Joachim Ringelnatz: Überall ist Wunderland

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Joachim Ringelnatz: Überall ist Wunderland

Ringelnatz-Überall ist Wunderland

DICHTER UND ERSTER ANHÖRER

Sie trugen zwei Sardellen
Zu Grabe. – – „Wer?“
Die Wellen,
Sie trugen sie vor sich her.

„Wieso zu Grabe? Wohin denn?“
Zu Grabe, zur ewigen Ruh!
„Wohin?“ – – Nun je nach den Winden,
Vielleicht nach Afrika zu.

Sie murmelten Weisen der Trauer
Wegweit, tagaus und tagein.
„Da werden sie auf die Dauer
Wohl heiser geworden sein.“

Schwarz winkte am fernen Gestade
Ein Grab – – „und der Abend sinkt,
Und deine Sardellenballade
(Ganz offen gesprochen), die stinkt“.

 

 

 

Joachim Ringelnatz

hatte eine Nase, die zur Karikatur reizte. Er liebte scharfe Getränke, und sein Seemannsgang wurde nicht zuletzt auf den Genuß derselben zurückgeführt. Und mancher wird denken, daß der Autor der Turngedichte und der Schöpfer des immer betrunkenen Kuttel Daddeldu ein Poet reinsten Feuerwassers gewesen sein mag. Doch „viel eher war er eine Art Don Quijote“, meint Hermann Hesse, „ein adliger Schwärmer edler Art mit einem Dichterherzen und einem kleinen Vogel im ritterlichen Kopf, ein Mann mit Knabenidealen, humoristischer Rhapsode, der einem satten und vergnügungsgierigen Publikum zwar Spaß machen, aber auch bittere Pillen zu schlucken geben wollte“.
Auf die Welt kam er als Hans Bötticher. Da er aber schon als Knabe zur See fahren wollte und den Seeleuten die Seepferdchen – auch Ringelnasse oder Ringelnatze genannt – als Glücksbringer gelten, bediente er sich später, nachdem er alle sieben Weltmeere bereist hatte, auch als Dichter dieses Pseudonyms.
Die Laufbahn des Spießbürgerschrecks begann 1909 im Münchner Simpl bei Kathi Kobus. 1920 trat er dort wieder auf und wurde von da an Max Reinhardts Berliner Kleinkunstbühne Schall und Rauch verpflichtet. Das Berliner Telefonbuch verzeichnete ihn als Kunstmaler, und die Galerie Flechtheim veranstaltete 1925 eine Ausstellung seiner Gemälde.
Voller Staunen blickte Joachim Ringelnatz während seiner einundfünfzig Lebensjahre auf die Menschen und Dinge. Mit einer seltenen Wahrhaftigkeit sich selbst und der Umwelt gegenüber versuchte er mit seinen Gedichten, die Liebe zu mehren und das Leid zu lindern. So findet sich in seinem Werk neben Sarkasmus immer Zartheit, neben Zynismus immer Liebe, Geduld und Verständnis für die Unvollkommenheit der Menschen. „Dieser unvergleichliche Ringelnatz“, schreibt Alfred Polgar, „hat den Stein der Narren entdeckt…, welcher dem der Weisen zum Verwechseln ähnlich sieht.“

Aufbau Verlag, Klappentext, 1971

 

Joachim Ringelnatz oder die Flucht ins Glück

1
Mit seinen Bildern schuf Ringelnatz – der sich ins Berliner Telefonbuch als „Kunstmaler“ eintragen ließ – Pendants zu seinen Gedichten. Eines der Bilder nennt er „Flucht“. Ein Mann steuert in einem Boot auf ein offenbar weit entferntes Ziel zu. Die Segel gleichen den Flügeln eines überdimensionalen Schmetterlings. Hinter Mann und Boot, wie Relikte: ein Fisch im Aquarium, ein Papagei im Käfig, ein Mensch im Gefängnis. Ringelnatz hat zu dem Bild – wie auch zu einigen anderen – ein Gedicht geschrieben:

Du segelst allein. Es soll niemand dabei sein.
Doch tausende Fischlein begleiten dein Boot ein Stück
Des Weges. Aber du willst ganz frei sein,
Schaust weder nach rechts noch nach links noch zurück.

