John Ashbery: Und es blitzten die Sterne

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von John Ashbery: Und es blitzten die Sterne

Ashbery-Und es blitzten die Sterne

DER UNTERGANG DES ABENDLANDES

O Oswald, O Spengler, das ist ein recht trauriger
aaaaaBefund!
Meine Dachkammer, meine Kinder
ignorieren mich zugunsten des violett geränderten
aaaaaHimmels.
Es sind keine sauberen Teller im Schrank,
und der Gaul des Milchmanns schleicht vorbei, als
aaaaahätte er
Angst, uns aufzuwecken.

Was! Unsere Kultur und senil!
Allein schon dieses Gedicht hier widerlegt das,
indem es aus dem kollektiven Unbewußten springt
wie ein Wiesel durch ein Gitter.
Ich könnte auf andere Extremfälle verweisen, an Land
als auch auf See, wo die Wellen deine steifen Theorien zermalmen
wie jemand, der eine Erdnuß ißt. Sag lieber,
daß wir nicht außergewöhnlich sind,
daß, wie die Rundung einer Brust über einem Mieder,
unsere Parabeln das Licht suchen und finden, das von
nicht allzu weit zurückkommt. Desgleichen die Stunden,
die wir vergeudet haben: Gänseblümchen, Lichtgespinste.

Am Ende meißelte er heraus,
was auch immer wir nicht wissen sollten.
Dafür sollten wir dankbar sein,
und für diesen Flicken eines Rotkäppchens,
in Dornengestrüpp verfangen vor dem Hintergrund von Schnee.

Sein Buch, ich habe es irgendwo gesehen und gekauft.
Ich habe es nie gelesen, denn es schien mir zu lang.
Seine Theorie jedoch, die habe ich bekämpft,
obwohl sie meinen Gesang perlen läßt,
und jetzt bleibt das Skateboard einwandfrei
stehen. Wir sind dort, wo wir die Positionen
getauscht haben. O wer vermöchte das harte Brot dieser Liebe zu kosten?

 

 

 

Vielleicht

haben diejenigen recht, die behaupten, jedes der Gedichte John Ashberys sei letztlich eine Herausforderung an die Dichtung als solche. Die Art, wie er dabei immer wieder Raum schafft für Lebendigkeit und Überraschung, Ironie und Melancholie, ist sicher unnachahmlich.
Ashbery, der ursprünglich selbst Maler werden wollte, hat immer engen Kontakt zu anderen Kunstsparten gehabt und war wie sein Freund, der früh verstorbene New Yorker Dichter Frank O’Hara, jahrelang Musik- und Kunstkritiker. Schon in seinem allerersten Gedichtband entwirft er die Utopie eines poetischen Diskurses, in dem sich Wörter wie Farben oder Noten anordnen zu ungewöhnlich frei improvisierten Kompositionen. Wenn dennoch immer wieder Anklänge an die Tradition und an die großen Fragen der Dichtung seit der Romantik aufblitzen, so sind freilich die Antworten – sofern es welche gibt – nicht mehr diejenigen der Romantik oder einer historisch gewordenen Moderne: Ashberys Gedichte verweigern die für Generationen von Lyrikern üblichen Bekenntnisse und entfernen sich zunehmend von der akademischen Moderne, brechen dabei aber auch mit den inzwischen als typisch amerikanisch geltenden Mythen der Innerlichkeit und Expressivität.

