Jossif Brodskij: Ausgewählte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jossif Brodskij: Ausgewählte Gedichte

Brodskij-Ausgewählte Gedichte

IN MEMORIAM FEDJA DOBROWOLSKIJ

Wir fahren fort zu leben.
Wir lesen oder schreiben Gedichte.
Wir sehen uns schöne Frauen an,
die aller Welt zulächeln
vom Titelblatt der Illustrierten.
Auf dem langen Heimweg durch die Stadt,
frierend, in der rumpelnden Straßenbahn,
denken wir über die Freunde nach.
Wir fahren fort zu leben.
Manchmal sehen wir Bäume,
die mit schwarzen entblößten Armen
die Last des Himmels tragen
oder unter der Last des Himmels zusammenbrechen,
der nachts aussieht wie die Erde.
Wir sehen Bäume
ausgestreckt am Boden liegen.
Wir fahren fort zu leben.
Wir, mit denen du lange
über moderne Malerei sprachst
oder auf dem Newskij Bier trankst,
denken nur selten an dich.
Wir tun uns dann selber leid,
unsere krummen Rücken,
unser stark mitgenommenes Herz,
das sich schon im dritten Stockwerk
unangenehm bemerkbar macht.
Eines Tages
wird ihm – dem Herzen –
etwas zustoßen.
Dann wird sich einer von uns,
achttausend Kilometer westlich von dir,
auf dem schmutzigen Asphalt hinstrecken,
seine Bücher gleiten ihm aus der Hand,
und das letzte, was er sieht,
sind beunruhigte Dutzendgesichter,
ein Stück Hauswand,
ein an Drähten hängender Fetzen Himmel:
Himmel, der sich auf die gleichen Bäume stützt,
die wir manchmal wahrnehmen.

 

 

 

