Joochen Laabs: Ungerechtfertigtes Lamento

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Joochen Laabs: Ungerechtfertigtes Lamento

Laabs/John-Ungerechtfertigtes Lamento

MEIN SCHATTEN

Mein Schatten, Schlemihl, treuer Freund,
du bist mir fest verbunden,
zwar scheints, wenn keine Sonne scheint,
als wärst du dann verschwunden.

Das eben aber scheint nur so,
du gehst mir nicht verloren.
Kaum steht die Sonne irgendwo,
bist du wie neu geboren,

und hältst das Maß aus alter Zeit,
aus meinen guten Jahren,
verrätst kein Alter und kein Leid
und was wir sonst erfahren.

Bist schlank und rank, kein weißes Haar
trägst du auf deinem Scheitel.
Wie ich der Welt gewachsen war,
so bleibst du, stolz und eitel.

Du bist das Jahreszählen leid,
wem solcher Platz gebührte.
Wir lagen beide nie im Streit,
wer folgte und wer führte.

Vielleicht liegt ja in dir der Sinn,
des Lichtspiels, das wir treiben.
Wenn ich dann einst verschwunden bin,
vielleicht wirst du ja bleiben.

Ich fürchte aber, dass ich dir
zu guter Letzt doch fehle.
Und schließlich kommst du doch zu mir,
damit ich nicht alleine bin,
ganz ohne Licht und alles in
der schattenlosen Höhle.

 

 

 

Poetische Zeitzeugnisse

In der legendären Lyrikwelle debütierte Joochen Laabs 1970 mit dem Gedichtband Eine Straßenbahn für Nofretete. Romane, Erzählungen, Essays, Features und wiederum Gedichte folgten.
Nun legt Laabs ein lyrisches Zeugnis durchlebter Denk- und Gefühlslagen vor, das sich in großem Bogen über mehr als ein halbes Jahrhundert von der Nachkriegs- bis in die Nachwendezeit spannt. Die ungestüme, welterfassende Geste des Aufbruchs, verbunden mit großen Erwartungen an die Liebe und das Leben, findet ihren Platz. Aber auch mindestens so intensiv erlebte Ernüchterungen werden zum Thema. Knappe, prägnante Wortwahl wechselt mit kunstvoll sich ausbreitender Rede. Lapidare, scheinbar arglose Sätze entfalten unerwartete Tragfähigkeit oder entpuppen sich als hinterhältige Fallgruben. Ein immer wiederkehrendes Motiv (des einstigen Verkehrsplaners): Bewegung. Straßen-, und Eisenbahnfahrten, Flüge, reale oder fiktive Reisen als Ausdruck von erlebter und vorenthaltener Welt- und Lebenserfahrung, dingfest gemacht an Namen, Geschehnissen, Städten und Landschaften.

Quintus-Verlag, Ankündigung

 

