings beträchtlich und stellt, was wir gedankenlos „Tragödie“ nennen, endlich einmal auf die ungeraden Beine. „Ich weiß, daß ich häßlich bin. Meine Beine sind krumm. Ich habe ein schiefes vorstehendes Kinn“, so Ringelnatz in einem Romanfragment aus dem Jahre 1910; und wer es nicht glauben will, daß das dem Autor höchstpersönlich aus der Seele gesprochen ist, kann sich die Identität noch einmal durch seine Autobiographie Mein Leben bis zum Kriege bestätigen lassen:

Es stand schlimm für mich, denn ich hatte krumme Beine, eine lange Nase und einen Gang, der ebenso unsicher war wie meine Handschrift. Telschwo dagegen war ein stattlicher Bursche, der sich mit einer spaßigen Eitelkeit kleidete und pflegte.

Die Konfrontation eines augenscheinlich Zukurzgekommenen mit einem Musterbild von Stattlichkeit und Selbstgefälligkeit gehört hier natürlich zur Selbstdramaturgie, und Walter Pape ist ihr unerschrockener Interpret. Immer hart am Text und am schwankenden Bildungsgang entlang, verfolgt er den Lebensweg eines in vielen Berufen gescheiterten Außenseiters, dessen Besonderheiten zunächst einmal als Absonderlichkeit auffallen und dessen spätere Markenzeichen ausnahmslos aus Pariamalen entwickelt scheinen. Erst im mutwilligen Überzeichnen der bedrohlich vorkragenden Körpermerkmale (Adler würde sagen, in ihrer Überkompensation) gelingt es Ringelnatz, das Bild des Jammers zu einer allgemein belustigenden Maske umzuschneidern und das erwartete Gelächter der Umwelt – selbstherrlich – zu antizipieren. Erst in der Gestalt des unermüdlich besoffenen Seelords Kuttel Daddeldu beweist sich der unfreiwillig in die Mangel Genommene überzeugend als sein eigener Schicksalslenker. Die geliebten Schiffsplanken, die ihm einmal die Welt bedeuteten, mit den Bühnenbrettern vertauschend, bewegt er sich auf dem ungewohnten Parkett mit einer Grandezza, als wäre er noch auf See und die Vergangenheit noch nicht zu Ende: ein Selbstaufhebungsakt, wie ihn die Kunst nicht alle Tage zustande bringt und ein Hans Bötticher auch nur bei restloser Hingabe seiner Privatperson an die Kunstkarikatur. „Das Publikum aber“, schreibt Pape, „identifizierte ihn selbst mit seiner Selbstparodie. Der einst von Heldentod und Gefahren Träumende, der sich noch als Reserveoffizier ,wie ein Dandy‘ pflegte, wird jetzt zur unfrisierten Kuriositätennummer.“
Sich in Masken fassen heißt sich selbst verdoppeln, heißt sich selbst zerteilen, heißt sich potenzieren – ein Prozeß, der das Subjekt in ständiger Bewegung zeigt und Identität nur in der Verwandlung erkennen läßt. Die verwegene Aufteilung einer Person in eine Vielzahl von Widergängern, die auch nicht nur Ringelnatz oder Daddeldu heißen müssen, sondern sprechende Namen wie Zwieback, Wandelhub, Pinkomeier oder Gustav Heester tragen, lassen die Suche nach sich selbst als ständige Flucht in immer neue Alibis erscheinen, wobei die Selbstvermummung und die Selbstverhüllung nur zwei Seiten der gleichen sprechenden Maske sind. Die berechtigte Frage nach der pädagogischen Bezugsperson, die uns zu Anfang noch gar kein Problem war, wird dabei zunehmend verfänglicher. „Wer ich bin? – Sie meinen, wie ich heiße?“ fragt der Seelord Kuttel Daddeldu eine „schöne Unbekannte“ in der Geisterballade „Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument“, aber die Frage selbst ist ja schon so doppelsinnig wie der Eindruck fortschreitender Trunkenheit und drohender Geistesverwirrung trügerisch, denn was sich hier im Schatten des Wilberforcemonuments ein nächtliches Stelldichein gibt, sind selbst nur Schatten, Schemen und geschminkte Larven: ein Vexierspiel, das aus der Fragwürdigkeit kommt und am Ende programmgemäß im Ungefähren verläuft.

