Jürgen Busche: Zu Peter Huchels Gedicht „Späte Zeit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Huchels Gedicht „Späte Zeit“ aus Peter Huchel: Die Sternenreuse. 

 

 

 

 

PETER HUCHEL

Späte Zeit

Still das Laub am Baum verklagt.
Einsam frieren Moos und Grund.
Über allen Jägern jagt
hoch im Wind ein fremder Hund.

Überall im nassen Sand
liegt des Waldes Pulverbrand,
Eicheln wie Patronen.

Herbst schoß seine Schüsse ab,
leise Schüsse übers Grab.

Horch, es rascheln Totenkronen,
Nebel ziehen und Dämonen.

1933

 

Es rascheln Totenkronen

Wer sich nach der Lektüre dieses Gedichts den ersten Vers in Erinnerung ruft, glaubt sich wohl falsch zu erinnern – oder falsch gelesen zu haben. Hieß es da „verzagt“ oder „verklagt“? Das eine wäre umstandslos verständlich. Aber das steht da nicht. „Verklagt“ hört sich nach einer juristischen Vokabel an. Indes, das Wort gebraucht niemand ohne ein Objekt. Wer wurde verklagt? Wer hat wen verklagt? Das klingt an, mehr aber auch nicht. Eher mag dem Leser, dem Hörer dieses Gedichts „verklagen“ als eine unvertraute Steigerung des Wortes „klagen“ als „beklagen“ in den Sinn kommen, so, wie „verzagen“ eine Steigerung von „zagen“ bedeutet. Damit hätte sich auch der Eindruck nach dem ersten Lesen bestätigt: „Verklagen“ als „Verzagen“ empfunden.
Ein gleich kurzer Satz folgt als Vers zwei. Dieser Gedichtanfang wird eingeleitet durch eine Vorstellung von Stille und Einsamkeit. Aber es wird nicht beschaulich. Die nächsten beiden Zeilen der ersten Strophe warten mit Beunruhigendem auf.
Die – lauten – Jäger der wilden Jagd gibt es nicht nur zwischen Weihnachten und Dreikönig, es gibt sie auch – mit dem Germanengott Odin an der Spitze – im Herbst, wenn Felder und Bäume abgeerntet sind. Deshalb soll man ja das Obst in den Gipfeln belassen, damit die Pferde der Jäger während des Ritts dort etwas zu fressen finden. Doch mit solcher durch alte Bräuche ausgewiesenen Vertrautheit zwischen Menschen und den Wesen ihres Aberglaubens ist es nichts in diesen Versen. Über den anderen jagt ein fremder Hund. Nicht das edelste Geschöpf neben Rössern und abgesetzten Göttern, aber jetzt über ihnen, führend, bestimmend.
Das Ungemütliche des Bildes wird in der kürzeren zweiten Strophe bekräftigt. Der nasse Sand gehört nicht in das Bild vom Herbst des Einsamen und ist auch nicht der Boden, auf dem der sonst Lesende oder Briefe Schreibende unruhig wandelt, wenn die Blätter treiben. Nasser Sand macht schwere Schuhe. Der Blick auf diesen Sand, auf das, was der Herbst übrigläßt, ruft hier die Assoziation zu einem Platz hervor, auf dem ein Erschießungskommando angetreten ist. Und danach: Pulverbrand, Patronenhülsen. Auf dem Boden sehen sie aus wie die Patronen selbst, sie sind aus den Gewehren gesprungen, als die Schüsse abgefeuert wurden. Wen trafen die Kugeln?
Die Schlußzeilen des Gedichts wirken wie Verspaare am Ende der Sonette Shakespeares. Es sind zwei Paare. Das erste nimmt die Gegenwart des Herbstes auf und verbindet sie mit der Erinnerung an gefallene Schüsse. Aufmerken läßt die Vergangenheitsform. Die Schüsse des Herbstes waren leise, und sie wurden über Gräber abgegeben. Das Bild der abgestorbenen Natur ist nicht aufgegeben. Aber zu den leisen Schüssen des Herbstes wird man sich lautere, peitschende denken, und das Grab wird man auf diese letzteren beziehen. Der Schrecken, der so angedeutet wird, ist noch nicht vorbei. Man tut gut daran, auf künftigen Schrecken gefaßt zu sein. Totenkronen durchbrechen die Stille des Augenblicks, und nicht Götter, sondern Dämonen ziehen im Nebel umher. Das Verspaar am Schluß ist eine Mahnung.
Huchel schrieb dieses Gedicht 1933. Das Unheil war schon über Deutschland hereingebrochen. Die ersten Gewaltakte zur Etablierung der Diktatur hatten schon stattgefunden. Gedruckt wurde es zuerst in der Zeitschrift Die Dame im Oktober 1941.

Jürgen Busche, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003

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