Residenz Verlag, Klappentext, 1997

 

Leoparden wie Eistee

– John Ashberys lyrischer Instrumentenkoffer. –

Die „enthusiastisch aufgeregte“ nannte Goethe die Lyrik im Unterschied zu den anderen „Naturformen der Dichtung“, Epos und Drama. Was aber wäre peinlicher in einem Gedicht als gerade der Klartext des platten Empfindens? Ob im Enthusiasmus des Liebesbegehrens oder in der Aufregung über die Schlechtigkeit der Welt, stets ist die treuherzige Bekundung des Selbsterlebten das Signum des Dilettanten gewesen, jener Spezies also, über die Goethe an anderer Stelle nicht nur Freundliches zu sagen weiß:

Dilettantism kann doppelter Art sein. Entweder vernachlässigt er das (unerläßliche) Mechanische und glaubt genug getan zu haben, wenn er Geist und Gefühl zeigt. Oder er sucht die Poesie bloß im Mechanischen, worin er sich eine handwerksmäßige Fertigkeit erwerben kann, und ist ohne Geist und Gehalt.

Spätestens mit dem Anbruch der Moderne ist die Gestalt des klassischen Dilettanten vollends der Lächerlichkeit preisgegeben: Der Fortschritt braucht Spezialisten, das gilt für die Lyrik nicht weniger als für die Kardiologie. Weil aber die Dichtkunst aller zeitgemäßen Ernüchterung zum Trotz immer wieder einmal mit den Funktionen des Herzens zu tun hat, entwickelten die Profis der Poesie in ihren Sprachlabors eine Reihe alter Methoden weiter, die es ihnen ermöglichen sollten, Klartext zu reden, ohne peinlich zu wirken. Dazu zählen vorgebliche Gelassenheit und klangvolles Sprachmelos (wie bei Benn und Auden) ebenso wie Distanzierung durch Ironie und Rollenspiel (wie bei Eliot). All diese Techniken haben eines gemeinsam: Es geht ihnen nicht um die ehrliche Darstellung des Empfindens, sondern um die Suggestion von Ehrlichkeit. Wer wahrhaftig sein möchte in der Lyrik, der tut gut daran, sich zu verstellen.
Niemand weiß das besser als John Ashbery, einer der modernen Klassiker der Generation nach Auden. Kaum einer seiner Zeitgenossen verfügt über ein so reichhaltiges Instrumentarium der Peinlichkeitsvermeidung wie dieser amerikanische Lyriker. Wann immer John Ashbery, der Mensch, die Hand auf das Papier senkt, um aufzuschreiben, was ihn bewegt, kommt sogleich John Ashbery, der Spezialist, herbeigeeilt. In der Hand hält er einen voluminösen Instrumentenkoffer, in seinem Gebaren erinnert er ein bißchen an jenen peniblen Fachmann für Leichenbeseitigung, wie ihn Harvey Keitel in dem Film Pulp Fiction verkörperte. Mit einem raschen Blick erfaßt er die Situation und beugt sich mit vielgestaltigem Besteck über den Text, nimmt hier etwas weg, fügt dort etwas an, schraubt, biegt und drechselt, strafft und lockert nach Bedarf. Dann erhebt er sich und tritt einen Schritt zurück, um sein Werk zu mustern. Es ist ihm, wie immer, wohlgeraten. Zufrieden ergreift der Spezialist Ashbery das vollendete Artefakt und legt es zu den Dutzenden anderer, die nicht nur gleich perfekt, sondern einander auch sonst zum Verwechseln ähnlich sind.
Werfen wir einen Blick in den Instrumentenkoffer des Dichters. Ein typisches Ashbery-Gedicht der neunziger Jahre setzt mit einer so selbstgewiß wie gelassen vorgetragenen Behauptung ein. Sie kann einen alltäglichen Klang haben („Heute würde ich es einfach so lassen, wie es ist“), sie kann die Dramatik des Groschenromans generieren („Unsere schlimmsten Befürchtungen sind eingetreten“), meist aber klingt sie auf eine seltsam muntere Art raunend und dunkel:

Diese Ankunft, ein Vorgeschmack dessen, was einige entsetzt,
übernahm ihren angestammten Platz als eine Statistik

Solche Sätze erzeugen eine gespannte Erwartung auf das, was sich dahinter verbergen mag. Die Kunst des Spezialisten Ashbery besteht jedoch darin, die Neugier des Lesers zu düpieren. Mit einer geschmeidigen Bewegung weicht der Dichter auf anderes Terrain aus, hin zu neuen Behauptungen und Täuschungsmanövern:

Unsere schlimmsten Befürchtungen sind eingetreten.
Darauf folgt eine Kette von Erfolgen und Fehlschlägen.
Sie bittet uns, doch zu bleiben: Bleib,
eine Minute nur, geht das nicht?

