John Ashbery: Flußbild / Flow Chart

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von John Ashbery: Flußbild / Flow Chart

Ashbery-Flußbild / Flow Chart

I 

Stets in der gedruckten Stadt, aber noch nicht
von neuartiger Panik erfasst, frag ich
das Diagramm: Ist das der Vorgeschmack auf ein Leid,
das leicht sein könnte? Oder Leere,
so unverhofft, dass die Pfeiler
im fehlenden Wind heulen,
der Himmel milchblau gerinnt? Wir wissen, wie hektisch das Leben ist,
doch dauernd verhangen von größeren Vorgängen – was
wir nicht spüren, außer manchmal wie kleine Signale,
angebracht, um uns zu warnen, und genauso schnell gelöscht, zum Teil
oder ganz.
aaaaaaaaaTrüb wird’s dem Flussgott, der an uns vorüber
stromabwärts pullt, ohne dass wir ihn kennen: denn wenn er, meint er,
übersehen werden kann, dann hieße ihn kennen ihn essen,
den Namen uns einverleiben, den er durch die Zeit trägt, um ihn
zuletzt an einem Strand verrotteter Wracks abzulegen. Und die, die
an seinem Kommen etwas Mulmiges wittern, hüten sich, aufzusehen
von ihrer Buchseite, dem Flechtwerk der Zeilen, die wie
Ketten aus Bronze ins Unendliche reichen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIch las offenbar gerade was;
der Sinn ist mir entfallen, auch, was der kleine
Auftritt des zentralen Gedichts bei mir evozieren wollte. Macht nichts.
Die Worte, fern jetzt und infuliert, funkeln. Doch nicht eines
entgeht je dem Dickicht aus Agonie und Lust, das sie einer
Lösung zuführt, die inzwischen aus Trägheit fixiert ist. Die Kraft
der Bedeutung dringt nie durch. Und die Insekten,
versteht sich, kümmert es nicht. Ich glaube, das war der Moment, da
er mir, wissentlich und zu meinem eigenen Besten, den
zähfließenden Gedanken zu fliehen wieder abnahm, längst viel
zu strikt kanalisiert, seine dauernden Denkzettel mir zu tief
in die Stirn radiert, ihre Vergrätzungen und Grüße
von ganz anderem Kaliber als die Wunder, die jedermann erfährt,
ob allein im Bett oder bei seinem Liebsten oder gestrandet
bei den Muscheln am Atoll (denn wenn die Einsamkeit
uns beizeiten holt, so dauert es doch, bis später
der Gedanke an ihre Permanenz ins Blickfeld rieselt, wahrlich,
später und vielleicht nur gelegentlich, und viel später erst –
von morgens bis abends – bleibt, so wie die Klage
der Harfen der Wellen stets Geräuschkulisse
von Konversation und Konversion ist, selbst, wo
wir sie vergessen), und sie nicht versteht, er aber kennt
das vertraute, unverwechselbare Etwas, und das macht Mut,
wenn der Tag erlischt und der Abend seine Schlachtordnung macht in Erwartung
der langen Nacht, die da kommt.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaUnd die Horoskope warfen alles
zurück, was wir dort lassen wollten: unsere Bedeutung, für uns, doch
wie anders der Sinn aus dem Mund eines anderen!
Wie kalt die Bedenken, die uns aus der Zeit
reißen, kurz nur (wo wir uns gerade den zerbrechlichen
Neigungen anschließen wollten, die Mutterliebe uns lehrte), und uns auf einen Trittstein
auf hoher See versetzen.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaEgal also, welche Verbote, Vorhaltungen
Vorahnungen uns frühzeitig hintergitterten, Gerüste für das künstliche
Spalier des Selbst, das wir geworden sind, kann entsprechend auch
später Gelerntes uns nichts mehr nehmen, wie es scheint, kein
heiliger Schöngeist die Bande
seligen Dekorums lockern, unsere Erlösung heute, unsere Hoffnung auf Jahre hinaus
Möge der Fluss seine Ufer nicht zu eng beknien,
die Böschungen schleifen und überschwemmen, denn bei allen Schrecken der Flut
sind weit schlimmer die gemalten Monster, die
der schnell strömende Deltaschlamm später gebiert.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaUnd ist die Zeit zur Gesetz-
Übertretung gekommen, vollzieht es sich gewiss in der Matrix
unserer täglichen Gedanken und Phantasien, im Staunen darüber,
wie wir von dort nach hier gelangt sind. Im wimperlosen Auge des Mittags
stehen diese und andere schreckliche Dinge geschrieben, obwohl es
zunächst mild scheint wie Wellenplätschern im Wasserbassin.
Erst die späte Gewissheit fällt ins Gewicht,
denke ich, und sie wirkt, wenn es so ist, unwandelbar wie die Rosen.
Während ein Gott es wieder verbockt hat
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaVormals
war eine Zeit des Scheinens: goldene Eier, geschlüpft zu
Bedauern, eine Schneeflocke, deren Kuss brannte wie des Zauberers
Gift, und doch schien im aufglühenden Morgen alles gut.
Der Hauch, der uns stets nährt (ganz gleich, wie trocken,
wie voller Klagen über Zeit und Wetter die Luft),
wies einen Weg, der vom wahren abwich, ohne ihn zu leugnen,
und kam über andere Verwünschungen zum selben Ergebnis,
so dass keiner am Ende klüger war im Wissen, auf welchem Wege wir
fast unwissentlich zu kubischer Gnade heranwachsen
konnten, die uns dauerhaft Zuflucht bot. Damit solle das Buch enden, fanden
einige wenige, nur war das natürlich unmöglich; Wachstum muss
in verdunkelte, gefährliche Zonen vordringen, unterminiert
vom Fluch des Todeshauchs, bis einem als Geburtstagsgeschenk
ein Schädel überreicht wird und jeder letzte Absatz der Novelle
markiert ist: Fortsetzung folgt, auf dass kein Friede
im Heute herrsche, kein Schlaf abgesehen vom flüchtig erhaschten Blick auf die Zukunft