Nachwort

Der sowjetische Lyriker Jossif Brodskij, dessen Name, als er verurteilt und rehabilitiert wurde, jedesmal durch unsere Presse ging, hat einige Manuskripte ins Ausland geschickt. Im Jahre 1965 erschienen sie in den USA auf russisch in einem Band, der rund sechzig kürzere und mehrere lange Gedichte umfaßt. Er enthält fast alles, was Brodskij bis 1964 geschrieben hat. Die Gedichte dieses Jahres sind darin gesondert placiert. Die anderen entstanden etwa zwischen 1959 und 1963. Der Dichter wurde 1940 oder 1941 geboren. Es sind Texte eines Zwanzigjährigen. Sie könnten als solche nicht besser sein.
Für uns ist das biologische Alter eines fremden Autors natürlich kein ästhetisches Maß. Knapp zwei Drittel der Gedichte Brodskijs lohnen eine Übersetzung nicht. Sie zeigen zwar seine poetische Genesis. Aber die kümmert den westlichen Leser wenig, da er die Lehrmeister meist gar nicht kennt. Heinrich Ost und ich wählten zwanzig Texte, darunter zwei lange. Wir sparten nichts Wichtiges aus: abgesehen vom biblischen Poem „Isaak und Abraham“, das wegen des Spiels mit der Emblematik von Buchstaben, Wörtern und Namen unübersetzbar ist. (Das Poem „Prozession“, dem wir die „Wehklage“ entnahmen, ist als Ganzes durchaus entbehrlich.) Die deutsche Ausgabe gibt ein genaueres Bild von Jossif Brodskij als die Originalausgabe, die auf Ausführlichkeit, trotz einiger Weglassungen, nicht verzichten wollte. Seine zwanzig besten Gedichte präsentieren ihn nicht als jungen hochbegabten fremdsprachigen Dichter – sondern als Dichter.
Zunächst fällt der Reichtum an Strukturen auf. Brodskij beherrscht, ohne eklektisch zu werden, alle Arten und Grade der poetischen Formung. Zwar pflegt er die Tradition: die meist vierzeilige gereimte Strophe mit jambischem („Der Garten“, „Große Elegie an John Donne“), trochäischem („Wehklage“), daktylischem („Die Nächte im Juli“) oder anapästischem („Zueignung an Gleb Gorbowskij“) Metrum. Aber er rüttelt auch gern am Metrum: freilich ohne daß die Strophe gleich zerspringen muß („Die Hügel“, „Die Verben“, „Du wirst losgaloppieren“ u.a.). Daneben stehen nichtstrophische Gedichte ohne Metrum und Reim. Sie können strukturschwach („In memoriam Fedja Dobrowolskij“), von mäßiger Formstrenge („Das Buch“, „Das Denkmal“) oder straff organisiert sein („Definition der Poesie“). Außerdem schreibt Brodskij nichtstrophische Texte aus reimlosen Jamben („An G. P.“).
Die meisten jüngeren Sowjetlyriker rütteln häufiger als Brodskij an den überlieferten Formen, brechen sie aber seltener auf. Wer es dennoch tut (Solouchin, manchmal Winokurow), vermag des sich freisetzenden Wortmaterials nicht so leicht Herr zu werden. Wosnessenskij montiert ab und zu ein Gedicht aus gebundener und ungebundener Rede, doch selbst er, sosehr er Zeitgenosse ist, prägt letztere nicht zu neuen Strukturen aus. Bei ihm, der sich in den halbaufgelösten alten Versformen am wohlsten fühlt, gibt es nur innerhalb einzelner Texte(„Paris ohne Reime“, „Osa“, „Apfelbaum-Ballade“) ein Formengefälle – bei Brodskij durchzieht es das ganze Werk. Auch der deutsche Leser erkennt es sofort: was nicht möglich ist, wenn die Vorlage im Namen einer versimpelten oder gemogelten „Modernität“ oder einfach aus Schlamperei zu einem gespreizten Rohtext verballhornt wird. Heinrich Ost und ich wahrten, ohne pedantisch an Wortlaut und Satzverlauf zu kleben, stets nicht nur den Sinn, sondern auch die poetische Gestalt eines jeden Gedichts. Die Konstellation der Strukturen wurde verdichtet, aber sie bleibt authentisch.
Gleichzeitig mit der Formenfülle bemerken wir die thematische Einheit. Im Zentrum steht der Tod oder das Sterben, real als die Erschießung Lorcas („Definition der Poesie“), surreal als der Mord an den beiden Gammlern („Die Hügel“), mythisch als Isaaks unterbliebene Opferung („Isaak und Abraham“). Vorsätzlichkeit und äußere Gewalt sind aber nicht obligat. Auch muß uns der Tod keineswegs schon hier und jetzt vernichten; sein Ort ist nicht nur der „Judenfriedhof bei Leningrad“, der schreckliche Zinksarg („Die Hügel“), das Begräbnisschiff („Wehklage“). „Der Tod: das ist nicht jener Bursche, der mit langer Sense geht“ („Die Hügel“). Brodskijs Freund Dobrowolskij, dessen er mehrfach gedenkt, starb jung. Sein Freund Gorbowskij lebt: das läßt sich leicht nachprüfen, denn er ist Dichter und hat, im Gegensatz zu Brodskij, viel in der Sowjetunion publiziert. Die „Zuneigung an Gleb Gorbowskij“ und andere Gedichte Brodskijs stellen den Tod (das Sterben) als Perspektive dar. Sie kann sich auf die eigene Person beschränken („Die Nächte im Juli“) oder zur Vision des „zeitgenössischen Vesuv“ ausweiten („An G. P.