„Ich will Kolumbus sein“

– Joochen Laabs machte sich selbst ein Geschenk zu seinem 80. Geburtstag. –

Als Joochen Laabs 2006 für seinen Roman Späte Reise mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet wurde, kam er in seiner Dankesrede darauf zu sprechen, was ihn zur Literatur gebracht habe. Die Erinnerung führte zurück an das Kriegsende 1945 und zu jenem Erweckungserlebnis, bei dem der damals Achtjährige auf Bücher stieß, die sich vor dem demolierten großelterlichen Gehöft in einem Berg von Bruch und Müll fanden. „Ich las, und was mich umgab, entzog sich mir“, so Joochen Laabs in seiner Dankesrede.
Es waren Gedichte von Theodor Storm und Nikolaus Lenau darunter, die den Jungen aus der ihn umgebenden Zerstörung in eine „Zweitwelt“ führten und von den „Bedrückungen befreiten“. Diese frühen Prägungen haben etwas Existenzielles gestiftet und sind mitverantwortlich dafür, dass aus Joochen Laabs ein Dichter wurde! Und es nimmt nicht wunder, dass er mit Gedichten debütierte. Eine Straßenbahn für Nofretete, so hieß der Band, der 1970 erschien.
Nun, 47 Jahre später – wo sind die Jahre geblieben? – macht der Autor sich und seinen Lesern einen wunderschönen Gedichtband zum Geschenk, der den Titel Ungerechtfertigtes Lamento trägt. Die lyrische Erkundung präsentiert sich in unterschiedlichsten Formen und ist einmal mehr ein Beleg für das, was Joochen Laabs schon immer ausgezeichnet hat: sensible Welterkundung, beharrliches Engagement, zurückhaltende Sinnsuche und nicht korrumpierbare Standfestigkeit. In Zeiten der großen Gesten und des überlauten Geredes ist es eine Wohltat, die Stimme eines Autors zu vernehmen, der mit Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung darauf aus ist, Schichten des Gestern und des Heute freizulegen.
Dabei steigt das Ich tief hinab in die Vergangenheit, es spannt einen Bogen von der Kindheit im Nachkrieg über die utopischen Jahre des Neubeginns und die ernüchternden Erfahrungen des sich einstellenden Alltags bis hin zum so nicht erwarteten Zerplatzen der großen Hoffnungen. Dabei werden die Zeitläufte minuziös durchmessen und die Innenwelten des Ichs geprüft.
Trotz allen Wandels über die Jahrzehnte kehren in den lyrischen Zeugnissen Topoi wieder, die auf einzigartige Weise an den Autor Joochen Laabs gebunden sind, das Reisen und das Erkunden fiktiver und realer Welten, die über so unterschiedliche Transportmittel wie die Straßenbahn und das Flugzeug erreicht werden. Und einmal mehr befindet sich das Ich im Dialog mit seinem Schatten:

Mein Schatten, Schlemihl, treuer Freund,
du bist mir fest verbunden

Da ist er wieder, der Bezug auf Adalbert von Chamissos phantastische Geschichte.