Das ist nun kein richtiger Scherz.
Ich bin auch nicht richtig froh.
Ich habe auch kein richtiges Herz.
Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.
Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo
Im Muschelkalk.

Daß man so etwas auch mißverstehen kann, scheint mir läßlich und eigentlich ganz in der Ordnung. Wer sich selbst einen „Mann mit Ringelnatzmiene“ nennt und sich augenzwinkernd von einer Rolle in die andere und darüber begibt („Ich fliege, ein krächzender Rabe, über mich selber hin“), kann die mit List hintertriebene Eindeutigkeit hernach nicht gut wieder einklagen. Was der Verkennung bisher ihre breiteste und zugleich auch ödeste Angriffsfläche vorlegte (das mit Virtuosität allein nicht erklärte Vermögen, die großen Weltenrätsel als Kabarettpiece vorzuführen), ist ja gerade die Kunst in der Kunst und – im Vergleich mit dem Durchhängewesen unserer zeitgenössischen Depressionspoesie – die anspruchsvollere Disziplin mit dem höheren Schwierigkeitsgrad. Das Schwere leicht zu machen, und zwar im Zweifelsfall so leicht, daß es bis in die hinterletzten Parkettreihen trägt, verleiht dem oft gedankenlos benutzten Begriff ,Artistik‘ einen praktischen Sinn, wie er vor Ringelnatz überhaupt nie ernsthaft erörtert wurde; aber natürlich, die Zeiten lassen sich absehen, wo nach den Endzeit-Tragöden auf ihren Bleikothurnen die neuen Unerheblichkeitshansel folgen, die uns das Gewicht unserer Welt an Papphanteln demonstrieren.

Gewußt und vorausbefürchtet hat das alles Ringelnatz selbst. Von den bedeutenden Systembildnern unserer lyrischen Galaxis ist er mit Sicherheit die labilste Erscheinung, das störungsanfälligste Gleichgewicht, weshalb wir den Artisten auch ständig am Pendeln, am Schlenkern, am Austarieren seines fein abgestimmten Equilibriums sehen. Wo er meint, des Guten zuviel getan und sein leicht gerührtes Herz zu weit geöffnet zu haben („ich bin etwas schief ins Leben gebaut. Wo mir alles rätselvoll ist und fremd“), zieht er sofort ein paar Gramm Gemütlichkeit wieder ab und legt statt dessen einige Scheiben Aufschnittextra drauf („Da wohnt meine Mutter. Quatsch. Ich bitte dich, sei recht laut“). Wo man ihm andererseits nur um einen Hauch zu nah auf die Pelle rückt – Dichter zum Anfassen, so weit kommt’s –, entpuppt sich die einladende Geselligkeit auf einmal als die reine Berührungsangst:

Es war ein scheues Wort.
Das war ausgesprochen.
Und hatte sich sofort
Unter dem Sofa verkrochen.

So verlagert er seinen Schwerpunkt mal hierhin, mal dorthin, gibt sich aufgeräumt, laut, populär, geschwätzig, mitteilungsselig, um dann plötzlich und scheinbar improvisiert in die reinsten Himmelshöhen abzuheben: eine Selbstfindungsequilibristik, die auf Erden ihresgleichen sucht und sich wissenschaftlicher Neugier und philologischem Feststellungswahn auf ihre eigene luftdurchlässige Weise entzieht. Gegen das einfache Begreifen oder Begrabbeln sträubt sich hier nämlich aus einem verborgenen Herzensgrunde alles. Es ist das „scheue Wort“ – ja, was ist es, wenn nicht selbst ein schwebendes Gleichnis für das heimliche Elfenwesen des Gedichtes, seinen astralen Unbegreiflichkeitsgeist. Aus den Himmeln ungetrübter Beziehungslust ins kleine Welttheater und dann auch gleich unter die Leute verschlagen, lauscht es dem erhofften Zuspruch/Widerhall immer auch mit einem Rest von Bangen entgegen. Was man bei Ringelnatz einerseits als Flucht nach vorn lesen muß – das Herunterinszenieren seiner inneren Stimmen für den öffentlichen Amüsierbetrieb –, kann sich nämlich im Wortumdrehen in sein Gegenteil verkehren, Angst vor dem lauten Anklang, Angst vor dem groben Anhang, so daß die eben noch so munter gezogenen Register einen Atemzug später in einem geisterhaften Echoraum zu verhallen scheinen.

