Judith Wright: Schweigen zwischen Wort und Wort

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Judith Wright: Schweigen zwischen Wort und Wort

Wright/Voges-Schweigen zwischen Wort und Wort

FINALE

Das Grausamste von allem war:
Man sandte aus dem Spital ihr sein Gebiß ins Haus.
Was war damit zu tun?
Zu spät, das Begräbnis war seit Tagen aus.

Sie rollte es in sein Schnupftuch ein,
gewaschen, geplättet und rein.
Sie konnte es bloß in den Händen wiegen;
es wirkte so seltsam allein −

So ganz ohne Kinn, ein ständiges Lächeln,
gar nicht wie seins. Um Mitternacht ein Herz gefaßt,
sie hat nicht mehr die Kraft zum Weinen:
Sie zielt, das Ding ist aus dem Haus geschaßt.

Es schoß zur Tür hinaus, das endlich verschiedene Lächeln,
in den Bach? ins Gebüsch? auf Nachbars Land?
Sie ging zurück, versank in dumpfen Schlaf,
und wußte, er war endlich tot  − von ihrer Hand.

 

 

 

Nachwort

„Für die neuen Bewohner war Australien seit Beginn seiner kurzen Geschichte etwas mehr als bloß Umwelt oder Land, die es zu besiedeln, zu bestellen oder zu unterwerfen galt. Es war die äußere Entsprechung einer inneren Realität: erstens und stets gegenwärtig – der Realität des Exils; zweitens – obwohl wir heute vielleicht dazu neigen, es zu vergessen – der Realität des Neuen und der Freiheit.“ So schrieb Judith Wright im Vorwort zu ihrer Essaysammlung Preoccupations in Australian Poetry, einer als Selbstverständigung, Standortbestimmung und kritische Aneignung der australischen Dichtung gleichermaßen aufschlußreichen Publikation. Jene „zwei Seiten des australischen Bewußtseins“, Ergebnis historischer, ökonomischer, psychologischer und kulturgeschichtlicher Faktoren, spiegeln sich auf charakteristische Weise in der australischen Literatur wider. Ihre Entwicklung wäre zwar ohne die englische Literatur nicht möglich gewesen, entscheidend mitgeprägt wurde sie jedoch durch die ungewöhnlichen und ungewohnten Bedingungen in einem fremden Land. Diese waren nicht nur für eine ganze Reihe von Realien – etwa aus dem Bereich von Flora und Fauna −, sondern auch für perspektivische Veränderungen im geistigen Habitus verantwortlich. Was der australische Literaturwissenschaftler Brian Kiernan konkreter als „Ambivalenz zwischen dem Bewußtsein des Exils und einem utopischen Impuls“ bezeichnete, begleitet als Topos die Literatur des fünften Kontinents – von den Versen Charles Harpurs, des freigeborenen Sträflingssohns und ersten Dichters der damaligen Siedlungskolonie, bis zu den Werken der Prosaschriftsteller, Lyriker und Stückeschreiber unserer Zeit. „Bevor das eigene Land zum vertrauten Hintergrund werden kann, vor dem sich die Phantasie des Dichters und Romanciers frei entfaltet, muß es zunächst beobachtet, verstanden, beschrieben und gewissermaßen absorbiert werden. Der Schriftsteller muß mit der Landschaft in Eintracht leben, bevor er sich ohne Scheu dem Menschen zuwendet.“ Die geistig-emotionale Identifikation mit dem Land, mit Mythos, Geschichte und Gegenwart Australiens war bereits in den frühen Gedichten Judith Wrights vollzogen. Der Zwiespalt zwischen dem Gefühl, heimisch geworden zu sein, und der Tatsache, zu den Eroberern zu gehören, schafft eine ungelöste Spannung −

Und nur das Herz des Reiters
stockt vor dem blinden Schatten, dem nicht gesagten Wort,
das tief im Blut den alten Fluch verankert,
die Urangst Kains.