“). Sie kann, statt im zwanzigsten, im frühen siebzehnten Jahrhundert ansetzen: in einer Winternacht, im Schlaf eines englischen Dichters („Große Elegie an John Donne“). Sie kann sich zu surrealer Gegenwart entzeitlichen („Die Hügel“). Das Todesthema tendiert, trotz der Verwerfung des „Burschen mit der langen Sense“, zur Allegorie („Der Garten“, „Fische im Winter“). Es tendiert zum mystischen Symbol der Reiter („Du wirst losgaloppieren“).
Was mögen die Quellen dieser bei einem so jungen Autor erstaunlichen, bei einem Sowjetautor erst recht kaum erwarteten bohrenden Beschäftigung mit dem Tod sein? Eine davon ist das historische Schicksal und die mystische Welt des Judentums, dem Brodskij entstammt. Stofflich bestimmen sie nur wenige Gedichte, als Impuls teilen sie sich wohl fast allen mit, woraus natürlich nicht folgen muß, daß Brodskij gläubiger Jude ist. Offenbar ist das Judentum in Rußland mystisch fündiger geblieben als das Christentum. Wenn seit einiger Zeit die alten Kirchen nicht mehr zerstört, sondern restauriert werden, geschieht das aus einer durchaus profanen Pietät. Wenn Wosnessenskij ein Liebespaar auf einem Motorroller mit Rublowschen Engeln vergleicht („Dreieckige Birne“), tut er das in ästhetischer Faszination, vielleicht in antropologischer Absicht – sicher nicht aus religiösen Motiven. Das kann anders werden; heute aber ist Mystik bei russischen Künstlern (man denke an den Graphiker Kaplan) weniger christlichen als jüdischen Ursprungs.
Sodann gibt es literarische Vorbilder. Zum Beispiel Donne und sein England. Auf „Du wirst losgaloppieren“ haben Goethes „Erlkönig“ und Bürgers „Lenore“ eingewirkt: in den berühmten Nachdichtungen des Romantikers Shukowskij. Hier ist der Tod also deutschstämmig. Seine Darstellung bei Brodskij wurde aber auch von originalrussischen Dichtwerken beeinflußt. Die Weise, wie in den „Hügeln“ die Moritat den Einbruch des Tödlichen vorbereitet, der Tod den Sarkasmus lähmt, könnte beim frühen Sabolotzkij gelernt sein.
Jedoch Religion, das sogenannte Blut, der Kreislauf bestimmter poetischer Modelle, etwa auch individualpsychische Besonderheiten (Brodskij war eine Zeitlang in einer Nervenheilanstalt): alles das erklärt das Vorwalten des Todesthemas erst unzureichend. Es muß ein gesellschaftliches Bedürfnis, eine allgemeine Bereitschaft bestehen – und die besteht wirklich. Der Sozialismus entdeckt jetzt den Tod: nicht mehr bloß als Blutzeugenschaft, als Heldentod in Klassenkampf, Revolution, Aufbau oder gerechtem Krieg. Das gilt einmal für den Marxismus im Westen. Der italienische Marxist Rosi dreht den von Sozialkritik zu Todesmystik fortschreitenden Film Augenblick der Wahrheit: über einen Stierkämpfer, dessen Sterben niemanden rettet oder beschützt. Das gilt genauso sehr für die Künstler in den sozialistischen Ländern: für die Marxisten wie für die Anderen. Brodskij ist schwerlich Marxist, aber auch der dem Marxismus viel näher stehende Wosnessenskij schreibt (ohne sich dabei auf einen Ikonenmaler zu berufen) Gedichte mit der Aussicht auf einen nahen Tod. Auch der junge Erzähler Goryschin spricht oft vom Sterben. Die Beispiele ließen sich, über diese Spitzentalente hinaus, beliebig mehren. Denn nicht nur niedergehenden Klassen und vergreisten Epochen wird der Tod zum Problem. Nach geglücktem Aufbau des Sozialismus oder in einem fortgeschrittenen Stadium marxistischen Selbstverständnisses kehrt dieses Thema notwendig in voller Tiefe wieder: vermindert um Koketterie, Nächstenhaß und Lebensfeindschaft. Die junge Sowjetliteratur bestätigt das stets aufs neue.
