Johannes Piron: Zu Paul Celans Gedicht „Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt…“ aus Paul Celan: Mohn und Gedächtnis. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt
zwischen Immer und Nie,
stößt dein Wort zu den Monden des Herzens
und dein gewitterhaft blaues
Aug reicht der Erde den Himmel.

Aus fernem, aus traumgeschwärztem
Hain weht uns an das Verhauchte,
und das Versäumte geht um, groß wie die Schemen der Zukunft.

Was sich nun senkt und hebt,
gilt dem zuinnerst Vergrabnen:
blind wie der Blick, den wir tauschen,
küßt es die Zeit auf den Mund.

 

Interpretation eines Gedichtes von Paul Celan

(Wir bringen nachstehend die Auslegung, die ein junger deutscher Dichter französischen Namens dem Werk eines jungen rumänischen Dichters deutscher Sprache zuschreibt. Die ersten von Paul Celan veröffentlichten Gedichte erschienen in der Tat.)

Das Deuten von Gedichten heißt Dinge benennen wollen, die eben nur insoweit sagbar sind, wie der Dichter sie auszudrücken vermag. Solche Deutung kann darum immer nur Andeutung sein, vor allem wenn es sich wie bei Paul Celan nicht um herkömmliche Wortmagien oder Bildfolgen handelt, sondern um Ursprüngliches und Eigentümliches. Wenn wir seine Verdichtungen aufzulockern oder gar zu zergliedern versuchen, so laufen wir Gefahr, den Schlüssel zu seinen Versen im Dickicht der Alltagsworte zu verlieren. Zudem lassen sich Bilder einzig durch Bildsynonyme wiedergeben, die im Grunde den gleichen Undurchsichtigkeitsgrad bewahren müssen. Der Sinn einer Deutung liegt also nicht in der Entschleierung von Geheimnissen, sondern in ihrer andersgearteten Verkleidung, mitunter sogar nur in einer Neudrapierung ihrer Umhüllung. Dadurch entstehen andere Anschauungsmöglichkeiten, andere Ahnungswinkel, die uns dem unerreichbaren Geheimnis näherbringen können.
Was den Zauber eines Gedichtes ausmacht, läßt sich kaum bestimmen. Vielleicht ist es die jähe Widerspiegelung einer Unsichtbarkeit, die jähe Wortwerdung einer Unsagbarkeit. Vielleicht ist es das Wiedererkennen von Unbekanntem oder die Wiedergeburt von Längstversunkenem. Paul Celan versteht es jedenfalls, an Dinge zu rühren, die unfaßbar sind. Und weil er Dichter ist, findet er Sprachmittel, um die Sensation einer solchen Berührung festzuhalten. Aus Gefühlssplittern setzt er das Mosaik einer Empfindung zusammen, so daß sie uns sichtbar und nachspürbar wird.
Seinem Band Mohn und Gedächtnis habe ich ein Gedicht entnommen, aus dessen Inhalt ich meine An-Deutung und Um-Schreibung schöpfen möchte:

Nachts, wenn das Pendel der Liebe schwingt
zwischen Immer und Nie,
stößt dein Wort zu den Monden des Herzens
und dein gewitterhaft blaues
Aug reicht der Erde den Himmel.

Aus fernem, aus traumgeschwärztem
Hain weht uns an das Verhauchte,
und das Versäumte geht um, groß wie die Schemen der Zukunft.

Was sich nun senkt und hebt,
gilt dem zuinnerst Vergrabnen:
blind wie der Blick, den wir tauschen,
küßt es die Zeit auf den Mund.