Die Art der Metaphernbildung in dieser Eingangsstrophe des Gedichts „Frühlingsgeschrei“ ist typisch für Ashbery: Der Dichter nimmt die Alltagsmetapher einer „Kette von Erfolgen und Fehlschlägen“ wörtlich, indem er sie zum Subjekt des Folgesatzes macht. Doch die Transformation des Abstrakten ins Gegenständliche dient ihm nur als Zwischenstation auf dem Weg zur voll entfalteten Katachrese: Diese Kette klirrt nicht, sie spricht; noch dazu im schwammigen Duktus partnerschaftlicher Verkettung.
Scherzhaft könnte man das Verfahren als „katachretische Semimetapher“ bezeichnen. Die metaphorische Bildfindung ist in ihr gleich zweifach abgeschwächt und zurückgenommen: einmal dadurch, daß sie auf ihre dinghafte Gestalt zurückgeführt wird, zum anderen dadurch, daß dem toten Gegenstand überraschendes Leben eingehaucht wurde. Das solche Volten nicht der puren Lust an der Artistik entspringen, versteht sich bei einem so kühl kalkulierenden Dichter von selbst: Ashbery möchte bildhaft sprechen, ohne sich dem Risiko des Blumigen auszusetzen, das so oft im Metaphorischen blüht. Wiederum soll also Peinlichkeit vermieden werden; diesmal um den Preis des Ulkig-Possierlichen. Das hat durchaus eigenen Charme, und gerade die hier zitierten Verse sind in ihrer Art meisterhaft. Problematisch werden die rhetorischen Kunststücke, wenn ihr Erfinder sie in Serie zu fertigen beginnt. Da heißt es dann:

Im Greißlerladen des Frühlings
traf ich jemanden, …
den ich
neben der Truhe für Molkereiprodukte geliebt hatte.

Oder:

Und der Leopard ist durchsichtig, wie Eistee

Auf der Flucht vor dem Leser kennt Ashbery noch einige weitere wirkungsvolle Kniffe. So tauchen vorzugsweise im letzten Drittel eines Gedichtes plötzlich neue Personen und Orte auf, bringen für ein, zwei Verse ihre eigenen Bilder, Reize und Probleme mit sich, um dann ebenso schnell, wie sie gekommen sind, im wimmelnden Orkus des Œuvres zu verschwinden. Man liest:

Ja, die muhenden Wälder rund um diesen Bahnhof sind
teils extrem,
und die Drahtzäune gehen tief hinein
in einige ihrer Bereiche.

Das ist nicht nur schön gesagt, es eröffnet auch eine Bühne für vielerlei teils extreme Dramen. Ganz gewiß jedoch nicht für das folgende Trauerspiel, das die glücklich gefundenen Drahtzäune mit scheinbar beiläufiger Geste der Beliebigkeit des Lebens überantwortet:

Wir wissen nicht,
wozu sie dienen, auch nicht, warum wir schnarchen,
während ein Käfer
die lila Rauten der Tapete überquert.