(…)

 

 

 

Mit Flow Chart

ist nun das Hauptwerk John Ashberys zum ersten Mal auf Deutsch erhältlich. Das buchlange Gedicht wurde von Matthias Göritz und Uda Strätling kongenial übertragen. Die Verse des New Yorker Weltbürgers entfalten in Flow Chart einen eigentümlichen Sog, dem man sich gerne, amüsiert und beunruhigt zugleich hingibt. Ashbery versteht es, den Boden unter den vermeintlich abgeklärten, postmodernen Füßen seiner Leser zu entziehen und dabei eigentümlich heiter und schwermütig zugleich zu bleiben. Der Band erscheint zweisprachig.

luxbooks, Klappentext, 2013

 

Ich bin Gummi und du Leim

– Vom Fremden ins Befremdliche übersetzt: Das Langgedicht Flussbild des großen amerikanischen Dichters John Ashbery. –

Als „torrent of invention“, einen Sturzbach der Erfindung, hat ein Bewunderer John Ashberys Langgedicht Flow Chart bezeichnet. Angesichts seiner Breite und Länge möchte man ihn doch lieber einen Gebirgsstrom nennen. Als schwer erfassbaren Ausdruck von Ennui und Verzweiflung haben andere das in freien Versen und variablen Zeilen geschriebene Epos des großen, in New York lebenden amerikanischen Dichters kritisiert. Der auf Americana spezialisierte Luxbooks-Verlag hat Flussbild nun in einem der Zeilenlänge angemessenen Breitformat auf 381 Seiten zweisprachig publiziert, das in der Vorschau angekündigte Nachwort von Marjorie Perloff ist uns der Verlag leider schuldig geblieben: Eine Nachfrage ergab, es sei aus gesundheitlichen Gründen ausgefallen. Das Werk erschien 1991 im Original und damit genau zwischen den Bänden Selbstporträt im konvexen Spiegel (übersetzt von Christa Cooper und Joachim Sartorius bei Hanser) und Hotel Lautréamont (Erwin Einzinger bei Residenz). In diesen Bänden und auch in der schon wegen seiner Übersetzervielfalt rühmenswerten Luxbooks-Sammlung Ein weltgewandtes Land (2010) herrscht noch jenes coole, lässige und kolloquiale Amerikanisch vor, das die Lesergemeinde der neuen New Yorker Dichterschule lieben und zu verstehen gelernt hat.
Nun aber lassen wir uns bei hohem Wasserstand durch einen Fluss treiben, der Geröll und Gerümpel mit sich reißt und dieses Treibgut nicht von den sprachlichen und gedanklichen Kostbarkeiten trennt, die sich selbstverständlich auch in diesem Langgedicht finden. Dunkle Textschatten legen sich über Sätze, die plötzlich ihre Richtung wechseln und mit großen Inkohärenzen spielen. So entziehen sich mitunter ganze Passagen der Sinndeutung, die Satzlogik löst sich auf. Wer die Geduld verliert, tröstet sich beim wegwerfend beschwichtigenden „Schon gut“ („oh, that’s all right“) des Dichters.
Zur Irritation des Lesers trägt an zahlreichen Stellen die Übersetzung von Matthias Göritz und Uda Strätling bei. Wie einst Hölderlin die antiken Ausdrucksformen und Inhalte des Griechischen in die deutsche Sprache einpflanzen wollte, haben sie sich an vielen Stellen darangemacht, den Wortlaut des Originals und sogar die amerikanische Wortfolge in den Übersetzungstext hineinzunehmen. Aus „in each other’s arms“ wird „in einander Armen“, „shrill ululations“ bleiben auch auf Deutsch ein „schrilles Ululieren“, und „a heavenly apothegm“ findet auch im Deutschen seinen „prägnanten Ausdruck“ als „himmlisches Apothegma“. Besonders an den Stellen, an denen Fremdwörter im Original wie in der Übersetzung ins Spiel kommen, kann man die fast zeichengleiche Übernahme als einen Kunstgriff ansehen, den deutschen Text nicht länger werden zu lassen als das Original. Das ist ungewöhnlich und hat den Vorteil, dass in der zweisprachigen Ausgabe tatsächlich meist Zeile für Zeile einander gegenüberstehen.
Ein Nachteil liegt auf der Hand: So übersetzt man aus dem Fremden ins Schwierige und Befremdliche. Man verweigert bewusst den Beistand zu einem besseren Verständnis. Warum, so werden sich die Übersetzer gefragt haben, sollten sie ihren Lesern Interpretationen anbieten, die Ashbery seinen Landsleuten verweigert? Vielleicht liegt gerade in dieser Weigerung die im Klappentext behauptete Kongenialität der Übersetzer, die ihre Neigung zur Erhöhung der Hürden auch da verwirklichen, wo ein Gleichklang von englischen und deutschen Fremdwörtern nicht gegeben ist. Gleich auf der ersten Seite wird ein englisches „mitered“ im Deutschen durch „infuliert“ wiedergegeben, ein Wort, das außerhalb katholisch-hierarchischer Studien nicht allzu bekannt sein dürfte: zum Tragen der Mitra, der Bischofsmütze, berechtigt sind hier die fernen funkelnden Worte.