Willenlos lassen wir uns vom Zauber dieser schlichten und zugleich geheimnisschweren Worte einfangen, und erst allmählich lösen sich die rätselvollen Bilder aus der Einheit des Gedichtes, um selbständig und selbstwirksam zu werden. Wir haben teil an den Pendelschwingungen der Liebe, das heißt am Rhythmus der Zeitlosigkeit, denn die Liebe befreit sich und uns von den Zeitgebundenheiten. Darum ordnet ihr der Dichter das Pendel zu, und darunter muß ein Perpetuum mobile verstanden werden, während etwa das Attribut des Todes die einmalig ablaufende Sanduhr ist. Verstärkt wird dieser Eindruck der Zeitlosigkeit durch die Nennung der Ausschwingpunkte: Immer und Nie. Immer und Nie stellen hier keineswegs Begrenzungen dar, sind sie doch beide Unendlichkeiten, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Die einzige Zeitbestimmung, das erste Wort „nachts“ deutet nur noch verklingend den Uebergang von zurückgelassener Meßbarkeit zu erwarteter Unermeßlichkeit an.
Nachdem die fruchtbare Stimmung, das reife Gemütsklima geschaffen worden ist, stößt dein Wort „zu den Monden des Herzens / und dein gewitterhaft blaues / Aug reicht der Erde den Himmel“. Eine Seelenlandschaft breitet sich in der Zeitlosigkeit aus, wird zu symbolischer Gegenständlichkeit. Es werden die Phasen der Liebe heraufbeschworen: erst die Monde, Zeichen der Sehnsucht, der Verliebtheit; daraufhin das Gewitterhafte, das Spannungsgeladene; und schließlich die Vermählung von Dunkel und Helle, die Verschmelzung, der immer eine Darbietung, eine Hin-Gabe vorangeht, so wie hier der Himmel hingegeben wird und die Erde sich hingibt. Oben und Unten haben zu sein aufgehört: es herrscht einzig gegensatzlose Mitte.
Nun sind selbst Träume zu wirklich, zu zeitlich geworden. Nur ihr erloschener Abglanz haftet dem fernen Hain an, der Leben und Tod verwebenden Stätte, dem letzten Merkmal der entschwindenden Seelenlandschaft. Träume, die Widerspiegelungen des Seins sind, müssen zurückbleiben, weil sie nicht am Sein selbst mitwirken, das sich nun erfüllen will, das Erfüllung ist, Erfüllung von Vergangenem und Kommendem, also Zeitlosigkeit.
Das verhauchte und Versäumte hält den Schemen der Zukunft die Waage: das Gleichgewicht des Seins hat sich hergestellt; die Zeit hat sich  gerundet und kennt als Kugel weder Anfang noch Ende.
Weil aber die Zeit ihr Begrenztes und Begrenzendes verloren hat, weil es weder ein Vor noch ein Zurück gibt, ist es möglich das Verhauchte – das nicht Gestalt Gewordene, das Unfaßbare – und das Versäumte – das Liegengebliebene, das Unbeachtete – einzuholen, gewissermaßen als Zukünftiges nachzuholen, das heißt ins Sein, zum Sein zu bringen. Vergangenheit und Zukunft werden in diesem ewigen Augenblick als Gegenwart empfunden und erlebt. Man könnte gleichsam – denn die Abwesenheit von Gegensätzen läßt sich sprachlich nur in Paradoxa übertragen – von einem Höhepunkt der Vertiefung sprechen, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, daß Höhe- und Tiefpunkt ein und dasselbe sind.
Um das herrschende Gleichgewicht, diesen Erfüllungszustand aus seiner Unbeweglichkeit, seiner Starrheit zu lösen, sagt der Dichter:

Was sich nun senkt und hebt…

Es hieße ihn mißverstehen, wenn man in diesen Worten eine Aufhebung der Ausgeglichenheit sehen wollte. Wir müssen uns von der Vorstellung freimachen, daß eine Waage nur horizontal im Gleichgewicht sein könnte: sie ist dazu in jeder Lage fähig. Das Russische Rad auf Jahrmärkten etwa ist auch einen Waage, die sich an jedem Punkte des Kreises im Gleichgewicht befindet und oben und unten ständig wechselt und verwechselt. Wenn man nun den von der Waage beschriebenen Kreis aus der Flächendimension in die Raumdimension hineindenkt, vermag man das Gleichgewicht innerhalb der Kugel zu ahnen.
„Was sich senkt und hebt / gilt dem zuinnerst Vergrabnen“, gilt also den Urgründen, die hinaufdrängen, den Schätzen des Innersten, die aus ihrer Verborgenheit aufsteigen wollen zu ihrem eigentlichen Dasein. Sie sind aber erst wirklich da, wenn sie das Licht in sich sammeln können, um zu strahlen, zu funkeln, zu blenden, wenn sie das Erddunkel mit der Himmelshelle vereinigen und auch hier das gegensatzlose Gleichgewicht schaffen. Wo jedoch Licht und Schatten fehlt, sieht das Auge nichts mehr, wird der Blick blind, denn er ist selbst ganz Licht und ganz Schatten, ist Teil der versinkenden, sich selbst aufhebenden Bildwelt.
Nachdem Schwerelosigkeit und Zeitlosigkeit vollkommen sind, nachdem das Nichts Alles ist, die Leere Erfüllung, vollzieht sich der Schritt vom Sein ins Leben. Wir dürfen darin weder einen Rückschritt noch einen Fortschritt sehen, nur einen notwendigen Uebergang, denn der Mensch wäre kein Mensch mehr, wenn er in der Zeitlosigkeit verharrte, die sich ihm in Augenblicken darbietet, die in Augenblicken seine einzig gültige Wirklichkeit darstellt. Der Mensch kann sich nicht im Vakuum der Vollkommenheit vollenden, kann nicht im Luftleeren atmen. Er kann sich nur in der Zeit, im Begrenzten, im Bildhaften ausdrücken, mitteilen, vollenden. Darum gipfelt oder wurzelt sein Glück, etwa wie in diesem Gedicht auch sein Liebesglück, trotz der Zwischenstufe der Zeitlosigkeit, in der Zeit. Das Vergrabene, das Innerste verwirklicht sich nach außen:

Blind wie der Blick, den wir tauschen,
küßt es die Zeit auf den Mund.

Die faßbare Welt nimmt uns wieder auf. Der Zauberkreis hat sich geschlossen, in dem jedes echte Gedicht wirkt und weiterklingt.

Johannes Piron, Die Tat, 4.9.1954

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