Brodskij ist nicht lebensfeindlich. Die Schwierigkeit des Sterbens liegt in der Endlosigkeit des Lebens („Wehklage“). Leben wird zum Synonym von Liebe („Zuneigung an Gleb Gorbowskij“). Andererseits ist der exemplarisch sterbende Held nicht abgeschafft. Lorcas Tod, über den auch Wosnessenskij reflektiert hat, verhilft Brodskij sogar zu seiner „Definition der Poesie“. Selbst die beiden Gammler in den „Hügeln“ sterben vielleicht als Märtyrer. Brodskij spielt also weder den Tod gegen das Leben aus noch verkennt er die Ungleichartigkeit verschiedener Tode. Gerade diese Einsicht sowie die Spannung von Tod und Leben, in der der Tod nicht verschwiegen oder auf einen Sonderfall eingeengt, das Leben nicht verleumdet wird, bezeichnet die Weltanschauung dieses um 1960 erwachsen gewordenen Sowjetlyrikers. Unbestreitbar ist freilich, daß zwar der von den Faschisten erschossene Lorca auch im Sinne der bisherigen sozialistischen Kunst ein Wahrheitszeuge ist – keineswegs aber der biblische Isaak oder ein surrealer Gammler. übrigens auch nicht im Sinne der jungen Sowjetdichtung. Mag Wosnessenskij mit dem (realen) US-Beatnik sympathisieren („Dreieckige Birne“) – sein Heros bleibt Lenin („Longjumeau“ u.a.).
Sollte Brodskijs Position doch einmalig sein? Paßt nicht sogar seine Biographie dazu? Das Irrenhaus war nie typisch sowjetisch, das Lager ist es nicht mehr.
Die Stalinzeit ist vorbei, die Sowjetautoren sind heute ziemlich freie Menschen. Sie werden nicht ohne Gerichtsverfahren inhaftiert – und gemeinhin (abgesehen vom Fall Siniawskij-Daniel, der aber stark vom Fall Brodskij abweicht) auch nicht mit Verfahren. Brodskij jedoch geschah Unrecht. Kann das nicht die wahre Ursache seiner poetischen und vor allem leitfigürlichen Außergewöhnlichkeit sein?
Aber Brodskij ist ja gar nicht nur Interpret seiner Unähnlichkeit. Das Anderssein ist für ihn der Zugang zum Du und Wir. Obwohl Irrenhaus, Rechtsbeugung und Arbeitslager für die Sowjetunion seit einiger Zeit nicht bezeichnend sind, und obwohl man sich freilich auch angenehmere Weisen des Andersseins vorstellen kann, laufen Brodskijs Schicksale seiner Mission nicht unbedingt zuwider: das Sterben und den Tod (und somit auch das Leben) für das bislang von anderen Problemen beanspruchte sozialistische Bewußtsein in Rußland neu zu durchdenken. Wer die Stalinzeit als Erwachsener miterlebt hat, ob als Opfer oder Nichtopfer, übt Doppelzüngigkeit (Siniawskij) oder umgekehrt bloße Aufrichtigkeit (Dudinzew, Tendriakow), kann sich vom Lagerthema (Solshenizyn) oder vom Kriegsthema (Simonow, Baklanow) nur schwer lösen, gerät daher in die Gefahr des Archaisierens. Der Gegenwart am besten gewachsen zeigen sich jene Autoren, die heute nicht älter als Anfang dreißig sind: insofern ist Jugend dennoch ein Maß. So reift Wosnessenskij zum großen Zeitdichter – und das bedeutet (weil diese Zeit auch die Liebe wiedererkennen will): zum großen Liebesdichter. Auch Brodskij ist im Grunde Liebesmystiker: nur sieht er die Liebe primär durch den Tod bedroht – nicht durch Entfremdung im Leben. Sie beide und viele Andere gäbe es nicht ohne das halbe Jahrhundert neue Gesellschaft: mag bei Wosnessenskij die russische Intelligenzija, bei Brodskij ein sich nun doch, am deutlichsten in der „Großen Elegie an John Donne“ und in „Isaak und Abraham“, ins Christliche wendendes Judentum noch so stark spürbar sein. Jedoch ist ja im Weichbild des Sozialismus Christlichkeit nicht mehr ungewöhnlich. Der Schweizer Konrad Farner bekennt sich zur Theologie, der Italiener Pier Paolo Pasolini sagt, er sehe die Welt sakral. So denken heute westliche Kommunisten. Vielleicht gehört zur Mission des in einem sozialistischen Land aufgewachsenen Nichtkommunisten Jossif Brodskij die gleiche Neuerschließung des Religiösen.
Ost und West stellen oft dieselben Fragen. Manchmal staunt man, wie „westlich“ drüben die Antworten sind. Andererseits ist die Erfahrung des Sozialismus bei der Lösung der „ewigen“ Probleme nicht länger zu entbehren. Was die Russen dazu sagen, wird uns bewegen: jene jungen Russen, die ihrerseits vom Westen lernen. Für Wosnessenskij waren die Reisen nach Amerika, Frankreich, Polen und Italien eine Fahrt ins eigene Ich. Brodskij kennt am besten das Europa Donnes und Goethes. Doch plötzlich schreibt er wie irgendein westlicher Zeitgenosse: ob nun Lektüre oder das zusammenrückende Leben ihn dazu anstieß. Lassen wir das offen, rätseln wir nicht an seinen Faszinationen herum. Freuen wir uns lieber, daß die russische Poesie einen würdigen Schüler, Petersburg-Leningrad einen neuen Sänger, der Sozialismus einen unbequemen Sohn geboren hat. Freuen wir uns, daß dem Sohn endlich Gerechtigkeit widerfuhr, daß der Fall Brodskij beigelegt ist. Entdecken wir den Dichter Brodskij. 