Wieder sitzt der Leser düpiert da, weil er seine Imagination in einen ganz bestimmten Bahnhof investiert hat, aber nur die häßlichen Muster einer Tapete zu sehen bekommt, der unter anderen Umständen gewiß mehr als nur ein Schnarchen abzugewinnen gewesen wäre. Dennoch wirken manche Gedichte in dem (von Erwin Einzinger ausgezeichnet übersetzten) Band Und es blitzten die Sterne geradezu gefühlsselig. Anders als in dem vorangegangenen Hotel Lautréamont (1992) hat man hier nicht selten das Gefühl, hinter allen Camouflagen einen Blick auf den Dichter als Menschen zu erhaschen. „Wir leben unser Leben nie lange genug, / um zu wissen, wie das Heute aussieht“, lautet etwa ein Zitat, das aus ironiefreier Zone geborgen werden konnte, ein anderes: „Ja, aber das Leben ist ein Zirkus, eine vorbeiziehende Show“, ein drittes, mit nur leiser Ironie:

Das Zuhause ist eine Zustelladresse für kalt geliefertes Essen.

Man ahnt, warum John Ashbery seine Gedichte mit derart starken Sicherheitsvorkehrungen umgeben mußte: Der Mann, dessen Foto den Leser von der Umschlagklappe mit tief herabgezogenen Mundwinkeln anschaut, wirkt, aller kunstvollen Launigkeit seiner Gedichte widersprechend, wie ein Melancholiker von hohen Graden.
Die Verstellungskunst Ashberys weist jedoch weit über die Person des Schriftstellers hinaus. Vor allem hat ein mit dem Anbruch der Moderne aufkommender Zweifel am Wert des originären Kunstwerkes tiefe Spuren in ihnen hinterlassen. Ashberys Gedichte nehmen damit eine Ausnahmestellung in der modernen Literatur ein, die im Gegensatz etwa zur zeitgenössischen bildenden Kunst den Rückzug des Schöpfers aus dem Kunstwerk kaum je ernsthaft erprobt hat – nicht umsonst wurde immer wieder auf den Bezug Ashberys zur Malerei hingewiesen. Seine Gedichte sind ihr auch darin nahe, daß sie sich weniger an der Entwicklung eines Themas oder einer Sprachgebärde interessiert zeigen als an einem Nebeneinander skizzierter Sprachräume und -motive. In gewisser Weise tragen Ashberys Gedichte den Widerspruch zwischen zwei Strategien der Moderne aus: dem gezielten Unterlaufen der Lesererwartung einerseits und dem willkürlichen Spiel mit der Originalität des Kunstwerkes andererseits. Weil aber die seriellen Anklänge sich in der Verwendung der immer gleichen Phrasen und Stilmittel äußern, wird unweigerlich auch die Erwartungshaltung des Lesers mit den immer gleichen Manövern unterlaufen. Doch ist der Kunstkonsument beileibe nicht so träge, wie ihn sich die Moderne immer gern vorgestellt hat. Schon bald hat er seine Erwartungen den Gegebenheiten des Textes angepaßt und erwartet nun eben das, was ihn überraschen soll: düpiert zu werden. Schlimmstenfalls erwartet er gar nichts mehr. So läßt sich an den Gedichten des modernen Klassikers John Ashbery quasi im Schnellkurs das klassische Dilemma einer Spielart der Moderne erfahren, die den mechanischen Dilettantismus zur einzig professionellen Art der Kunstausübung erklärte.

Steffen Jacobs, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.4.1997

 

Eine Stimme für viele Ichs

Jürgen Becker: John Ashbery, Deine Gedichte reichen zurück zur romantischen Tradition der amerikanischen Lyrik; sie nehmen das Echo Walt Whitmans auf wie das der Stimmen von Lautréamont, Rimbaud und Raymond Roussell. Dein poetisches Werk geht durch die Schulen des Surrealismus und Dadaismus und begründet selber in den 40er und 50er Jahren die New Yorker Schule mit. Deine Gedichte erzählen immer eine persönliche, subjektive Geschichte, und doch habe ich oft das Gefühl, daß in diesen persönlichen Gedichten Geschichte, amerikanische Geschichte mitspricht, miterzählt.