Kam aber sehr bald ein Parodist
Mit geschäftlich sicherem Blick,
Tauchte das Wort mit Speichel und Mist
In einem Aufguß gestohlener Musik.
So ward es publik.
So wurde es volkstümlich laut.
Und doch nur sein Äußeres, seine Haut,
Das Klangliche und das Reimliche.
Denn das Innerste, Heimliche
An ihm war weder lauschend noch lesend
Erreichbar, blieb öffentlich abwesend.

Der so wenig schmeichelhaft über den Parodisten spricht, ist selber einer, aber, unter uns und bei allen von ihm beschworenen Geistesverwandten, was für einer! In den „Turngedichten“ von 1920 – noch im gleichen Jahr auf Ernst von Wolzogens Kleinkunstbühne Überbrettl vorgetragen – trainiert er sich zunächst mit einigen scheinbar frivolen Doppelgriffen in die zweifelhafte Materie ein. In dialektischer Verschränkung von besonders gestelzten Gangarten unserer heimischen Hochpoesie und gewissen gegen den Geist des Körpers gerichteten Exerzitien des völkischen Turnwesens gelingt es Ringelnatz, die überhöhten Kraftaufwände der einen Disziplin so überzeugend in die schiefen Stilisierungen der anderen hinüberzuspiegeln, daß am Ende die reine Götterkomik herausschaut. Die Beispiele, die uns Papes Buch in bemerkenswerter Fülle vorführt, sind in jedem Fall belehrend und belustigend zugleich, und das nicht etwa, weil der Appell an unsere Lachnerven von der erwarteten Unvereinbarkeit der Sphären zehrte. Die wahre Tollheit liegt ja gerade in ihrer unverhofften Vergleichbarkeit, der eigentliche Aberwitz in einem mit Tücke inszenierten Satyrspiel der wechselseitigen Entstellung. Das hochfahrendwolkenkratzende Pathos von Schillers Lehrgedichten und die antiquarische Scheinlebendigkeit von Uhlands Balladen, die bis an den Rand der Sehnenzerrung überdehnten Imponierfiguren Stefan Georges oder Rainer Maria Rilkes und der offensichtlich auch um einen Tick zu pastos aufgetragene Überheblichkeitsgestus von Goethes „Prometheus“, alles trifft sich auf einer sozusagen zirzensischen Wettbewerbsebene mit der Kunst des Kraftsports und der gymnastischen Körperverrenkung, wobei als heimlicher Sieger der Veranstaltung allemal der fadenziehende Artist herausschaut.

KNIEBEUGE

Kniee – beugt!
Wir Menschen sind Narren.
Sterbliche Eltern haben uns einst gezeugt.
Sterbliche Wesen werden uns später verscharren.
Schäbige Götter, wer seid ihr? und wo?
Warum lasset ihr uns nicht länger so
Menschlich verharren?
Was ist denn Leben?
Ein ewiges Zusichnehmen und Vonsichgeben. –
Schmach euch, ihr Götter, daß ihr so schlecht uns versorgt,
Daß ihr uns Geist und Würde und schöne Gestalt nur borgt.
Eure Schöpfung ist Plunder,
Das Werk sodomitischer Nachtung.
Ich blicke mit tiefster Verachtung
Auf euch hinunter.
Und redet mir nicht länger von Gnade und Milde!
Hier sitze ich; forme Menschen nach meinem Bilde.
Wehe euch Göttern, wenn ihr uns drüben erweckt!
Beine streckt!