Alexander Kaempfe, Juni 1966 , Nachwort

 

 

Des Winters Quinten und Septimen. Wer notiert, beweist
Das Brausen unsres Herrgotts, vor Sekunden noch zu ahnen?
Sein Fernsein übersteigt das Denken. Die Verbindung reisst,
Ein Brief: Empfänger unbekannt. Kein Zittern der Membranen.

Noch flackert im Kamin, Hellseherin, die kleine Flamme,
Noch klammern Brücken, arme Ewigkeiten, diese Meeresenge.
Die Seele nur – von Nichtsein übervoll – ist wie der Stein,
Die Muschel, von der Einsamkeit zur Form verdammt.

So stehst du vor Gericht, erwachend aus der Zeiten Strom.
Auf jenes Land, das grösser ist als unsre Länder, schwören
Dich Furcht und Blindheit ein, und etwas Weisheit, Ruhm,
Sowie dein Puls, der matte, längst den Aoniden hörig.

Durch Haufen Schutt spriesst Tod, wie jedesmal im März,
Gewalt fegt hirnlos durch die Zeitungsspalten
Und über Fernsehschirme. Das beschwerte Herz
Wird eins mit seiner Umwelt. Und das nennt sich Kunst.

Man steigt doch zweimal in die Lethe. Schwarz der Stuhl,
Nun ruhn die Finger, die einst Welt in lauter Zeichen spalteten
(Nacht Ozean die Sterne Schmetterling Lebwohl)
Auf dass ein Faden bleibt zumindest – sich dran festzuhalten.

Tomas Venclova

 

DER SCHILD DES ACHILLES
für Joseph Brodsky

Ich spreche nur, um auf dem Nervenbildschirm
Genauso klar wie damals du zu sehen
Die steinernen Kapellen, ihre Umfriedungen,
Den Schlüssel, der beim leeren Aschenbecher liegt.
Du hattest durchaus recht: alles ist so wie hier auch.
Zunächst mal. Auch die knappe Phantasie.
Es ist gleich weit bis an das offene Meer,
aaaaaaaaaaDas in der Nacht 