John Ashbery: Nicht Geschichte im strengen Sinn, weil die amerikanische Geschichte eine der langweiligsten ist. Der Dichter Alan Tate gab einmal die Direktive aus, kein amerikanischer Dichter könne anständige Gedichte schreiben, wenn er nicht gründliche Kenntnisse von der amerikanischen Geschichte habe. Das kommt mir völlig unsinnig vor – ich habe keine gründliche Kenntnis von der amerikanischen Geschichte und will auch keine, jedenfalls nicht im strengen Sinne der Geschichte. Doch die amerikanische Szene, „Stimmung“ und was dazu gehört, das spielt eine große Rolle in meinen Gedichten.

Becker: Deine Gedichte zeigen, wie die Berührung mit Gegenständen, mit Motiven das Spiel der Assoziationen freisetzt und dabei poetische Erzählungen entstehen, die zugleich mentale Selbstportraits sind. Wo steckt das Ich von John Ashbery in den Gedichten?

Ashbery: In meinen Gedichten gibt es viele verborgene Anspielungen und Zitate. In einem meiner letzten Gedichte mit dem Titel „The mandril on the turnpike“ schaue ich auf einen Ort, der mir seit vielen Sommern lieb und teuer ist, und Engländer würden in der Zeile natürlich „Nach vielen Sommern stirbt der Schwan“ erkennen, die Aldous Huxley benutzte, die aber ursprünglich von Tennyson stammt. Diese losgelösten Erinnerungen an englische und amerikanische Dichtung, die ich als Kind oder Heranwachsender vielleicht las, tauchen in meinen Gedichten immer wieder auf. Doch sie machen vielleicht nicht so sehr das „Ich“ aus, von dem Du sprichst, wie die Tatsache, daß das „Ich“ in meinen Gedichten sich mit jeder durch den Kopf gehenden Erinnerung schneiden kann – ob das nun eine Zeile aus einem Gedicht ist oder ein Ereignis in meiner Kindheit oder etwas, was ich heute in der Zeitung gelesen habe. Ich komme mir ein wenig wie ein Gully in der Straße vor, wo sich Dinge wie Zeitungspapier und Blätter usw. fangen.

Becker: Deine Gedichte erzählen nicht Anekdotisches, Referierbares, sondern, wie sich im Bewußtsein Gedanken, Erinnerungen, Bilder, Wahrnehmungen zu einem mehrstimmigen Selbstgespräch fügen. Gibt es ein Ich für jede Stimme, oder ist es eine Stimme für viele Ichs oder sogar wie bei Rimbaud „Je est un autre“?

Ashbery: Ich denke oft an diese Zeile, und sie erscheint mir charakteristisch für mich – ich habe kein sehr starkes Selbstgefühl, und in meinen Gedichten reden Stimmen zueinander und miteinander. Andere sprechen einen Leser an und wieder andere sprechen zu sich selbst. Ich empfinde eine Art Polyphonie in den Gedichten, aber ich weiß nicht, warum ich sie schaffe oder ob ich es nicht tun sollte. Ich fange jedenfalls an zu schreiben, ohne daß ich mir ein Thema vorgenommen hätte. Ich glaube auch nicht, daß ich ein suche, ich führe nur die Sujets und Motive bis zum Ende des Gedichts. Ich weiß instinktiv, wenn ein Gedicht fertig ist – es ist, wie wenn ein blinder Mensch auf einer Reise aufwacht und weiß, daß er am Ende der Reise angelangt ist.

Becker: John, Du wurdest 1927 am Ontariosee geboren, hast in Harvard und an der Columbia-Universität in New York englisch und französische Literatur studiert und anschließend von 1955 bis 1965 als Kunstkritiker in Paris gelebt. Dein erster Gedichtband Trees, dem 10 weitere folgten, erschien 1956. Gibt es für Dich eine Entwicklung von Buch zu Buch?