Nur fort! Nur weiter! Du willst das Vergangene
Vergessen. Fort! Du glaubst an den rechten
Gradaus fliehenden Weg ins Glück.

Hinter dir, hinter Glas und Draht und Eisengeflechten
Blicken dir lange nach: Gefangene.

Die Flucht ins Glück! Erkennt der kühne Seefahrer schon am Horizont sein Ziel? Einige Zeilen weiter heißt es bereits weniger verheißungsvoll:

Nun und? – Aber die Wellen umspielen
Dein Boot. Es folgen dir Himmel und Licht.
Fremde Ziele passierst du. Von deinen Zielen
Das schönste, das einzige – kommt nicht in Sicht.

War das ungewöhnliche Leben des Hans Bötticher, der sich Joachim Ringelnatz nannte, eine Flucht? Der Junge flieht in seine Träume oder in die Rolle – wie er es selbst nennt – „Haupthanswurst“. Unter der Tyrannis eines herrschsüchtigen Vaters hat er zwar nicht zu leiden, im Gegenteil:

Wir Kinder liebten ,Väterchen‘ über die Maßen…

wer aber das Photo betrachtet, das die Familie Bötticher am sonntäglichen Kaffeetisch zeigt – Hans links außen mit Samtanzug, weißem Kragen, Lockenhaar und Hut –, der ahnt, welch ein vergoldeter Käfig ihn umgibt. Also Flucht in die Gegenwelt: Matrosenleben, Abenteuer. Da sich der Wunsch des Sohnes mit offiziellen Propagandaslogans à la „Seefahrt tut not“ deckt, hat nicht einmal der reputierliche Vater etwas gegen eine maritime Laufbahn einzuwenden. Aber Realität und Traum klaffen auseinander. Gleich die erste Fahrt bedeutet für den Schiffsjungen eine Kette von Quälereien und Entwürdigungen. In Belize auf Britisch Honduras, dem ersten Überseehafen, den das Schiff anläuft, flieht er von Bord, wird wieder eingefangen und muß weiter seinen unerträglichen Dienst verrichten. Zweieinhalb Jahre später, im November 1903, gibt er teils gezwungen – die Sehkraft seiner Augen entspricht nicht den neu erlassenen gesetzlichen Bestimmungen –, teils erleichtert die Seemannslaufbahn auf. In dem 1921 geschriebenen „… liner Roma…“ läßt er den Erzähler ein offensichtliches Selbstporträt, sagen:

Wurde mir die Seefahrt doch leid? Ich bin ein verbrauchter Süßwassermatrose, der sein Leben auf dem Lande beschließen möchte. – Die Hochsee hat ihre Wunder, aber in die Tiefe muß man tauchen, sie zu heben, und man kehrt dabei leicht nicht wieder zurück.

In keinem bürgerlichen Beruf faßt er Fuß. Buchhalter ist er, Lehrling in einer Dachpappenfabrik, Schaufensterdekorateur, Bibliothekar bei einem Grafen, Inhaber eines Tabakladens („Vorzügliche Cigarren und Cigaretten. Bisher noch kein Todesfall… Damen und Herren werden auf Wunsch gegen Bezahlung angedichtet.“) und vieles anderes mehr. Später spricht er in gelinder Übertreibung von dreißig Berufen. Zwischendurch agiert er für zwei Schoppen Wein und eine Mark Tagesgage als „Hausdichter“ in Kathi Kobus’ Müchener Künstlerkneipe Simplicissimus. Ständig ist er auf der Suche nach etwa, das er selbst nicht zu benennen vermag. Der erste Weltkrieg scheint ihm den Weg zu Ruhm und Heldentat zu eröffnen. Aber vergeblich bittet er in einem Gesuch seinen „Allerhöchsten Kriegherren“ „ausnahmsweise und gnädiglich zu verfügen“, daß er, der auf Minensuchbooten und Sperrschiffen diensttuende Bootsmaat Bötticher, „irgendwohin an die Front befohlen werde oder sonstwie Gelegenheit erhalte, zu Wasser oder Lande am unmittelbaren Kampfe teilzunehmen“. Nach dem Kriege gehört er zu den vielen, die sich im Zivilleben nicht zurechtfinden. In dieser wahrscheinlich schwersten Krisensituation seines Lebens häutet er sich zu dem Dichter Ringelnatz, der als Artist – wie er sich amtlich nennt – in Kabaretts, Wein- und Vereinslokalen, Tanzcafés und Varietés, belacht als kuriose Type, seine Verse vorträgt. In zunehmendem Maße flüchtet er in den Alkohol. Friedrich Holländer, der ihn Anfang der zwanziger Jahre im Berliner Schall und Rauch kennenlernte:

Er selbst war, wenn er die Bühne betrat, mit dem ewigen Schnapsglas wie bewaffnet, um sich Mut zu machen. Mut? Wozu? Ach wissen Sie, es erfordert Mut, anderen das Gelächter der Einsamkeit mitzuteilen. Es gibt da allerhand zu überwinden. Unter anderem den kleinen Scherzartikel Scham.

Ringelnatz der Glückssucher. Hat er die Freiheit, von der in den eingangs zitierten Versen die Rede ist, gefunden? Steht am Ende die Flucht in den Tod? Was ist das lang Ersehnte, von dem 1931 der Siebenundvierzigjährige am Schluß eines seiner nachdenklichsten Gedichte spricht?

Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
Längst zu lang ausgedehnt. – –
Und auf einmal – –: Steht es neben dir,
An dich angelehnt – –
Was?
Das, was du so lang ersehnt.

2
Der Seemann – bereits das Wort assoziiert Weite des Meeres, Elementargewalten, Gefahr, Kampf, Befreiung aus bürgerlicher Enge. Die See als Verkörperung geheimster Sehnsüchte aller an ihren Alltag Geketteten. Roman, Lied, Chanson, Schlager tragen dem schon lange Rechnung. Die unsterbliche „La Paloma“ ist immerhin schon weit über hundert Jahre alt. Und in den zwanziger Jahren wird die Seefahrerromantik als Ausdruck anarchischer Antibürgerlichkeit literaturfähig. Klabund dichtet sein „Matrosenlied“, Walter Mehring seinen „Choral für Seemannsleute“, und der junge Brecht zollt dem Außenseiter-Thema seinen Tribut mit der „Ballade von den Seeräubern“:

O Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind, die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!

Ringelnatz ist der Literatur-Seemann par excellence. Ein Leben lang kommt er von dem gescheiterten Jugendtraum nicht los. Er stilisiert ihn in die Kunstsphäre, domestiziert und kommerzialisiert ihn. Sein Seemann Kuttel Daddeldu bedient all die gängigen Klischees – der Suff, die Huren und die feste Braut –, ist aber gleichzeitig eine äußerst individuell geprägte, poetisch Figur. Trotz mancher humoriger Attribute will sich die handelsübliche Seebären-Gemütlichkeit nicht einstellen. Eher nimmt sich das oft wie ein Alptraum aus, in dem alles verquer läuft und sich unaufhaltsam zur Katastrophe hinbewegt. Daddeldu ist auf seinen Landgängen immer der Verlierer, er wird geneppt, ein straff lederbusiges Weib besäuft ihn, er verschenkt alles, wird verprügelt, gerät ins Sprachlabyrinth des Alkohol-Deliriums:

Bulldog aheu! Ich bin nicht besoffen.
Wirklich nicht!
Wirklich nicht!
Wer mir die Salbe krümmt,
Dem renn ich die Klüsen dicht. –
Komm her, Deesy, wir schlagen die Bulldog entzwei.
Wenn ich aus Kiatschu, Kiatschau –
Porko dio Madonna!
Mary, du alte Sau,
Wer dir die Salbe stiehlt aus Schangei,
Der wird einmal Kapitän Daddeldus Frau.