Judith Wright, am 31. Mai 1915 in Armidale im Bundesstaat New South Wales geboren und auf dem Anwesen Wallamumbi bei Armidale aufgewachsen, stammt aus einer der ältesten Grundbesitzerfamilien Australiens, die bereits Ende der zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts im fruchtbaren Hunter Valley in New South Wales siedelte. Die Landschaft des Tafellandes von New England, Herkunft und Lebensweise vermittelten bleibende Eindrücke für ihr Schaffen. „Meinem Werk liegen die wesentlichen Erfahrungen eines Lebens als Australierin zugrunde, deren Familie väterlicher- und mütterlicherseits, von Anfang an Farmer und Viehzüchter, früh in ein Land kam, das als eines der letzten von Weißen besiedelt wurde“, teilt sie Jahre später mit. „Da ich in einer Region aufgewachsen bin, die – einst von außerordentlicher Schönheit – von den Siedlern ihrer Fremdheit wegen abgelehnt wurde, habe ich wahrscheinlich versucht, mich von einem tiefen Schuldgefühl darüber zu befreien, was wir dem Land, seinen ursprünglichen Bewohnern der verschiedenen Gattungen angetan haben und noch immer, ja verstärkt antun.“ Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr nahm sie am Fernunterricht teil, sie wurde zeitweise von ihrer literarisch interessierten Mutter und von Gouvernanten erzogen und besuchte anschließend bis 1932 die New England Girls’ School in Armidale. Seit Anfang 1934 belegte sie Vorlesungen an der University of Sydney; bereits nach einem Jahr folgte sie keinem festen Studienprogramm mehr, sondern nur ihren Interessen, die eindeutig auf die Schriftstellerei gerichtet waren. So beschäftigte sie sich mit englischer, französischer und italienischer Literatur, mit Philosophie, Geschichte, Psychologie und Anthropologie. Zu Beginn des Jahres 1937 reiste sie nach Europa; sie lernte England, Schottland, Deutschland, Österreich, Ungarn, die Schweiz und Frankreich kennen und kehrte im folgenden Jahr nach Australien zurück. Als Sekretärin, Stenotypistin und Meinungsforscherin für eine Werbeagentur verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt, ihre Freizeit gehörte der schöpferischen Arbeit. Ein Geographieprofessor in Sydney, der sich als einer der ersten Australier mit dem Problem der Bodenerosion beschäftigte, weckte ihr Interesse für Fragen der Ökologie. Von 1944 bis 1948 war sie in der Verwaltung der University of Queensland und zeitweilig als enge Mitarbeiterin von C.B. Christesen tätig, der in Brisbane seit 1943 die Literaturzeitschrift Meanjin Papers (heute Meanjin) herausgab. In diese Zeit fällt ihre Bekanntschaft mit dem Schriftsteller und Philosophen Jack McKinney (1891-1966), den sie wenig später heiratete. Einzelne Gedichte erschienen seit Anfang der vierziger Jahre in Zeitschriften wie The Bulletin und Southerly, die Publikation ihres ersten Gedichtbandes The Moving Image (1946) gilt als Wendepunkt in der modernen australischen Dichtung. Außer den für die Auswahl berücksichtigten Sammlungen erschienen folgende Werke: die Lyrikbände Birds (1962) und Five Senses (1963), The Nature of Love (1966; Short Stories), mehrere Kinderbücher (u.a. King of the Dingoes, 1958; Range the Mountains High, 1962), fundierte Monographien über Charles Harpur (1963) und Henry Lawson (1967), die zweibändige, auf dem Studium von Dokumenten und umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen basierende Familiengeschichte The Generations of Men (1959) und The Cry for the Dead (1981), der Essayband Preoccupations in Australian Poetry (1965), gesammelte Aufsätze, Reden und Artikel (Because I Was Invited, 1975) und schließlich The Coral Battleground (1977), eine Abhandlung über das ökologisch gefährdete Great Barrier Reef. Ihr Engagement für den Umweltschutz und die Bürgerrechte der Aborigines nahm, vor allem seit den siebziger Jahren, einen großen Teil ihrer Zeit in Anspruch und ließ die „Arbeit am Wortwerk“ (Dylan Thomas) oft zu kurz kommen. Von der University of Queensland und der University of New England wurde ihr die Ehrendoktorwürde verliehen, für ihr dichterisches Schaffen erhielt sie zweimal den Grace Leven Prize, sie wurde mit dem Australia-Britannica Award (1964) ausgezeichnet und 1970 zum Mitglied der Australian Academy of the Humanities ernannt.