Uns beide hören kann. Und unterm Dach des Grüns
Leuchten die Straßenlampen fast so wie bei uns.
Die Zeiger unserer Uhren laufen unterschiedlich,
Und das ist schlimmer als die bittere Welle,
Die zwischen uns liegt. Dich im Raum entfernend
Wirst du zum Unbekannten wie die Meder
Und Griechen. Wir – wir sind zu unserer Schmach noch
aaaaaaaaaaAuf diesem Schiff, 

Das auch für Ratten ungemütlich ist.
Genau betrachtet ist das gar kein Schiff,
Sondern Ziegelmauern, schimmernde Dächer, Unglück um Unglück,
Geburtstage, die zu schnell aufeinanderfolgen.
Kurz, das reife Alter. Diese Betreuung
Durchsetzt uns bis ins Mark. Dieser Raum
Läuft langsam leer und schüttet uns bald noch die Augen zu,
aaaaaaaaaaWenn an der Grenze,

Wo Regen lotrecht in die Irre geht,
Nicht ein erhabenes Klanggewölb erstünde,
Das dieser jähe Sommer fast zerstört hätte,
Doch das uns jene segensreichen Fesseln gab,
Die im Prinzip dasselbe wie die Seele sind –
Sie brennen, ziehen hoch, legen die Form fest,
Denn unser Himmel, unsere terraferma
aaaaaaaaaaIst Stimme nur.

Friede sei mit dir. Friede sei mit mir und dir.
Es werde Dunkel. Sollen die Sekunden laufen.
Durch dichten Raum, vielschichtigen Schlaf
Lese ich jeden Buchstaben von dir.
Die Städte schwinden. Statt Natur –
Ist nur ein weißer Schild, Gegengewicht
Zum Nichtsein. Dein und meine Zeit wird
aaaaaaaaaaSein Zierat abbilden

(Wenn nur die Zeit und Kräfte reichen!)
So wie im Wasser. Oder richtiger gesagt,
Wie in der Leere. Ans Ufer schlagen Wellen
Und löschen aus die flüchtige Zeichnung. Der Fenster
Quadrate glänzen schwarz. Im Traum
Sickert durchs Glas erwärmte Luft.
Hinter den Türmen brummt ein fernes Auto,
aaaaaaaaaaUnd auf mich drauf

Fährt da der Tag, die Nacht. Zuweilen siehst du,
Wie in der Blindheit eine Glocke anschwingt,
Und es vergeht ein endloser Zeitabschnitt,
Eh ihr das Fundament dumpf Antwort gibt.
Die Tore beben, angespannt vom Schlag,
Die Arche schickt Signale an die Arche,
Zurufe wechseln Seelen, Kontinente
aaaaaaaaaaIn lebhafter Nacht. 

Den Segeln haftet schmutziger Nebel an,
Die Kaje, feucht, wird warm und steht in Dampf.
Der Troja du gesehen hast, du siehst die Thermopylen –
Dir ist ein Schild gegeben. Du bist der Fels.
Die Tempelsäulen, die auf diesem Felsen stehn,
Sie bohren in den Wind ihr glänzendes Metall,
Obwohl der Fels emporragt nah der Lüge
aaaaaaaaaaUnd nah dem Schweigen. 

Du hast uns unsere Schicksale anvertraut,
Und trittst nun auf die Ebene der Erinnerungen,
Doch jeder Augenblick ist zweigeteilt,
Und doppelt leuchtet uns das Licht auf unserem Gang
Im Kreis, der täglich, nächtlich enger wird.
Ebbe. Pfützen glänzen auf dem Sand.
Noch kann das Auge nicht sehen, ob Stein, ob Boot
aaaaaaaaaaAm öden Ufer. 

Tomas Venclova
Übersetzung Rolf Fieguth

 

KARTHAGO NACH JAHREN
für Joseph Brodsky

Äquinoktium. Zonen. Die Dinge
passen nicht ganz in die Zeit.
Fruchtloser Dunst schwellt sie auf.
Stimmen, an der Kehle gepackt
vom Regen. Die Leere, Wasserfläche
aus Stahl, dringt trüb
in den Spalt zwischen der Schwärze der Tage
und nächtlichem Weiß.