Gar nicht zu reden von dem makabren Humor des Gedichts „Seemannstreue“ in dem Daddeldu die längst gestorbene Braut beschläft. Versöhnlicher wird es nur, wenn Daddeldu auf seine Kinder trifft:

Und dann spielt der poltrige Daddeldu
Verstecken, Stierkampf und Blindekuh,
Markiert einen leprakranken Schimpansen,
Lehrt seine Kinderchen Bauchtanz tanzen…

Ringelnatz identifiziert sich mit seiner Figur – er läuft im Matrosenkostüm herum und unterzeichnet Briefe mit „Euer Kuttel“. Peter Rühmkorf nennt ihn einen Mann, „den die Flucht nach vorn in seine Karikatur getrieben hatte, um mit sich und der Welt ins Reine zu kommen…“ Wie die Stätten beschaffen waren, in denen er jahrelang sein anderes Ich dem Gelächter des Publikums preisgab, belegt ein Pressebericht anläßlich seines Auftretens in der Weißen Maus in Berlin im März 1923:

den Höhepunkt der Vortragskunst bildet aber Joachim Ringelnatz mit seiner blauen Lyrik; die Turngedichte und Erzählungen vom ,Diddel-Daddel-Dur‘ setzen alle Lachmuskeln in Bewegung. (Warum trägt Ringelnatz nicht mehr die ,Riesendame‘ vor?) Das Haus-Gesangsballet… vergnügt sich mit dem geliebten Harry im ,Massenbett‘ (angeblich nur wegen der Wohnungsnot). Beim Strumpfband-Ballett können die Gäste nicht nur geistige Fühlung mit den charmanten Mädelchens nehmen.

Prostituierte Ringelnatz seinen Traum von der Seefahrt? Es scheint, als sei ihn sogar in der Vermarktung des Vergnügungsbetriebes das Idealbild seiner Jugend nicht abhanden gekommen. Ihm erging es wie Brechts Evlyn Roe, jener See-Wallfahrerin, die, hundertfach mißbraucht und zerstört, am Schluß doch unberührt ist.
Jürgen Eggebrecht, dem engsten Freundeskreis zugehörig, der sich am 20. November 1934 auf dem Berliner Waldfriedhof zu Ringelnatz’ Begräbnis zusammenfand, berichtet:

… hinter den Wänden quoll es hervor in Modulationen und Schnörkeln: ,Stürmisch die Nacht und die See geht hoch‘. Und das ging über in Ringelnatzens Lieblingslied ,La Paloma‘, und unser Herz bebte.

3
Ringelnätzchen, liebes Seelchen, was sind doch die Menschen stumpf, daß sie dich so oft mißverstehen, daß sie nicht fühlen, wie hinter deiner Klabautermannfratze ein zartes Kinderherz wohnt, so ängstlich, daß es im Dunkel dieses Welt-Dschungels zu singen anfängt. Du flüchtest immer wieder in deine Spielstube, das Treiben der Erwachsenen ist dir nie ernst.

Paul Wegener, der große Schauspieler, der diese Worte am 7. August 1933 bei einer privaten Feier im Hotel Kaiserhof zu Ringelnatz’ fünfzigstem Geburtstag sprach, kannte den Dichter so gut wie wenige. In der Tat: Ringelnatz flüchtete zeitlebens zurück in die Kindheit. Dutzende Anekdoten bezeugen das, vor allem aber sein literarisches Werk. Seine Gedichte sind oft Spiele mit der Sprache, Spiele durchaus im Sinne des Kinderspiels. Aus dieser Quelle kommen viele seiner Wortneubildungen, seiner Verballhornungen bekannter Gedichte und Lieder, und wer denkt nicht an die „Geheimsprachen“ der eigenen Kinderzeit, wenn er das „Gedicht in Bi-Sprache“ liest:

Ibich habibebi dibich,
Lobittebi, sobi liebib.
Habist aubich dubi mibich
Liebib? Neibin, vebirgibib.

Nabih obidebir febirn,
Gobitt seibi dibir gubit.
Meibin Hebirz habit gebirn
Abin dihir gebirubiht.