Mit Lyrikern wie Max Harris, Rosemary Dobson, John Blight, James McAuley, David Campbell, A.D. Hope sowie Rex Ingamells und Roland Robinson, den bei den wichtigsten Vertretern des „Jindyworobak Movement“, machte seit den vierziger Jahren eine neue Dichtergeneration auf sich aufmerksam. Zu ihnen gesellte sich Judith Wright. Douglas Stewart, Schriftsteller, Lyriker und damaliger Lyrikredakteur der Zeitschrift The Bulletin, begrüßte The Moving Image mit den Worten: „Die Gedichte versprechen etwas, alles, die Welt.“ Die „Jindies“ gingen von der These aus, die australische Literatur könne sich von den Fesseln europäischer, insbesondere englischer Vorbilder nur befreien, wenn allein die australische Realität und die Kultur, Mythen und Sprachen der Aborigines Gegenstand und Mittel literarischer Darstellung würden. Was vom Ansatz her richtig gedacht war, das erstarrte in der Folgezeit zu einem sogar grotesk wirkenden Provinzialismus, der durch ein rein deskriptiv aufgefaßtes Lokalkolorit alles zu ersticken drohte. Judith Wright betonte ebenfalls den nationalen Aspekt, gelangte jedoch im Gegensatz zu den Dichtern um Ingamells zu einer Synthese. Ausgehend von eigenen und tradierten Erfahrungen in ihrer Heimatregion New England schuf sie Gedichte, die das Regionale ausdrücken und auf das Universale zielen. Sie verfiel weder in den Fehler ihrer Vorgänger aus den neunziger Jahren, in mateship (Kameradschaft) das Nonplusultra zwischenmenschlicher Beziehungen zu sehen, noch führte ihre Identifikation mit Australien zu Fremdenhaß oder lautem Nationalismus. In „Bora-Kreis“, „Der Ochsentreiber“, „Das alte Gefängnis“ oder „In Cooloola“ bewährte sich eine Poetin, die die einheimische Tradition von Charles Harpur und John Shaw Neilson nicht achtlos beiseitewarf, sondern weiterführte und mit Elementen der europäischen Kultur und Dichtung verschmolz. Die Mottos ihrer Sammlungen oder (häufig ironisch) benutzte Zitate verraten ihre philosophischen und literarischen Interessen und Affinitäten, die im ständigen Gedankenaustausch mit James McKinney reiften. So die aus Platos „Timaios“ stammende Definition von der Zeit als beweglichem Bild der Vergänglichkeit (The Moving Image), Francis Bacons Bemerkung über die Liebe als eines der Grundprinzipien auf Erden (Woman to Man), William Blakes Zeilen über die transzendentale Eigenschaft einer duftenden Blume (The Gateway), Heraklits Beschreibung der Welt als „ewig lebendes Feuer“ (The Two Fires) oder Sir Otto Frankels Huldigung an den Eukalyptusbaum, die Wright antithetisch einschränkt. Auf das paradox anmutende „Hindernis der gemeinsamen Sprache“ (F.H. Mares) wird man stoßen, sooft eine Abgrenzung zwischen englischer und australischer Literatur versucht wird. Die australische Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts stand unbestreitbar im Bann der englischen Romantik, und Wordsworthsche Melodien sind auch und vor allem in den lyrischen Gedichten J. Wrights nicht zu überhören. Darüber hinaus gibt es Anklänge an William Blake und John Keats, lieferten der Ire William Butler Yeats und – besonders in der Handhabung des lockeren Blankverses oder in der Theorie – T.S. Eliot Impulse. Eliots Dialektik von Anfang und Ende mag in einem Gedicht wie „Der Torweg“ ein Echo gefunden haben. Da die Lyrikerin vielfältige thematische, technische und philosophische Anregungen souverän in ihr Konzept eingliederte und da das Empfinden für prägende Einflüsse ohnehin von Rezipient zu Rezipient verschieden ist, läßt sich die Dichotomie von Eigenem und Fremdem kaum auflösen. Es dürfte daher schwerfallen, den Akt der schöpferischen Rezeption, wie er allgemein aus der Geschichte der Weltliteratur geläufig ist, als epigonenhaft zu bezeichnen.