Der Schatten und der mögliche Verlust desselben, dies ist eine Metapher, die sich durch Leben wie Werk des Autors zieht. Sie führt mehr als 50 Jahre zurück in eine Zeit, da die Stimme eines jungen Mannes in einer Gruppe anderer Junger – Volker Braun, Jurek Becker, Klaus Schlesinger, Helga Schütz oder Gerti Tetzner – zu vernehmen war. „Lyrikwelle“ hieß das damals und markierte in den 1960er Jahren den Anspruch einer Generation, die an dem Projekt einer „Demokratischen Republik“ (Uwe Johnson) mit ihren künstlerischen Mitteln beteiligt sein wollte.
Das Grashaus, dieser wundervolle Roman, der 1971 folgte, kündet bereits im Titel davon, dass es um adoleszente Größen- und Allmachtphantasien geht, nämlich die „Aufteilung von 35.000 Frauen auf zwei Mann“. Freilich steht dahinter eine statistische Berechnung, die offenbarte, dass der Ich-Erzähler den Kenntnissen seines Schöpfers vertrauen konnte. Denn der war ein diplomierter Ingenieurökonom.
Mitte der 1970er Jahre traf Joochen Laabs dann eine Entscheidung, er gab seinen Beruf auf und wurde nach seiner Entlassung aus der Redaktion der Zeitschrift Temperamente das, was man einen freischaffenden Autor nennt. Der sah, wie die hoffnungsvollen Ideale an der Realität zu scheitern drohten, und er erzählte davon in einem wichtigen Roman. Der Ausbruch hieß der und erschien 1979. Schließlich – wiederum zehn Jahre später – folgte der Schattenfänger, ein Roman, bei dem die Schlemihl-Bezüge bereits im Titel offenbar wurden und der mit dem Vorführen von „gestockten Widersprüchen“ Bewegung provozieren wollte.
Es kam anders als erhofft. Dennoch oder gerade: Wer heute wissen will, was der zweite deutsche Staat einmal war und was nicht, der sollte Joochen Laabs Romane lesen und keine Geschichtsbücher.
Der Gang der Geschichte brachte es mit sich, dass aus dem zurückhaltenden Beobachter und Erzähler jemand werden musste, der sich öffentlich einmischt und in einer schwierigen Zeit in ein Amt einbringt: 1993 bis 1998 war Joochen Laabs Generalsekretär des PEN-Zentrums (Ost) und dann nach der Vereinigung als Vize-Präsident. Einige Jahre später und frei von eigenen Erwartungen und Zwängen der Außenwelt legte Laabs mit seiner Späten Reise einen Roman vor, der einen neuen Zugang zu den vereinfachenden und abgenutzten Bildern von DDR eröffnet. Und er erhielt zu Recht einen Preis dafür!
Franziska Augstein kam in ihrer schönen Laudatio auf den Uwe-Johnson-Preis auch auf Erwartungen von Joochen Laabs zu sprechen, der sehr wohl weiß, dass die Welt nicht so beschaffen ist, wie er sie sich wünscht. „Von der Außenwelt verlangt Joochen Laabs“, so Franziska Augstein, „dass er über Bäume nachdenken kann. Er will daran – erstens – nicht gehindert werden, unter dem Vorwand, es gebe Wichtigeres zu tun. Und er will zweitens nicht durch infame politische Ereignisse davon abgehalten werden.“ Das war 2006!
Joochen Laabs hat weiter über Bäume nachgedacht und nicht nur über Landschriften geschrieben, und er hat sich dabei nicht von bedrückenden politischen Weltlagen abhalten lassen. Das soll auch weiter so sein!