Ähnliche Sprachspielereien finden wir auch bei Morgenstern, zu dem Ringelnatz so häufig in Beziehung gesetzt wird: So sehr sich manche ihrer Literaturprodukte jedoch gleichen, so verschieden sind ihre Ausgangspunkte. Bei Morgenstern stellen all die Galgenlieder, die Gedichte vom Palmström, der Palma Kunkel und dem Gingganz gleichsam zur Erholung unternommene Ausflüge aus einer von Neuromantik, Irrationalismus und Theosophie geprägten geistigen Welt dar. Für Ringelnatz bedeuten die literarischen Spiele indessen eine Rückkehr in die Kindheit. Von einigen Kritikern wurden Beziehungen zwischen Ringelnatz und den Dadaisten gesehen. Aber auch hier handelt es sich um äußere Berührungspunkte. Die Dada-Leute waren angetreten, das Anarchische der bürgerlichen Wirklichkeit zu demonstrieren, ihre verbalen Infantilitäten sollten Kampfansagen sein gegen eine entleerte Sprache. Ringelnatz’ Dichtungen dagegen sind nicht auf Zerstörung aus, sondern auf die Schaffung eines eigenen poetischen Kosmos. Die Wirklichkeit wird bei ihm in eine Märchenwelt transportiert: ein Elefant heiratet eine Qualle, ein männlicher Briefmark wird von einer Prinzessin beleckt, ein Globus sucht sein Hinterteil…
Die Flucht in die Kinderwelt korrespondiert mit kindlicher Religiosität. Die bekannten „Kindergebetchen“ etwa, in denen Religiöses und Kindliches lächelnd verbunden werden, spiegeln ganz die Seele ihres Autors. Aus einer Mischung von kindlich-anarchistischer Opposition und Naivität entsteht auch Ringelnatz’ Affinität zum schwarzen Humor. Im „Geheimen Kinder-Spiel-Buch“ und im „Kinder-Verwirr-Buch“ wartet er mit einer Serie von phantasiereichen Scheußlichkeiten auf, mit verbotenen Spielen eines nie erwachsen gewordenen, widerspenstigen Kindes. Da wird mit Fäkalien gespielt, da werden Maikäfer in Tinte getaucht, Käsepfropfen zwischen die Sofapolster gestopft und selbstgebastelte Mini-Bomben empfohlen, und in dem Gedicht „Silvester bei den Kannibalen“ – das in fast allen Auswahlbänden fehlt – wird en detail beschrieben, was die Menschenfresser mit den geschlachteten Kinderchen anstellen

Das Rückgrat geknickt,
Die Knochen zerknackt,
Die Schenkel gespickt,
Die Leber zerhackt,
Die Bäuchlein gewalzt,
Die Bäckchen paniert,
Die Zehen gesalzt
Und die Äuglein garniert.

In den späten Gedichten tritt an die Stelle kindlicher Naivität grüblerischer Ernst. Es scheint, als sei Ringelnatz zuletzt die Flucht in die eigene Kindheit immer seltener gelungen. Bis zum Schluß sucht er jedoch auch in den profansten Dingen eine Märchenwelt. In der Tuberkulose-Heilstätte Beetz-Sommerfeld, wo er die Monate vor seinem Tode verbringt, entdeckt er eines Tages ein sonst von niemand benutztes, pieksauberes Klosett mit Papier und funktionierender Wasserspülung. Sofort wird es zum Ort „Verschwindibus“ erklärt, und unter dem 27. September 1934 notiert er in sein Tagebuch:

Das war eine Entdeckung! Für mich so schön, wie die Entdeckungen und Überraschungen, die in den Märchen von Andersen, Hauff, Grimm vorkommen.

4
WenigeMonate nach der faschistischen Machtergreifung untersagt im April 1933 die bayrische Polizei „das geplante Auftreten des Schriftstellers Joachim Ringelnatz in der Künstlerkneipe Simplicissimus. Zuvor war er schon in Dresden von der Bühne geholt worden, und auch in Hamburg durfte er nicht arbeiten. War Ringelnatz ein politischer Künstler? Mußten ihn die Nazis fürchten? In „Mein Leben bis zum Kriege“ berichtet er über das nächtliche Treiben im Kreise des E.T.A. Hoffmann-Forschers und Bibliophilen C. G. von Maassen:

Politisches wurde hauptsächlich abends und besonders spät nachts erörtert, wenn die Köpfe vom Alkohol erhitzt waren… Erregte stundenlange Debatten über die Möglichkeiten und Aussichten eines Krieges. Maassen, der einen schneidigen Husarenoffizier zum Bruder hatte, war der festen Überzeugung, daß wir im Falle eines Krieges unseren Gegner mächtig verdreschen würden… Als schärfster Gegner dieser Ansicht trat der besonnene Dolch auf, der Sozialdemokrat und gegen den Krieg war. Zwischen ihm und Maassen kam es zu heftigen Wortgefechten. Ich stand mit Kopf und Herz ganz auf Dolchs Seite.