Das poetische Œuvre der J. Wright steht im Zeichen der Sehnsucht nach harmonischer Einheit von Körper und Seele, Körper und Körper, Mensch und Natur, eine platonische Haltung, die durch die Lektüre von C.G. Jungs Werken um Erkenntnisse der modernen Psychologie bereichert wurde. In manchen Gedichten der frühen Periode drückt sich eine gewisse Nüchternheit, ja Kühle aus, denn sie sind philosophisch überfrachtet und beschwören das Ausgeliefertsein an Zeit und Tod. Das Diskursive droht das Dichterische zu überschatten, und so entsteht der Eindruck, die Wirklichkeit werde nicht poetisch entdeckt und erschlossen, sondern durch eine philosophische Lehrmeinung oder eine Maxime intellektuell präjudiziert und dann umgedichtet. Erscheinen philosophische Theoreme nicht als eigentlicher Gegenstand, weicht die philosophische Attitüde unmittelbarer Erlebnisfähigkeit und spontanem Naturgefühl, dann entfaltet sich eine große lyrische Begabung, die in dieser Auswahl zu ihrem Recht kommt. Wrights Gedichte als reine Naturdichtung zu klassifizieren hieße sie einengen, doch ist das Naturreich die ergiebigste Quelle ihrer eindringlichen Bildhaftigkeit und das auslösende Moment für metaphysische Gedanken über den Menschen und seine Bestimmung, über die Dialektik von Geburt und Tod. Dabei wird die Natur weder gezähmt, noch wird sie als schmückendes Beiwerk oder als Gegenstand schwärmerischer Deskription gedacht. Von hier stammen auch die Vergleiche, Metaphern und Symbole, die in den kompliziert chiffrierten Aufbau der Gedichte integriert sind und wiederholt das Wort, die Sprache – und damit das dichterische Handwerk – zu bestimmen suchen. Da lesen wir von Bäumen, „bewegt wie ein Gedicht, präzis und deutlich“, ein auf kargem Boden wachsender Baum steht in seiner Blütenpracht als Symbol für das unsterbliche Wort, und die Bewegungen eines Vogelschwarms – „Jede Kurve hat Worte“ erscheinen als „luftige Schrift“. Solche Verse können im Goetheschen Sinn als Gelegenheitsdichtung bezeichnet werden, als Kunstwerke, die ein persönliches Erlebnis verinnerlichen und ins Allgemeingültige erheben.
In „Kürze“ bekennt die Dichterin, daß sie sich von Blake und Keats nun dem Haiku zugewandt habe – „Wenig Worte und keine Rhetorik“. Sie betrachtet es als Herausforderung, die dichterische Vereinfachung, die Stilisierung noch zu erhöhen. Manche späte Zeile nähert sich der Gnome oder dem Epigramm. Die Bereitschaft, in Form und Inhalt neue Wege zu gehen, Tradition und Moderne zu verschmelzen, zeichnet Judith Wright von Anfang an aus. Ihr Repertoire – von der thematischen Vielfalt einmal abgesehen – schließt die lyrische Volksliedstrophe und epische Gedichte in der einheimischen Tradition Harpurs und Neilsons ebenso ein wie den Blankvers, freie Verse und freie Rhythmen. Der poetischen Praxis der siebziger und achtziger Jahre unseres Jahrhunderts, etwa dem Postmodernismus, der Semiotik, dem Strukturalismus und entsprechenden experimentellen Techniken, hat sie sich nicht genähert. Das ist wohl auf ihre Überzeugung zurückzuführen, die sie in ihrer „Opening Address, English Conference, Macquarie University“ (1977) definierte: „Da Dichtung eindeutig keine Mitteilung von Tatsachen ist, muß sie Mitteilung von sittlichen Werten sein – das heißt emotionale Kommunikation.“ Insofern ist sie ein Kind ihrer Zeit geblieben, will sagen: ein später Nachfahre der englischen Romantik. Wie an Gedichten wie „Kürze“, „Balanceakt“, „Meinen Brüdern“ und „Skulptur“ nachzuvollziehen, gehört zur Perfektionierung ihrer Poetik die kritische Prüfung des Erreichten. Die Auseinandersetzung mit dem Problem der schöpferischen Tätigkeit offenbart ihre Zweifel darüber, was Dichtung generell vermag, und Bedenken, ob der von ihr gewählte Weg richtig, ob die eingesetzten Mittel adäquat sind. Im Gespräch (1982) mit Jim Davidson, einem ehemaligen Mitarbeiter von Meanjin, äußerte sie sich über ihre im engeren Sinn politische Dichtung. „Ich kann Gedichte nicht auf Bestellung schreiben, und Propaganda-Gedichte – gleichgültig, was die Leute darüber sagen mögen – gibt es bei mir nicht. Wenn ich eins schreibe, das sich wie Propaganda liest, mag es daran liegen, daß der poetische Impuls, der mich erst einmal dazu veranlaßt hat, durch intellektuelle Komplikationen ein bißchen verdrängt wurde.