Carsten Gansel, neues deutschland, 3.7.2017

Der gute Stern nun auch auf unseren Straßen“ 

Joochen Laabs wird 80 und beschenkt uns mit Gedichten. – 

Der neunzehnjährige Cottbuser Straßenbahnfahrer Joochen Laabs kehrte 1956, den es seiner Verehrung Jack Londons wegen (und dito einer unsterblich zu nennenden Liebe zur Geografie) eigentlich in fernere Welten gezogen hatte, in seine Geburtsstadt Dresden zurück, um zu studieren und anschließend den städtischen Verkehr der DDR wissenschaftlich zu erforschen. Dem Vernehmen nach soll er maßgeblich an der Entwicklung eines mechanischen Gerätes zum schaffnerlosen Fahrscheinverkauf in Bus und Bahn, der legendären Zahlbox, beteiligt gewesen sein. Zum Ausgleich ging er in seiner freien Zeit einer Tätigkeit nach, deren Ergebnis unter pekuniärem Blickwinkel betrachtet, gegen Null zu tendieren drohte: dem Schreiben von Gedichten. Sein erster Lyrikband Eine Straßenbahn für Nofretete erschien 1970 im Mitteldeutschen Verlag Halle und wurde mit dem Martin-Andersen-Nexö-Kunstpreis der Stadt Dresden ausgezeichnet. Die zweite Gedichtsammlung Himmel sträflicher Leichsinn präsentierte Laabs 1978. Im gleichen Jahr scheiterte er grandios mit dem kompletten Redaktionskollegium der Berliner Literaturzeitschrift TEMPERAMENTE (dem auch Richard Pietraß und Joachim Walther angehörten) an den nicht eben als gedeihlich empfundenen Maßgaben der kulturpolitischen Administration, weswegen er, nicht eben freiwillig, in die Freiberuflichkeit startete und sich als Verfasser geschätzter, viel gelesener umfänglicher Romane und stringenter Erzählungen profilierte. Erinnert sei stellvertretend nur an die noch vor der Wende 1989 unter dem Titel Der Schattenfänger erschienene schonungslose Bilanz eines sukzessive an den herrschenden Verhältnissen Scheiternden oder die listig als Reisereport getarnte große Nachdenklichkeit, schlicht Späte Reise genannt, für die der Autor 2006 mit dem Uwe-Johnson-Preis geehrt wurde.
Nun aber, in seinem 80. Lebensjahr und keineswegs altersmüde, bekennt sich Laabs mit einem jugendlich saloppen, jedoch nichtsdestoweniger ungerechtfertigten „Lamento“ (so der Titel des im Frühjahr erschienenen Auswahlbandes) zum Anbeginn seines literarischen Schaffens und offeriert, sorgfältig zusammengestellt, geballte Poesie, ein reichliches Hundert Gedichte aus nahezu fünf Jahrzehnten – gebündelt den Abteilungen „Ich will Kolumbus sein“ / „Immer wieder mal um mal“ / „Bodenproben“ und „Ungerechtfertigtes Lamento“ zugeordnet.
Antritt das dem Elternhaus entwachsene Individuum, das sich mit Händen und Füßen und Stimme dagegen zu wehren beginnt, beständig mit „Fertigem“ konfrontiert zu werden, Fremderfahrung geimpft zu bekommen, bewindelt und bemündelt zu sein: 

Laßt mich einen neuen Seeweg nach Indien suchen!
Auch wenn ihr mir die Atlanten aufklappt, voller
Messwerte bis in den letzten Winkel.