Obwohl sich Ringelnatz mit Dolchs Antimilitarismus solidarisiert, gehört er bei Kriegsausbruch zu den vielen, die vom chauvinistischen Taumel ergriffen werden. Einen Tag eher als befohlen meldet er sich am Gestellungsort. Auf einer Postkarte stellt er sich selbst als Matrosen dar, der mit einer riesigen Lanze den russischen Bären durchbohrt, darunter baumelt Peter von Serbien am Galgen, und in einem in der Jugend erschienenen, mit Bootsmaat Bötticher unterzeichneten Gedicht besingt er die Matrosen der Kriegsmarine:

Und wenn ihr Sieg oder Sterben nah,
Sie, die im Frieden so wortverlegen
Sie brausen laut im Granatenregen
Der Flagge, dem Kaiser ein dreifach Hurrah.

Zwei Jahre später schreibt er:

Alles, was den Krieg betrifft, ekelt mich an.

Ein Traum freilich geht dem Bohemien mit den bürgerlichen Idealen in Erfüllung: im Oktober 1917 wird er zum Leutnant befördert. In „Als Mariner im Kriege“ schreibt er dazu:

… ich war sehr ergriffen über mein Glück, über den erreichten Leutnantsgrad… Nun brauchte ich nicht mehr aufzuspringen und strammzustehen, ich war bei Geld, war wohlgekleidet, meine Uniform genoß im Binnenland mehr Ansehen als die Feldgraue.

Hier lesen wir auch das Bekenntnis:

Wenn ich meine seelische Verfassung ehrlich überprüfte, mußte ich mir gestehen, daß ich selbst kriegsmüde war. Was mich trughaft noch hielt, waren kindliche Ruhmsucht und dürftiger Ehrgeiz. Ich wollte Offizier werden, um vor kleinen Leuten damit großzutun, und ich hoffte noch immer, zu einer gefahrvollen Heldentat zu kommen.

Der Marineleutnant Bötticher zieht sich in der Küstenbatterie Seeheim in ein privates Idyll zurück:

Eine meiner Hauptfreuden war das Terrarium… Täglich mehrmals, aber jedesmal nur auf ein Viertelstündchen, lief ich in den Wald oder auf die Wiesen mit Einmachgläsern und einem Fangnetz. Jedesmal brachte ich Schlangen, Eidechsen oder Insekten zurück… Oh, ich war sehr glücklich.

Auf die Novemberrevolution reagiert er mit politischer Naivität:

Ich ging zur Minenabteilung und hielt dort den Leuten eine Rede mit der Grundidee, mäßig, ehrlich und vernünftig zu bleiben… Wenn die Revolutionäre damals nicht weitergegangen wären, wenn sie den Dienst wieder aufgenommen und sich nur ausbedungen hätten, daß die und die Offiziere und die und die Gebräuche wegbleiben müßten, – mir deuchte – es wäre alles gut oder besser gewesen.

Daß Ringelnatz die soziale Misere der zwanziger Jahre schmerzhaft empfand, spricht dutzendfach aus seinen Gedichten. Seine Abneigung gegen allen völkischen Rummel belegen die am Anfang seiner Nachkriegskarriere stehenden „Turngedichte“ ebenso wie die noch immer aktuelle Satire „Schneiderhüpfl vor dem Ochsen am Spieß“ aus dem 1928 erschienenen Band Allerdings:

Oktoberfest im Mai, im August,
Oktober zu jeder Zeit.
Wir sind uns unserer selbst bewußt
Und jodeln aus herziger Brust:
„Immer kampfbereit!“

Wir sind urwüchsig und frei.
Wir sind international gesinnt.
Un, zwo, trois, gsuffa!
Es lebe unsere Polizei!
Wer unsere Behörden nicht liebt,
Der spinnt.