“ Obwohl sie keine ausgesprochenen Kampfgedichte verfaßte, gehören unter dem Eindruck des Vietnamkrieges entstandene Verse wie „Die Ermordung der Unschuldigen Kinder“ oder eine historische Szene wie „Zwei Seiten einer Geschichte“ gewiß nicht zu ihren besten, denn vordergründiges Pathos und Rhetorik können nicht für wirkungsvolle dichterische Umsetzung entschädigen. Das gilt nicht für ironische oder satirische Zeitgedichte – für das an die Mitarbeiter des ASIO (für: Australian Security and Intelligence Organisation = australischer Sicherheitsdienst) gerichtete „Sie“ oder das die Profitgier geißelnde „Auf einem Bankett“, für die Absage an die Sterilität der Großstadt in „Stenotypistinnen im Phoenix Building“ oder „Australien 1970“, entstanden angesichts der Zerstörung der Natur in Queensland. In diesem Zusammenhang ist J. Wrights Engagement für den Umweltschutz in seiner ganzen Breite, von der Einschränkung der Luftverschmutzung bis hin zum Lärmschutz und Naturschutz, zu sehen. „Wir alle, Wissenschaftler und Künstler und viele andere, stehen vor dem gewaltigen Problem, irgendwie mit einer geteilten – politisch, emotional und auf jede nur denkbare Weise geteilten – Welt klarzukommen.“ In dem Vortrag „Science, Value and Meaning“ (1969) fordert Wright Brücken der Verständigung zwischen den beiden „Kulturen“ der Wissenschaft und Kunst. Sie spricht bewußt von der allgemeinen menschlichen Erfahrung in einer immer komplizierter werdenden Welt, in der eine Umbruchphase die andere ablöst und das menschliche Maß, die „Sprache der Blätter“ in Gefahr geraten. Die Affirmation bestimmt den Charakter ihrer poetischen Weltsicht, was Phantom Dwelling, ihre bisher letzte Buchveröffentlichung, bestätigt. Ihr Widerstand erschöpft sich indes nicht im Wort, sie nimmt auch an direkten Aktionen gegen die Selbstzerstörung teil. Der Zyklus „Lebensraum“ ist in seiner Besinnung auf die Schönheit elementarer Dinge nicht nur Preislied, er ist gleichzeitig eine Warnung vor den Schrecken des Unbehaustseins im materiellen wie im geistigen Sinn und läßt auf Unbehagen an der Konsumgesellschaft und der Massenkultur schließen. „Denn unsre Wirklichkeit ist Relation.“ Damit wird nicht etwa ein erreichter Zustand namhaft gemacht, vielmehr wird der Wunsch artikuliert, „im Dunkel den Zauber des Lichts [zu] beweisen“, ein Gedanke, der zu E.M. Forsters Imperativ „Only connect“ hinführt.
Das australische Erbe, die Vorstellung vom „säkularisierten Eden“ (Harry Heseltine) prägt Judith Wrights Gesamtwerk, das bei der Entfaltung und formalen Entwicklung der australischen Dichtung eine bedeutende Rolle spielte. In ihm spiegeln sich die geistigen und politischen Tendenzen der australischen Gesellschaft seit Mitte der vierziger Jahre. Wie ihr Dichterkollege und Freund A.D. Hope, der in seinem Gedicht „Australia“ (1939) die Australier als „Europäer aus zweiter Hand“ etikettierte, oder wie der Kritiker A.A. Phillips, der in einem sensationellen Essay (1950) die „kulturelle Unterwürfigkeit“ Australiens anprangerte, zielt Wright auf das Selbstvertrauen, das in den radikalen Traditionen der australischen Geschichte zum Ausdruck kommt. J. Wrights Geschichtsbewußtsein dürfte weittragende Bedeutung besitzen, bezieht es doch ausdrücklich die Anklage gegen die Entmündigung der Aborigines ein. Ohne Erinnern gibt es für sie keine Versöhnung. Das Eingeständnis „Doch ich bin Fremdling hier, das Kind von Siegern“ bewahrt Judith Wright vor dem Vorwurf der Naivität, ebenso vor der Unterstellung, sie betrachte Australien als ein neues Arkadien, als einen letzten Zufluchtsort, wo die Welt noch in Ordnung ist. In ihrem Verständnis besteht die Aufgabe des Dichters nicht in der Suche nach wissenschaftlich exakter Wahrheit, sondern in der Suche nach dem Sinn. Die Themen ihres Schaffens – Liebe, Natur, Zeit und Kontinuität, Sprache und der Busch als Inbegriff der Einsamkeit, als Symbol des Lebens – sind in der australischen Dichtung nicht neu, sie wurden aber von ihr auf neuartige, zeitgenössische Weise behandelt. Wenn heute die mittlere und junge Generation der australischen Poeten, die seit den sechziger Jahren auf Impulse der nordamerikanischen Lyrik reagieren, ältere Kollegen wie A.D. Hope, James McAuley, Judith Wright und Rosemary Dobson als das „Establishment“ betrachten, von dem es sich zu lösen gilt, dann darf diese Selbständigkeit auch auf das Beispiel Judith Wrights zurückgeführt werden. Mit einiger Befriedigung konnte sie bereits Mitte der sechziger Jahre feststellen: „Wir schreiben nun nicht mehr als verpflanzte Europäer, auch nicht als wurzellose Wesen, die die Vergangenheit nicht akzeptieren und ihre Hoffnungen nur auf die Zukunft richten, sondern als Menschen mit einer Gegenwart zum Leben und einer Vergangenheit, die uns aufrechterhält.“