Tiefsinnig genug scheint mir so etwas immer noch, und ich frage mich zweifelnd, was uns eigentlich mehr bewegt, der herausfordernde Gestus prometheischer Selbstüberhebung oder die an den Narrenhimmel versetzte Klage über des Menschen existentielle Unerheblichkeit. Ihren Gesangsunterlagen durch eine Vielzahl von seltsam verzwirbelten Nervenfäden verbunden bleibt die Parodie ohnehin. Als in Poesie gefaßter Nachruf! Widerruf! Abgesang hängt sie ihnen vielleicht sogar inniger an als jede bloß akademisch formelle Ehrenbezeigung – so frisch, so frech, so teilnahmsvoll und kunstverständig umgesungen zu werden kann sich ein bemoostes Museumsstück doch eigentlich nur wünschen. Daß der Mann auf dem Hochseil seiner eigenen Nachfolgerschaft auf dem platten Markt dann mit allen Mitteln der Abstandnahme zu entkommen sucht, ist eine ganz andere Frage. Wie in kaum einem anderen ästethischen Genre lassen sich in der Parodie legetime Erbansprüche und sinistres Erbschleichertum nur schwer auseinanderhalten, und wir verstehen schon das Bedürfnis einer Eff-eff-Einzelerscheinung, sich der Verwechselung mit den Blödelmännern durch Verwandlung zu entziehen.
Was wir zu Beginn noch etwas naiv als „Original“ bezeichnet haben, entpuppt sich bei näherem Hinsehen also als ein ziemlich empfindsames Reflexbündel. Sich auf bedeutende literarische Vorbilder einlassen und sich kritisch von ihnen absetzen, sich in mediale Beziehungen begeben und die locker geknüpften Fäden dann wieder preisgeben, sich in scheinbar sakrosankte Erbstücke versenken und sie scheinbar respektlos von innen nach außen wenden, läßt als Verfahren sicher mehrere Deutungen zu, nur eben nicht die platte Etikettierung als Naturmethode. Im Gegenteil, womit wir es zu tun bekommen, ist Beziehungszauber von der raffiniertesten Sorte. Was über die flüchtige Varietevorstellung hinaus den bleibenden Effekt macht, ist das an jedem Punkt bewußte Spiel auf mehreren gegeneinander versetzten Schwingböden, eine technische Herausforderung, der nur der äußerste Kunstverstand im Verein mit einer absolut erstklassigen Fingerfertigkeit gewachsen ist. Allerdings – und das dürfen wir niemals vergessen –, wer hier das einfache Sesam-öffne-dich nicht erkennt, der kann noch so virtuos auf die alten Bücher eintrommeln, es kommt nur kalter Schall dabei heraus.
Daß die Parodie im Gegensatz zu der schlechten Meinung von ihr keine Knochenmühle, sondern eher ein wundertätiger Jungbrunnen ist, möchte ich nicht nur als Behauptung stehen lassen. In seinem berühmten und seit seinem Erscheinungsjahr 1863 unzählige Male nachgedruckten Winterstück „Vereinsamt“ schreibt Friedrich Nietzsche: „Die Krähen schrein – Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / – Bald wird es schnein, / Weh dem, der keine Heimat hat“, was natürlich mächtig zu Herzen geht. Zum anderen erinnere ich mich außer an meine eigene frühe Begeisterung für das Gedicht fast noch lebhafter an eine ornithologische Mängelrüge meines Philosophielehrers Günther Ralfs, der auch ein exzellenter Vogelkundler war:

Wer jemals Krähen beim Flug beobachtet hat, der weiß, daß sie im Gegensatz zu Kolibris nicht schwirren, sondern schaufeln.

Das ist für blinde Liebhaber eine etwas ernüchternde Einlassung. Sie unterstellt, daß auch in sogenannten Meisterwerken nichts derart hochgehängt ist, daß es der Nachfrage schon von sich aus enthoben sei. Und sie trifft sich sogar in augurischem Einverständnis mit einer stil- und vogelkundlichen Vermahnung Ringelnatzens: „Ein Rabe fliegt so schwarz und scharf / Wie ihn kein Maler malen darf, / Wenn er’s nicht etwa kann“ – aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus. Bedenklicher als die Gefahr, ein paar ohnehin lose Federn lassen zu müssen, scheint mir nämlich das bedauerliche Los von unzähligen schönen alten Gedichten, in stiller Vergessenheit zu verschimmeln, und wichtiger noch als das künstlerische Grundrecht auf Einmischung der Anspruch auf kritische Vergegenwärtigung. Wo die herrschende Traditions- und Altenpflege sich schon nur noch aus der Gipstüte bedient und unsere sogenannten „Experimentellen“ über ihre eigenen Schrittmacher hinweggaloppieren, als ob Avantgardismus noch etwas Neues sei, ist es immer wieder der parodistische Strippenzieher, der sein Seil zwischen gestern und morgen spannt und sein eigenes Schicksal mit dem seiner Vorgänger verbindet.