Was aber haben wir denn schon, sinniert der junge Dichter und was fehlt, was gilt es zu vermissen oder zu begehren? Denn: 

Wir haben zu essen, zu schlafen und beizuschlafen
Wir haben die Lizenz, in das Türschild unser Gütezeichen
einzugravieren.
Wir haben vom Sessel in Armweite den Knopf, um die fünf
biederen Sandbuckel in unseren vier Wänden sich
austoben zu lassen.

… Frieden haben wir nicht, aber wenn wir ihn haben. –
Was brauchen wir noch, dann?

Den sarkastischen Unterton, die neusachliche Ironie einer Sprache, die sich salopp dem technischen Zeitalter zu stellen weiß, die so oft beschworene lapidare „Geste der natürlichen Mitteilung“, jene wohltuende Abwesenheit von falschem Pathos und gefühligem Überschwang, hat sich Joochen Laabs bis in die jüngeren und jüngsten Gedichte hinein bewahrt. Das ist ein großes Glück, denn: 

Alles, was Recht ist und jetzt ist alles
Recht, was man hat ist zu wenig mal
ehrlich aber was man nicht hat ist
zuviel auf einmal Einigkeit und Recht und Freiheit
konvertierbar und nicht nur bis an die Maas
ätsch die ganze Welt liegt plitzplatz
zu unseren adidasbeschuhten Füßen und darüber
der gute Stern nun auch auf allen unseren
Straßen… 

Robert Losknecht, SAX 7, 2017

Poesie aus der Straßenbahn 

Ungerechtfertigtes Lamento ist der Gedichtband überschrieben, den Joochen Laabs zu seinem gestrigen 80. Geburtstag seinen Lesern zum Geschenk macht. „Ich will Kolumbus sein“, steigt er unverdrossen ein, sich und andere ermunternd: 

Lasst mich einen neuen Seeweg nach Indien suchen!

Seine Poesie beschreibt den „pubertierenden Saft im Fleisch“, lässt Lichtblicke zu, erinnert an Prag im Herbst 1968, an gute und schlechte Zeiten, schöne Landschaften und an den Versuch, manchmal auf einem Bein zu stehen… Dazu korrespondieren Zeichnungen von Joachim John aufs Vorzüglichste.
In der legendären Lyrikwelle debütierte Joochen Laabs 1970 mit dem Gedichtband Eine Straßenbahn für Nofretete. Immerhin kannte er sich nicht nur mit Poesie aus, sondern auch mit Straßenbahnen. War der Sohn eines Kaufmanns, aufgewachsen im Niederlausitzer Dorf Hänchen, doch einmal Straßenbahnfahrer in Cottbus gewesen, bevor er zur Verkehrshochschule nach Dresden ging. Er schloss das Studium mit dem Grad eines Diplom-Ingenieurökonomen ab und arbeitete von 1962 bis 1975 als Fachgruppenleiter in der Forschungsstelle für Kraftverkehr und städtischen Verkehr der DDR in Dresden. Dann aber zog es ihn nach Berlin, wo er von 1976 bis 1978 der Redaktion der Literaturzeitschrift Temperamente angehörte. Nachdem man ihn mit deren gesamter Redaktion als Folge des Biermann-Protestes entlassen hatte, wurde Laabs freier Schriftsteller. Romane, Erzählungen, Essays, Features und immer wieder Gedichte folgten. Nun legt der Uwe-Johnson-Preisträger ein lyrisches Zeugnis durchlebter Denk- und Gefühlslagen vor, das sich in großem Bogen über mehr als ein halbes Jahrhundert von der Nachkriegs- bis in die Nachwendezeit spannt. Die ungestüme Geste des Aufbruchs, die großen Erwartungen an die Liebe und das Leben machen intensiv erlebten Ernüchterungen Platz.
Knappe, prägnante Worte wechseln mit kunstvoll sich ausbreitender Rede. Auch Fallstricke lauern. Und immer wieder lässt der ehemalige Straßenbahnfahrer und Verkehrsplaner das Motiv Bewegung auftauchen: Straßen- und Eisenbahnfahrten, reale oder fiktive Reisen als Ausdruck von erlebter und vorenthaltener Welt- und Lebenserfahrung.
Ich finde, es lohnt sich noch immer, sich zu ihm in die Straßenbahn zusetzen – auf eine Reise durch die Poesie. 