Hans Petersen, Nachwort, im September 1988

 

Judith Wright

„Da Dichtung eindeutig keine Mitteilung von Tatsachen ist, muß sie Mitteilung von sittlichen Werten sein – das heißt emotionale Kommunikation.“ Im Verständnis der Australierin Judith Wright (1915 in Armidale, New South Wales, geboren) besteht die Aufgabe des Poeten nicht in der Suche nach wissenschaftlich exakter Wahrheit, sondern in der Suche nach dem Sinn. Die Themen ihres Schaffens – Liebe, Natur, Zeit und Kontinuität, Sprache und der Busch als Inbegriff der Einsamkeit, als Symbol des Lebens – sind in der australischen Dichtung nicht neu, sie wurden jedoch von ihr auf neuartige, zeitgenössische Weise behandelt. Douglas Stewart, der damalige Lyrikredakteur der Zeitschrift The Bulletin, begrüßte die Publikation ihrer ersten Sammlung The Moving Image (1946) mit den Worten: „Die Gedichte versprechen etwas, alles, die Welt.“ Ausgehend von eigenen und tradierten Erfahrungen in ihrer Heimatregion New England, N.S.W., zielt sie durch Darstellung des Regionalen auf das Universale. Sie hat die poetische Tradition von Charles Harpur und John Shaw Neilson nicht achtlos beiseitegeworfen, sondern weitergeführt und schöpferisch mit europäischer Kultur und Dichtung verknüpft. So haben Anregungen der englischen Romantiker William Wordsworth und William Blake ebenso gewirkt wie Impulse T.S. Eliots und des Iren William Butler Yeats. Judith Wrights Œuvre steht im Zeichen der Sehnsucht nach harmonischer Einheit von Körper und Seele, von Mensch und Natur. Aus der Natur schöpft sie Vergleiche, Metaphern und Symbole, die in den kompliziert chiffrierten Aufbau ihrer Gedichte integriert sind und die auch das Wort, die Sprache – und damit das dichterische Handwerk – zu ergründen suchen.

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1990

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Internet Archive
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Judith Wrights Gedichte in einer Vertonung von Bradley Gill.

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