The words, distant now, and mitered, glint.

Wird ein so sperriges, riesiges Verskonglomerat mit all seinem Glanz, seinen Abseiten und Schattseiten neben all den schönen, leichter zugänglichen Gedichten John Ashberys sich wirklich als Hauptwerk charakterisieren lassen? Eher doch wohl als eine Kunst- und Wunderkammer aus der Mitte des poetischen Lebens. Ein Ich, mehrere Ichs sprechen sich aus, auch in der dritten Person wird berichtet, Namen werden genannt und wieder vergessen. Zeitspannen von zehn oder dreißig Jahren werden übersprungen oder gerafft, aber die „Wörter schließen, wie immer, den Kreis, schleppen die Bedeutung mit, die immer schon auf der Kehrseite lag… Ich bin Gummi und du Leim, was immer du sagst, prallt an mir ab und klebt an dir, klebrige Umarmung, der ich mich ergebe.“
Ziemlich genau in der Mitte des Buches ist wieder einmal vom Fluss die Rede, von einer Moräne auch „mit Geröllen und Gewächsen“. Der dichtende Erzähler legt seine „Jugend und mittleren Jahre hinein“ und nennt das Flussbild, diese riesige Metapher, „ein Mammut-Postskriptum zu dem, was dein Leben einmal gewesen sein könnte“, ein Postskriptum, das Leben voraussagt.

Herbert Wiesner, Die Welt, 1.6.2013

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Eine Art Fortbewegung
signaturen-magazin.de

Klaus Martens: Sprachfetzen
fixpoetry.de, 1.7.2013

Bernd Leukert: Gedankennetz ohne Boden
faustkultur.de, 4.9.2017

Matthias Friedrich: Sinn tötet
literaturkritik.de, August 2014

Wikipedia zu Flow Chart (poem)

 

 

John Ashbery: Flow Chart / Flußbild (luxbooks), Sneak in: Tom Bresemann

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaum
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Matthias Göritz liest bei der Ars Poetica am 9.10.2010 in Bratislava sein Gedicht „Aus eine alten Anzug“.

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Matthias Göritz: Jam-Session der Götter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.7.2017

Christina Horsten: John Ashbery… wird 90 und schreibt weiter moderne Gedichte
Lausitzer Rundschau, 28.7.2017

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + KLfG + PennSound +
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Nachrufe auf John Ashbery: NZZ ✝ Tagesspiegel ✝ Welt ✝ SZ
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John Ashbery – The Poet’s View.

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