Ida Kretzschmar, Lausitzer Rundschau, 4.7.2017

Mit der Straßenbahn von Dresden in die Welt

– Dem Schriftsteller Joochen Laabs zum Achtzigsten. –

1997 erlebte ich Joochen Laabs in einer Fernsehsendung. Als Generalsekretär diskutierte er mit Vertretern des West-PEN über die unterschiedlichen Positionen der beiden deutschen Schriftstellervereinigungen vor einem möglichen Zusammenschluß. Ralph Giordano trat ihm gegenüber äußerst reserviert auf und fragte ihn schließlich, ein unglaublicher Affront, wer er denn überhaupt sei. „Damit habe ich gerechnet“ erwidert Laabs hintersinnig lächelnd und überreichte ihm einen Stapel Bücher von sich. Vielleicht kennen sich Ost und West einfach zu wenig, mußmaßte ich – und schon war die Begegnungsreihe der beiden PEN-Zentren geboren, zu deren Auftakt Laabs und Karl Otto Conrady in der hiesigen Hauptbibliothek antraten. Der literarischen Vorstellung der Autoren folgte ein sanfter Disput. Die Vereinigung der PEN-Zentren ging im Oktober 1998 in Dresden vonstatten.
Joochen Laabs ist ein Mann der auf Verständigung setzt, was nicht ausschließt, dass er auch streiten kann, heftig und mit ironischen Hieben, seinem Protagonisten aus dem 2006 erschienenen Roman Späte Reise nicht unähnlich. Der studierte Straßenbahnmensch träumt von Orten, die ihm verschlossen sind. Das Unerwartete geschieht. Die Mauer fällt und er erhält eine Einladung zu einer Vortragsreise in die USA. Was ihn umtreibt, ist der ebenso groteske wie phantastische Gedanke, das europäische Straßenbahnnetz finde seine übergangslose Fortsetzung im amerikanischen, fast so, als könnten die Gleise das Wasser zwischen den Kontinenten ignorieren. Während er sich erstaunt durch die in zweierlei Hinsicht Neue Welt bewegt, hinterfragt er kritisch seine Zeit in der verblichenen DDR. Jahrelang hätte er klein beigegeben, stellt er zerknirscht fest, aus „Rücksichtnahme, falsch verstandener Freundschaft, aus Unsicherheit?“ Immer noch sei er unfähig, sich aus dem „Brackwasserverhalten“ zu lösen, wo er sich auch aufhalte. Aber oft genug begehrt er auf gegen Obrigkeitsdenken und bigottes Verhalten, entwickelt einen starken Sinn für Gerechtigkeit. Die Mitgliedschaft in der Einheitspartei kommt für ihn nicht in Frage. In dem 1990 erschienenen Roman Der Schattenfänger. Roman eines Irrtums gerät der Erzähler in eine berufliche Sackgasse, weil er sich weigert, in die Partei einzutreten. Der Erzähler ist ein Schriftsteller, der den in jeder Beziehung unglaubwürdig gewordenen Sozialismus ebenso flieht wie die Trümmer seiner gescheiterten Ehe und in einem abgelegnen Haus in Mecklenburg sein Refugium findet. Der Verweigerer zieht eine erschütternde Bilanz, gleichwohl ist der Roman ein stilles, kontemplatives Buch, das Laabs bis dahin für sein wichtigstes hielt. Es geht im Chaos der Staatsauflösung unter.
Joochen Laabs ist in Dresden geboren. Sein Vater, ein Papierhändler, bleibt im Krieg. Als Laabs’ Mutter noch vor den barbarischen Luftangriffen bei Verwandten in einem Dorf das Kriegsende erlebt und aufwächst, hat ihn Sachsens Metropole längst geprägt. Nach dem Studium arbeitet er als Ingenieur in einem Institut für städtischen Verkehr in Dresden. Immer wieder tauchen diese dort gewonnenen Erfahrungen in seinen Büchern auf, ebenso die Tatsache, dass er die Zahlbox für Straßenbahnen mitentwickelt hat. Laabs’ Geburtsstadt bleibt oft Schauplatz seiner literarischen Arbeiten.
Er debütiert 1970 in der legendären Lyrikwelle mit dem Gedichtband Eine Straßenbahn für Nofrete. Nachdem in kurzer Folge danach zwei weitere Bücher erschienen sind, lässt er Frau, Beruf und Stadt hinter sich, zieht nach Berlin und heiratet die Schriftstellerin Daniela Dahn. Er gehört zur Redaktion der jungen Zeitschrift Temperamente, wird mit der gesamten Redaktion 1978 infolge des Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung entlassen. Laabs wechselt endlich in den Status des freien Schriftstellers. Es entstehen ein weiterer Lyrikband, Erzählbände, Essays und Romane, darunter Der Ausbruch. Roman einer Verführung. Ins Zentrum gerückt ist das Nachdenken über die Erstarrung einer Ehe, was zur Kritik an der Gesellschaft wird. Laabs verweigert sich ganz offensichtlich Ideologien ebenso wie der Erzählweise des sozialistischen Realismus. Dabei erzählt er wohltuend unprätentiös. Obwohl seine Figuren an den Umständen verzweifeln, der Autor in Distanz zur DDR gerät, folgt er nicht den Schriftstellern, die in Scharen das Land gen Westen verlassen.
Als es nach der Wende still wird um ihn wie um zahlreiche andere, die hiergeblieben sind, kann auf Vermittlung von Günter Grass Der Schattenfänger 2000 bei Steidl in Göttingen neuaufgelegt und so einem größeren Publikum bekannt gemacht werden. 2006 erhält er für Späte Reise den renommierten Uwe-Johnson-Preis.
Eben erst hat Laabs einen weiteren Lyrikband vorgelegt: Ungerechtfertigtes Lamento, in dem er einen über ein halbes Jahrhundert reichenden Bogen seiner Erlebnisse und Gedankenwelt spannt, in der die Neigung zu Geographie die zu Reisen nach sich zieht, die der realen und der erträumten. Oft taucht die Liebe auf, die bekanntlich nie aufhört, solange wir leben. „Isländisches Liebesgedicht“:

Ich bin der Bottich
du drin der Hering

Und das Salz zwischen uns
ist die Liebe
die uns haltbar macht
– und zerfrißt

Wir wünschen uns noch viel mehr dieser Gedichte, viel mehr Bücher von Joochen Laabs, und gratulieren ihm sehr herzlich.

Michael G. Fritz, Dresdner Neueste Nachrichten, 3.7.2017

Bei großen Worten fehlt der Platz im Kopf zum Denken

Der Schriftsteller Joochen Laabs, vor 80 Jahren in Dresden geboren, schreibt Gedichte auf die Straßenbahn, für die er in der DDR gearbeitet hat. –

In den Büchern haben immer die Dichter recht, nie die Ingenieure… Ich bin in den Büchern aufseiten der Ingenieure… Im Leben bin ich aufseiten der Dichter“. Wer zu solch programmatischen Sätzen fähig ist, muss etwas davon verstehen. Joochen Laabs versteht sich darauf, denn er kennt sowohl das eine als auch das andere. Er wurde am 3. Juli 1937 in Dresden geboren und studierte nach einem Niederlausitzer Intermezzo an der Verkehrshochschule Ingenieurwesen, was er von 1962 bis 1975 als Mitarbeiter einer Dresdner Forschungsstelle für Kraft- und städtischen Nahverkehr ausgiebig praktizierte.
Bevor er sich 1976 in die Freiberuflichkeit nach Berlin davonstahl, trat der Diplomingenieur als Dichter in Erscheinung. Schon 1970 mit seinem Debüt ließ er aufhorchen. Nicht nur verriet der anspielungsreiche Titel Eine Straßenbahn für Nofrete nahverkehrstechnische Bezüglichkeiten, auch strotzten die Gedichte des damals Dreiunddreißigjährigen vor ironischem Selbstbewusstsein. Keine Lyrismen, kein gewollt poetischer Schnickschnack. Ganz und gar unpathetisch wurde einer Alltagsphilosophie mit hohem Wiedererkennungseffekt gefrönt.
Erfrischend oft ging es um jene, „die den Personalausweisvermerk tragen: Geschlecht – weiblich“. So auch ein Jahr später, als er seinen in Dresden handelnden Studentenroman Das Grashaus mit dem hinterhältig langen Untertitel „Die Aufteilung von 35.000 Frauen auf zwei Mann“ vorlegte. Zwar erschien 1978 mit Himmel sträflicher Leichtsinn noch einer zweiter Gedichtband, aber Laabs war inzwischen nicht nur nach „Preußen exiliert“, wie es sein Freund Volker Braun formuliert hat, sondern auch ins erzählerische Fach. Wenigstens drei wichtige Romane sind zu nennen. Der Ausbruch, Der Schattenfänger und sein Opus magnum Späte Reise, in dem seine Figuren über ein halbes Jahrhundert zwischen Europa und Amerika agieren.
Wer dachte, Joochen Laabs sei nicht nur den Ingenieuren, sondern für immer auch den Dichtern verloren gegangen, hat sich geirrt. So wie das ihm angeborene Dresden hat er das Dichten nie ganz aufgegeben. Fast 40 Jahre nach seinem „sträflichen Leichtsinn“, mischte er jetzt neue Gedichte unter alte Bekannte, die Joachim John assoziationsreich mit Zeichnungen begleitet.
Da sind sie wieder, seine Straßenbahngedichte, sein burschikoses „Guten Morgen“ in dem sich die Beine als „die größten Gesinnungslumpen“ erweisen und sein „Abends“, wenn er sich angesichts der über dem Tal ausgeschütteten Lichter eingesteht:

Da
bin ich unfähig, mir vorzustellen,
daß es irgendwo Bosheit gibt

Wir finden seine „These XVII“ von 1960 wieder, die besagt:

Wir sollten
nicht derartig große Worte
in den Mund nehmen,
daß uns im Kopf
kein Platz mehr
zum Denken bleib
t.

Das war für damalige Verhältnisse reichlich mutig und gilt immer noch. Wir finden sein Gedicht „Prag im Herbst“ von 1968, das damals nicht erschienen ist.
Unter den Novitäten, die den Ton von früher aufnehmen und halten, gibt es Mutter und Vater gewidmete Gedichte, Schatten- und Mondverse. Vorstadt-, Cottbus- und Dresden-Strophen, auch Reime, werden vorsichtig ausprobiert. Als junger Kerl trieb ihn vor allem eine Sorge um, „daß mich Trägheit verschlammt: / daß ich die Wahrheit zu nennen, wie ich sie begreif, / einlös gegen Altersversorgung.“

Nun ist das unterversorgte Alter da, aber Joochen Laabs ist alles andere als träge geworden, und seine Wahrheiten hat er auch nicht eingetauscht. Heute fragt er

Wo komm ich hin,
im Juli geboren, nackt

und antwortet selbst

es geht
weiter, so oder
wie

Ja möge es weitergehen. Am 3. Juli feiert Joochen Laabs seinen 80. Geburtstag. Ihm zu Ehren klingeln die Dresdner Straßenbahnen.

Michael Wüstefeld, Sächsische Zeitung, 1./2. Juli 2017

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG + Kalliope
Porträtgalerie: Galerie Foto Gezett + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK

 

Joochen Laabs – Buchpremiere „Meine Freunde, die Dichter“, Gespräch mit Therese Hörnigk und Lesung am 28.6.2022 im Literaturforum im Brecht-Haus zum bevorstehenden 85. Geburtstag des Autors.

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