Allerdings enthält aber auch das Gedicht „Die zwei Polis“. Gemeint sind die und die Poli-tik und die Poli-zei, von beiden will er nichts wissen, beiden – dem Staat wie auch jeglicher politischen Betätigung – erteilt er eine Absage:

Darum übe die Zeit nicht an mir Kritik,
Und die Tik möge es mir verzeihn,

Wenn ich nochmals gestehe, daß ich jeden Augenblick
Möglichst fern von beiden möchte sein.

Die Politik jedoch holt ihn ein. Den Nazis galt er als unerwünschter Autor. Mit ihm konnten sie keinen „Staat“ machen, seine Dichtungen waren nicht für das „Kraft-durch-Freude“-Spektakel verwendbar. Im Spätherbst 1934 brachten einige Freunde den Mut auf, dem toten Dichter öffentlich Worte der Verehrung ins Grab nachzusenden, eine Hamburger Zeitung aber stellte mit Befriedigung fest:

unsere Zeit hat dieser Art Begabungen… ein Ende bereitet

5
In einem Schüleraufsatz über Ringelnatz – mitgeteilt in der Biographie Herbert Günthers – ist zu lesen:

Mit seinen Versen gibt er uns den Schlüssel in die Hand, der uns die Pforte öffnet zu den ,Welten des Inseits‘.

Treffender als in mancher professionellen Interpretation wird hier ausgesprochen, was für viele die Faszination dieses Dichters ausmacht: die Poesie als ein Refugium. Das Sonderlingshafte des Joachim Ringelnatz ist dabei kein Hindernis, im Gegenteil, es erweist sich als etwas, das einen ganz individuellen Rückzug in diesen poetischen Mikrokosmos ermöglicht.
Wie kein anderer in seiner Zeit besaß Ringelnatz die Fähigkeit des Mit-Erleidens der Nöte der Schattenexistenzen des Lebens: der Aftermieterin und des durchfallkranken Stellungslosen, der Waisenkinder und des alten Mannes, der ein junges Mädchen anspricht. Walter Pape weist in seinem hervorragenden Buch über Ringelnatz nach, wie sehr der Dichter an seinem zu schmächtig geratenen Körper, an seiner Hakennase und anderen Merkmalen seiner Erscheinung gelitten hat. In dem Fragment seines größtenteils selbst vernichteten Romans Ihr fremden Kinder aus den Jahren vor dem ersten Weltkrieg heißt es:

Ich weiß, daß ich häßlich bin. Meine Beine sind krumm. Ich habe ein schiefes vorstehendes Kinn… Ich pflege bei anderen Menschen immer erst auf Kinn und Beine zu sehen. Wie muß das herrlich sein, normale Gliedmaßen zu besitzen. Gewiß ebenso angenehm als das Gefühl, gute Kleider, Wäsche und ordentliches Schuhzeug zu haben.

Selber des Zuspruchs bedürftig, schreibt dieser gnomenhafte Heilige Trostbücher. Er ist der Dichter des Trostes durch Selbstbescheidung. Welch geradezu klassische Formulierung erfährt die Einsicht in das Nichterreichbare in dem kleinen Gedicht von den Ameisen, die nach Australien reisen wollen und bei Altona auf der Chaussee weise auf den letzten Teil der Reise verzichten. Was die Welt versagt, in sich selber zu suchen, das ist es, was Ringelnatz empfiehlt:

Komm, sage mir, was du für Sorgen hast.
Reich willst du werden? – Warum bist du’s nicht?

Auch wenn es ganz schlimm kommt, hat er die versöhnliche Wendung parat:

Nichts stimmt, was mir begegnet.
Und es ist kalt und regnet.
Damit das Übermaß von Not
Mich nicht zum letzten Schritte reizt,
Hat meine Wirtin eingeheizt.

Zwei Namen seien noch ins Spiel gebracht, so abwegig das auch zunächst anmuten mag: Rilke und Brecht. Von beiden scheint Ringelnatz durch Welten getrennt zu sein. Mit Rilke, der seit 1921 in dem weltfernen Walliser Turm Château de Muzot lebt, hat der zur gleichen Zeit als Brettl-Clown durch die Vergnügungslokale ziehende Ringelnatz, was den äußeren Habitus anbelangt, in der Tat nichts gemein. An einem entscheidenden Punkt treffen sich jedoch der Dichter der Duineser Elegien und der Dichter des Kuttel Daddeldu: in ihrem Rückzug in die „Welten des Inseits“. Und es gibt nicht wenige ihrer Verse, die eine merkwürdige Verwandtschaft aufweisen.
Rilke:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Ringelnatz :

Wer hat die Menschen so entstellt??
Ich sehe sie getrieben treiben.
Warum sie wohl nie stehenbleiben,
Zu sehen, was nach ihnen sieht?
Warum der Mensch vorm Menschen flieht?