Ashbery: Das kann ein Kritiker leichter sagen. Ich kann nicht weit genug aus dem, was ich schreibe, hinaustreten, um das zu beurteilen. In gewissem Sinne stimmt es sicherlich, denn nach meinem ersten Buch hatte ich das Gefühl, ich hätte einen bestimmten Stil erreicht, in dem ich schreiben wollte. Doch dann funktionierte es nicht mehr, und ich ging nach Frankreich, wo ich dann zehn Jahre lang lebte. Dort war ich erst verunsichert, weil ich kein Amerikanisch mehr auf der Straße hörte, und die Sprache der Straße spielt ja immer in meine Lyrik hinein. Deshalb schrieb ich dieses experimentelle Buch The tennis court oath, bei dem es sich eigentlich um Skizzen handelt, die ich aus eigenem Interesse schrieb. Als ich eine Chance hatte, das Material zu veröffentlichen, das eine Menge unabgeschlossener Experimente einschloß, die eigentlich nur für mich gedacht waren, schickte ich es dem Verleger, weil ich natürlich gern ein Buch veröffentlichen wollte. Besonders zu Beginn dieses Buches stehen einige Gedichte, mit denen ich, glaube ich, tatsächlich meine Absicht erreichte, nämlich zu versuchen, Lyrik auseinanderzunehmen, um nachzusehen, wie sie gemacht war, und dann wollte ich sie wieder zusammensetzen. Und das setzte ich mit meinem nächsten Buch Rivers and Mountains in die Tat um, und das mache ich seitdem, deshalb ist meine Lyrik eigentlich die gleiche, wenn auch anders als damals, als ich anfing zu schreiben.

Becker: Ich habe den Eindruck, daß in Deinen Gedichten die Einflüsse von außen immer weniger geworden sind. Am Anfang standen noch europäische Einflüsse, beispielsweise der Surrealismus, aber inzwischen dominiert Deine eigene Stimme, der Chor Deiner Stimmen ganz allein. Hast Du das Gefühl, beim Schreiben immer freier zu werden?

Ashbery: Ich glaube, jeder beginnt in dem Stil von Dichtern, die er sehr bewundert, auch wenn es einem beim Schreiben nicht klar ist. Bei mir erinnert beispielsweise ein Gedicht wie „Le livre est sur la table“ fast peinsam an Wallace Stevens. Aber als ich es schrieb, wußte ich es nicht. Man braucht andere Gedichte, die man mag, als Absprungplatz. Ich habe oft das Gefühl, daß es ist, als säße man in einem Boot und winke all den Dichtern an der Küste Adieu und ihr Winken wird immer kleiner und kleiner, je weiter man sich entfernt.

Becker: Viele meiner deutschen Kollegen interessieren sich nur für Literatur und Politik, während die anderen Künste – Musik, Malerei – keinen Einfluß auf sie haben. Bei Dir dagegen habe ich den Eindruck, daß Deine Arbeit immer parallel zu der Entwicklung in anderen Künsten gestanden hat, daß Du vielleicht, wenn nicht sogar entscheidend, beeinflußt worden bist durch Musik und Malerei.

Ashbery: Ich habe lange Jahre mein Geld als Kunstkritiker verdient und war befreundet mit Frank O’Hara, habe zusammengearbeitet mit Larry Rivers. Doch auch die Musik hat mich beeinflußt, die eine Art innerer Logik und Erzählkraft hat, die man nie verbalisieren kann, auch wenn man den Drang hat, es zu tun. Die amerikanische Lyrik heute ist allerdings auch sehr politisch geworden, und ich habe das Gefühl, daß man meine Lyrik als etwas beinahe Frivoles ansieht, jedenfalls etwas, das nicht im literarischen Mainstream liegt. Aber das beunruhigt mich nicht.

Becker: In der deutschen Literatur besteht oft der Anspruch an moralisches und vor allen Dingen politisches Engagement. Hat der Gegensatz littérature engagée – littérature pure für Dich je eine Rolle gespielt? Hat man Dir je den Vorwurf des l’art pour l’art gemacht?