Zwischen den Bahngeleisen
Vertränt sich morgenroter Schnee. – –
Artisten müssen reisen
Ins Gebirge und an die See,
Nach Leipzig – und immer wieder fort, fort.
Nicht aus Vergnügen und nicht zum Sport.
Manchmal tut’s weh.
[…]
Der Schnee ist schwarz und traurig
In der Stadt.
Wer da keine Unterkunft hat,
Den bedaure ich.

Was als haltloser Scherz zu verflattern scheint – das Spiel, mit dem eigenen Reisedichterdasein und der Gruß eines Fahrenden an einen reisigen Vorfahren –, ist alles andere als unverhärmte Narretei. Beziehungsweise, wenn es noch so lustig tönt und närrisch schallt, so klingt darin doch immer noch die Narrenschelle der Verzweiflung nach: „Flieg, Vogel, schnarr / Dein Leid im Wüsten-Vogel-Ton! – / Versteck du Narr / Dein blutend Herz in Eis und Hohn!“ – Es ist so traurig, schrieb Erich Kästner gelegentlich eines Ringelnatz-Vortrags im Oktober 1924, „daß sich die meisten angewöhnt haben, über Ringelnatz als einen Hanswurst und Suppenkasper zu lachen. Merken denn so wenige, daß man keine Kabarettnummer, sondern einen Dichter vor sich hat?“ Dies Mißverständnis scheint mir freilich trotz des schönen Buches von Walter Pape immer noch so anhänglich wie die Verwandlung von Trübsinn in Erheiterungsgegenstände schwer. Und eher wird man noch den Komödianten im Tragiker entdecken (wie man Kafka immer mehr als Humoristen zu verstehen beginnt) als die abgründige Leidenswahrheit in der Spaßmacherrolle.
Daß sich das Vexierbild im Verständnis seines Publikums noch einmal zu einem richtigen Menschenbild aufhellen würde, war eine Hoffnung, der auch Ringelnatz schließlich nicht mehr vertraute. Wo das kühne Lachen über die eigene Unzulänglichkeit oft genug in schierem Gelächter untergegangen war, wurde ihm der Zwang zur Mimikry zunehmend zum heimlichen Tränenquell und die Selbstparodie zur Selbstquälerei. So sehen wir einen Mann, den die Flucht vor der Verkennung in seine eigene Karikatur getrieben hatte, am Ende vor den selbstgemachten Späßen zurückweichen: in die magische Flüsterstrophe – die Vergeblichkeitslitanei – den dunkelmurmelnden Wahrsagevers –, aber das sind dann schon so allerletzte Eröffnungen, die man nicht mehr mitpfeifen, sondern nur noch erkenntnisinnig nachseufzen kann.

Willst du Lachen gegen Lachen
Heucheln? Hohle Witze machen?
Daß du vorm Gewissen fliehst,
Öffentlich,
Lachenden Gesichts??
Hüte dich!
Weißt du, was du morgen siehst? – –
Vielleicht nur und für immer: nichts.

Peter Rühmkorf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.2.1976

 

RINGKAMPF

Ringelnatz, du Ningelmatz
Tingelspatz und Singellatz
Du Pingelfratz, du Fußes Kratz
Und Herzens Platzpatrone
Ohne Dich wär ich nicht
Kehrt ich nicht
Die Buchstämme zusammen.

Du Ammenbrust
Du Aberlust
Du Amboßkuß
Du Armeleutefreude
Hier und heute
Häute und hier
Ich ledere
Ich liebe dir.

Richard Pietraß

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Peter Rühmkorf: Joachim Ringelnatz zum 80. Geburtstag

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb +
Archiv 1 & 2 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Joachim Ringelnatz liest sein Gedicht „Im Park“.

 

Joachim Ringelnatz gelesen von Harry Rowohlt.

 

Nora Gomringer liest Joachim Ringelnatz: „Pssst!“.

Nora Gomringer liest Joachim Ringelnatz: „Das scheue Wort“.

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