Und Brecht? Zumindest in der Biographie des um fünfzehn Jahre Jüngeren läßt sich eine Gemeinsamkeit mit Ringelnatz entdecken: Er trat im Kabarett auf, nämlich 1922 in Trude Hesterbergs Wilder Bühne. Allerdings: Brecht provozierte die Damen und Herren im Saal mit seiner „Legende vom toten Soldaten“ zu Protesten, Ringelnatz mit der „Riesendame der Oktoberwiese“ zu wieherndem Gelächter. Gemeinsam haben beide, daß ihre Verse auf Traditionen fußen, die fernab der hohen Literatur zu suchen sind, Brecht auf Ballade und Bänkelsang, Ringelnatz – wie Walter Pape nachgewiesen hat – auf den Unsinnsdichtungen eines Ludwig Eichrodt, eines Josef Victor von Scheffel und anderer. Was beide scheidet, ist ihre gegensätzliche Haltung zur sozialen Realität. Der eine ist auf Veränderung der Welt aus, der andere zieht sich vor ihr zurück. Schon der Brecht der Hauspostille postuliert sein „Laßt euch nicht verführen!“ und später in „An die Nachgeborenen“ konstatiert er:

Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen,
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Dagegen Ringelnatz:

Lernst du endlich, dich zu fügen,
Von den Sorgen gezähmt.
Willst dich selber nicht belügen
Und erstickst es, was dich grämt.

Ringelnatz’ Flucht ins Glück war immer auch der Versuch, ein wenig Menschlichkeit zu retten, etwas Liebe, Zutrauen und Freundlichkeit in einer unbarmherzigen Welt zu bewahren. Daß dies einen ohnmächtigen Versuch darstellte, dessen wurde sich der Dichter in den Jahren vor seinem Tode in zunehmenden Maße bewußt. Das letzte Gedicht in dem letzten zu seinen Lebzeiten erschienenen Buch lautet:

Träume deine Träume in Ruh.
Wenn du niemandem mehr traust,
Schließe die Türen zu,
Auch deine Fenster,
Damit du nichts mehr schaust.

Sei still in deiner Stille,
Wie wenn dich niemand sieht.
Auch was dann geschieht,
Ist nicht dein Wille.

Und im dunkelsten Schatten
Lies das Buch ohne Wort

Was wir haben, was wir hatten,
Was wir – –
Eines Morgens ist alles fort.

Walter Rösler, Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1983

 

JOACHIM RINGELNATZ

Guten Morgen Schöne. Es ist an der Zeit
Ich werd dich vernaschen. Bist du bereit?
Stell mir keine Fragen
Du ertapptes Kind
Mach genießbar dich geschwind.

Wie ich sei besoffen Irrtum denk mal kühl
Du hast mich getroffen. Dir gilt mein Gefühl.
Meinem Schlund mußt du vertrauen. Wir sehn uns wieder.
Doch willst du mir die Show verbauen.
Brate ich dich nieder.

Und nun steig in meinen Rachen
Schluck schluck schluck ab in den Bauch
Los doch. Ja die Oma triffst du auch.
Was ich hätte Mundgeruch. Darf ich lachen.
O mir ist das völlig klar
Alles muß man selber machen
Jungvolk ist nicht mehr was es nie war.

Peter Wawerzinek

 

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Peter Rühmkorf: Joachim Ringelnatz zum 80. Geburtstag

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb +
Archiv 1 & 2 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Joachim Ringelnatz liest sein Gedicht „Im Park“.

 


Joachim Ringelnatz gelesen von Harry Rowohlt.

 

Nora Gomringer liest Joachim Ringelnatz: „Pssst!“.

Nora Gomringer liest Joachim Ringelnatz: „Das scheue Wort“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00