Die Gefühle sind träg noch vom Frühmärz,
noch dunkelt im Park
der versehrte Gott Hermes, halbversteckt in
einer Welt dicker Bretter,
noch kommt wohl aus anderem Vers angeflogen,
schwirrt an aus dem Dunst
buntgefiedert ein Entenschwarm, sie haben
den Husten vom eisigen Meer.

Dieser Gleichgewichtspunkt, dieser düstere Himmel,
das haben bloß wir überlebt;
in Spitälern, auf Pritschen die Freunde
drifteten dauernd in andere Tiefen ab.
Der Wind batzt sich am feuchten Hemd an,
und unter dem Eisfirmament
aus Grammatiksplittern und -krumen
echot und schallt

nur das nichtiterative Präteritum. Diese Stadt hat
Vergangnen genug. Intakt
ist der Glanz ihrer Ketten, die Harmonie ihrer Brücken,
der Funkenschlag ihrer Trams,
das ewige Licht ihrer Karzer, die Höfe
der Wolke zugewandt –
nicht sehr langlebig das Land, wo du geboren
so oft bist und nicht wieder hinkommst.

An den Quais, wo wir das Wort „niemals“ übten,
wo kein Schuß hinreicht,
Zerfällt, wie von Cato verkündet, der Kies,
kommt das Gras nun zu Wort.
Über den Ruinen die Luft riecht nach Tollkraut,
spelzig und ruhig,
damit der Nager am Grund des halb zerbrochenen Gefäßes
sein Haus findet.

Ich hab nicht geglaubt, daß all dies einmal endet. Nicht hier
hielt sich der Zielpunkt noch fest.
Was Erfolg war, was Qual war, gleichermaßen
schmelzt es das Feuer nun auf.
Bloß die Stockung, bloß das Licht durch den Spalt in den Fugen
nehmen Hirn und Auge noch wahr –
grad in der Dämmerung, wo man den Himmel
mit einem Stück Torffeld verwechselt.

Was anderes ist nicht. Harte Efeuranken
halten die Kälte des März,
schwanken und schlagen ans Fensterglas,
daß er nun ausrinne, der Tag,
daß nach uns, ziellos uns fortsetzend,
freier nun seufzen
die Helle der Negative, das Dunkel der Verse,
die uns bezwangen, die Götter.

Tomas Venclova
Übersetzung Rolf Fieguth

 

 

Anders sein. Dissens in der Sowjetunion – Joseph Brodsky

Leonhard Reinisch: Gespräch mit Jossif Brodskij, Merkur, Heft 305, Oktober 1973

Michael Krüger: Als Joseph Brodsky in Alfred Brendels Küche wie ein Schlot rauchte und über Rilke schrieb

Felix Philipp Ingold: Gedenkblatt für Joseph Brodsky
DU, Heft 6, 1996

Timo Brandt: Über Joseph Brodsky bei babelsprech.org, internationales Forum für junge deutschsprachige Lyrik

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Joseph Brodsky

Irena Grudzińska-Gross: Czesław Miłosz und Joseph Brodsky. Die Freundschaft zweier Dichter

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDbKLfG + PIA +
Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
Nachrufe auf Joseph Brodsky: Schreibheft ✝ Carl Hanser Verlag

Zum 25. Todestag des Autors:

Zakhar Ishov: Brodskys Venedig
dekoder.org, 28.1.2021

 

Brodsky …Ferngespräche verfilmt in 9 Kapiteln | Kapitel 1: San Pietro
Alle weiteren Videokapitel bei der Schaubühne Lindenfels

 

 

Anderthalb Zimmer in Leningrad: Ein Museum für Joseph Brodsky.

 

Joseph Brodsky rezitiert „Натюрморт“ 1989.

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