Joseph Anton Kruse: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „So müde, matt, kapude“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „So müde, matt, kapude“ aus Peter Rühmkorf: Einmalig wie wir alle. –

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

So müde, matt, kapude

So müde, matt, kapude,
dem Abtritt nicht mehr fern –
Da steht der Abendjude
mit seinem goldnen Stern

Von seinem Schächerorden
fällt ihm ein Licht voraus:
Auf Erden nichts geworden,
im Himmel nicht zuhaus.

Uns Um-und-Umgescheuchten
scheint das vertrauter Schein –
Im Dunkel ist gut leuchten,
am Morgen – was wird sein?

Da ziehen die Sprücheklopfer
zu Felde wie gewohnt,
da sagen die Täter, die Opfer
hätten sich doch gelohnt.

Kommt, laßt uns an den Särgen
die Wahrheit messen bis sie paßt –
Was du hierzuland zu verbergen
ist was du zum Rausschreien hast.

 

Gedenklied für jede Arbeitszeit

Wie ein Abzählvers beginnt dieses Gedicht über eine Endzeit, deren Ausgang nicht abzusehen ist. Die ersten beiden Strophen gleichen einem Bild von Marc Chagall. Aber das Gedicht vermittelt nicht den phantastischen Zauber der liebevollen Erinnerung. Es intoniert die unheilvolle Geschichte vom Ewigen Juden als Abend- und Nachtlied, intoniert sie unsentimental als Gedenken an die Opfer, aber auch an die Täter. Ein Gedenklied, gut und richtig für jede Tageszeit.
Die goldnen Sternlein, die bei Matthias Claudius hell und klar am Himmel prangen, haben sich hier zu einem einzigen Stigma verdichtet. Das gelbe Ausgrenzungssymbol des Antisemitismus als Zeichen tragischer Verheißung, Stern von Bethlehem für die unruhigen Herzen, Licht auf unserem Weg ohne Ziel, Signal für Heimatlosigkeit und Versteck im Dunkeln, gleichzeitig aber auch ein Menetekel dem hochmütigen, kaltschnäuzigen Vergessen bei Tage. Das Gedicht leistet Geschichtsbewältigung, indem wir uns mit den Opfern solidarisieren können. Dennoch bleiben jene Stimmen vernehmbar, die nichts dazugelernt haben. Darum gerät am Ende die melancholische Leier des Bänkelsängers in Unordnung: das Vermessen der Särge ist nicht mehr ins geläufige Versmaß zu bannen. Die Wahrheit braucht mehr als den Dreiheber. Die Strophen beschwören das Golgatha der Verfolgung und stoßen uns mit Emphase in die Notwendigkeit, zu bekennen, zu trauern und den Gang der Ereignisse zum Bessern zu lenken.
Der Abend hat durch Rühmkorfs Kompositum eine neue Dimension erhalten. Wir kennen den „Abendsonnenschein“ der goldenen Loreley Heinrich Heines. Daß aus dem Horizont eine mythische Gestalt erwächst, gehört zu den vertrauten lyrischen Variationen. Der „Abendjude“, kurz vor dem so doppeldeutigen „Abtritt“, rührt aber ganz eigene Saiten an. Abend- und Morgenland begegnen sich hier jahrtausendlang. Die deutsch-jüdische Tragödie erhält ihre eindringliche Metapher. Nur der Schrei nach Wahrheit macht uns frei.
Geschichte und Geschick dieses Gedichtes werden in der virtuosen Textmixtur von Rühmkorfs Buch zum sechzigsten Geburtstag Einmalig wie wir alle (1989) gleich offen und skeptisch-empfindsam mitgeliefert. Ein kleiner Briefwechsel zwischen dem Autor und Marcel Reich-Ranicki aus dem Jahre 1986: liebenswürdig-entschieden die Ablehnung; das Gedicht sei charmant, aber nicht ganz überzeugend, nicht ganz verständlich, obgleich vier professionelle Literaturredakteure es so aufmerksam wie andächtig gelesen hätten. Rühmkorfs sehr verspätete Replik, die Betrübnis verratend, sein Gegenüber mit diesem Text nicht erreicht zu haben, entwirft in einem langen Postskriptum selbstbewußt genug die eigene Deutung dieser Strophen und schildert die Bedingungen ihrer Geburt mit beredter Anteilnahme: Claude Lanzmanns Film Shoah über die Maschinerie der Judenvernichtung, weiterhin und obendrein das „Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgeschwätz“ bis heute.
Darauf reimten sich dem Dichter nur „Wut und Vanitas“, dazu erschien ihm das Bild vom „immer mitanwesenden Ahasver und Schmerzensmann“. Ihm wollte dieses Bild am Himmel mit Kaftan und goldenem Stern „dann nicht mehr aus dem Auge“. Die reservierte Haltung der Literaturredaktion betraf die unvermittelte Hermetik des politisch-moralischen Zeitgedichts. Die Erläuterungen Rühmkorfs sind eine willkommene Verständnishilfe. Sie bekräftigen seinen prophetischen Appell, der auch in Zukunft gelten wird. Denn die von ihm berufene Endzeit dauert an. Der kritische Lyriker mahnt, daß sie nicht zur Apokalypse werde.

Joseph Anton Kruseaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991

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