Ashbery: Ich bin immer meinem Weg gefolgt, den man wahrscheinlich als l’art pour l’art bezeichnen könnte. Der Hauptgrund dafür ist, daß man bei der politischen Literatur immer schon das Ende der Geschichte weiß, ehe man auch nur anfängt zu lesen. Wenn man beispielsweise ein Buch liest von Scholochow – ich habe den Stillen Don als Auszeichnung zum Schulabgang bekommen –, dann weiß man schon, daß die Kräfte des Guten die Kräfte des Bösen wieder wettmachen. Aber das weiß man sowieso, und ich meine, daß die reine Poesie einen auch gut handeln läßt, auch politisch. Ein Gedicht von John Donne weckt den Wunsch, die richtige Person zu wählen und sich zu lieben und nett zu Kindern und Tieren zu sein und seine Träume zu träumen. Man weiß all diese Dinge – ich mag einfach nicht von Literatur belehrt werden

Becker: Bleibt die Frage, von was ein amerikanischer Lyriker lebt. Du bist Professor für „Creative Writing“. Kann man Schreiben lehren, kann man Schreiben lernen? Nein! Aber Du unterrichtest es.

Ashbery: Das ist offensichtlich ein Paradox. Creative Writing ist in den Vereinigten Staaten eine Art Industrie geworden, die Dichtern hilft sich einen Lebensunterhalt zu verdienen, doch besonders an den traditionellen akademischen Instituten der Universitäten herrscht immer noch das Gefühl, daß man es eigentlich nicht tun kann. Und es stimmt, man kann jemandem, der kein Talent hat, nicht beibringengen, Lyrik zu schreiben, doch jemand, der begabt ist, scheint aus diesen Seminaren oft etwas zu gewinnen. Sie sind ein wenig wie eine Psychoanalyse, glaube ich, ohne daß über die Psyche des Schreibers gesprochen wird.

Becker: Wieviele Studenten hast Du?

Ashbery: Ich versuche, immer zehn zu haben. Weniger ist zuwenig, und mehr ist zuviel. Erst gebe ich ihnen Aufgaben, beispielsweise ein Gedicht in einer komplizierten Form wie der Sestine zu schreiben oder ich fordere sie auf, ein Gedicht aus einer fremden Sprache zu übersetzen, die sie nicht sprechen und sich vorzustellen, was die Worte bedeuten, damit sie das Gedicht, das sie eigentlich schreiben wollen, erst einmal vergessen und es später wirklich schreiben können. Ich versuche, den Unterricht lose strukturiert zu halten. Er ist eigentlich nur eine Unterhaltung, bei der wir alle um den Tisch sitzen, und alle bringen genügend Kopien ihrer Gedichte mit, damit jeder im Seminar eines zum Lesen hat. Und mit der Zeit merke ich, daß sie wirklich arbeiten, besser werden, und ich bin sicher, es liegt einfach am Austausch zwischen mir, einem ausgewiesenen Dichter, und ihnen, die vom richtigen Dichter wissen wollen, was er macht. Ein Freund von mir, ein bekannter Dichter, James Tate, der auch einmal so einen Kurs belegt hat, sagte einmal von seinem Lehrer „Ich glaube, ich habe mehr davon gelernt, ihm zuzusehen, wie er seinen Mantel anzog, als von allem, was er über Dichtung sagte“.

Jürgen Becker und John Ashbery führten das Gespräch in englischer Sprache; Karin Graf übersetzte es.

LITFASS, Heft 61

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Matthias Göritz: Jam-Session der Götter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.7.2017

Christina Horsten: John Ashbery… wird 90 und schreibt weiter moderne Gedichte
Lausitzer Rundschau, 28.7.2017

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John Ashbery – The Poet’s View.

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