Jürgen Engler (Hrsg.): O süßes Nichtstun

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Jürgen Engler (Hrsg.): O süßes Nichtstun

Engler (Hrsg.)-O süßes Nichtstun

DER LESENDE

Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draußen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. –
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend… überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreißen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen…
Da weiß ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. –
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.
Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles groß.
Dort draußen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur daß ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, –
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.

Rainer Maria Rilke

 

 

 

Siebenmeilenstiefel und Hemmschuh

Mit der „Eilfahrt“ fängt es an: das Zeitalter der Hochgeschwindigkeit. Friedrich Rückerts Gedicht reagiert auf die mit Dampfschiff und Eisenbahn beginnende rapide Veränderung des Lebens. Es ist ein geradezu prophetischer Text, der auf die Globalisierung unserer Tage verweist. Die „göttliche Allgegenwart“, von der er spricht, mag seinerzeit eine poetische Übertreibung gewesen sein, als Metapher für das World Wide Web, unser „Eilfahrtswörterbuch“ und Schienennetz der Information, finden wir sie kaum übertrieben. Zugleich artikuliert sich die Beklommenheit des Einzelnen gegenüber zunehmender Beschleunigung und der Entwertung vorhandenen Wissens und tradierter Lebensmodelle, wie der seltsame Schluss verrät. Die „Eilfahrt“, eine Art moderne Kavaliersreise, soll man in jungen Jahren und schnell hinter sich bringen – und zur Ruhe kommen:

Und in Besitz zu nehmen klug,
Was man besitzt nicht auf dem Flug.

Rückens Gedicht ist nur eines der zahlreichen poetischen Zeugnisse, die das Verschwinden des guten alten, sprich, langsamen Lebens beklagen. Für die misstrauisch betrachtete oder abgelehnte neue Zeit steht die Eisenbahn als Symbol. In Deutschland trat sie 1835 auf der Strecke Nürnberg – Fürth ihre Jungfernfahrt an. Die Bezeichnung „Dampfross“ versuchte noch, alte und neue Zeit miteinander zu versöhnen, und die Waggons erinnerten in Gestalt und Form an die Postkutsche. Der ablehnenden Stimmen aber gab es viele; so wurde die damalige Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern als nicht zumutbar für Menschen erachtet. Die Poesie des Reisens schien dahin. Justinus Kerner:

Bald alles mit des Blitzes Schnelle
An der Natur vorübereilt.

Josef Victor Scheffel:

Jetzt geht die Welt aus Rand und Band.

Und bei Ludwig Thoma gilt die Invektive schon der neuesten Errungenschaft der Mobilität, dem Automobil:

Das Idyll ist in Benzin ertränkt.

Mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert beschleunigen sich alle gesellschaftlichen Prozesse. Geschwindigkeit regiert das Leben, das Arbeitsleben zumal; der Mensch wird mitgerissen in diesen Wirbel. Hans Arps Gedicht „Sekundenzeiger“ bringt diese Entwicklung auf den Punkt. Es zeigt eine Zeit an, in der der amerikanische Industrielle Henry Ford die Arbeit am Fließband eingeführt hatte: Zur Steigerung der Effektivität wurde die Herstellung eines Produkts in kleine (Zeit-)Einheiten zerlegt; der Arbeiter wurde, wie Chaplins Film Moderne Zeiten grotesk vorführt, zum Rädchen in dieser Maschinerie. Mechanische Zeit – ein Begriff des französischen Philosophen Henri Bergson – triumphiert, natürlicher Lebensrhythmus wird zerhackt, in atemberaubender Weise folgen die Sequenzen einander (im Sekundentakt), lassen nicht zur Besinnung kommen. Lebenszeit läuft unaufhaltsam ab, der Sinn des Ganzen bleibt verborgen, vielleicht gibt es ihn gar nicht. Im Scheitern, ihn zu artikulieren, verrät sich tiefe Zeit-Not. In Gedichten wie „Wochenkalender“ von Christian Wagner und „Von Montagfrüh bis Wochenend“ von Mascha Kaléko wird das der mechanischen Zeit unterworfene Dasein thematisiert. Litanei und Klage gelten dem ewigen Einerlei eines in die Seelenmühle geratenen Lebens.
Der Widerstand dagegen artikuliert sich in exzeptionellen zeit-kritischen Gegenbildern, im „Lob der Faulheit“, um den Titel der Streitschrift von Paul Lafargue, dem Schwiegersohn von Karl Marx, zu zitieren. Und es verwundert nicht, dass gerade in der Lyrik die Wonnen der Abgeschiedenheit von der „geschäftgen Welt“ (Eichendorff) und der Rückzug in die Natur mit ihrem organischen Lebensrhythmus besungen werden. Das Lob des Müßiggangs als polemisches Kontra zum rastlosen Tun ist dabei das eine. Zum anderen wird im „süßen Nichtstun“ (Theodor Storm) ein gleichsam höheres Tun angepeilt, das freie Spiel menschlicher Kräfte. Das Vorbild dafür liefert die Kunst, die wir der Eigenzeit und dem Eigensinn ihres Produzenten zu verdanken haben.
So kann auch der Kunstgenuss eine „Insel im Alltag“ sein, die Lektüre von Romanen oder Gedichten beispielsweise. Die Abteilung der Anthologie „Wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden“ lenkt pars pro toto die Aufmerksamkeit darauf. Freilich, es wäre verfehlt, Kunst und Literatur schlechthin als Gegenwelt zum Mahlstrom modernen Lebens zu bezeichnen, empfand sich die künstlerische Avantgarde des vorigen Jahrhunderts doch gerade als Speerspitze des Fortschritts! Man denke an den Futurismus mit seiner Technik- und Tempovergötzung.
Der Fortschritt in Industrie, Technik, Wissenschaft, Kommunikation lässt sich nicht aufhalten. Und wer wollte schon, um beim Exempel Eisenbahn zu bleiben, darauf verzichten, seine Errungenschaften zu genießen und mit etwas mehr als 30 Stundenkilometern bequem, sicher und schnell an ein weit entferntes Ziel zu gelangen. Aber wie aus Wohltat Plage und zunehmende Beschleunigung bedrohlich wird, zeigt die Zahl psychischer Erkrankungen (Depression, Burn-out-Syndrom) als Folge der Arbeits- und Lebensbedingungen in der hektischen Leistungswelt. Zugleich hat eine boomende Freizeitindustrie Interesse daran, mit suggestiver Werbung ihre Produkte rund um die Uhr an Mann und Frau zu bringen.
Im Finanzsektor wickelt der Hochfrequenzhandel mit eigens dafür geschaffenen Computerprogrammen Geldtransaktionen in Millisekunden ab, um noch aus kleinsten Kursunterschieden Gewinne zu schöpfen. Über möglicherweise katastrophale Folgen für die Weltwirtschaft wird man sich seit dem Flash Crash vom 6. Mai 2010 langsam klar und versucht gegenzusteuern. Politiker arbeiten, heißt es, an Plänen, wonach Wertpapiere für mindestens eine halbe Sekunde (!) gehalten werden müssen.
Dem Einzelnen zu predigen, gelassen zu sein oder zu werden, ist verlorne Liebesmüh, wenn nicht zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen dafür (zum Beispiel auskömmliches Einkommen) ins Auge gefasst werden. Dies sei hervorgehoben und damit genug der Überforderung: Nicht die gesellschaftlichen Chancen der Entschleunigung sollen und können hier erörtert werden. (Zumal es in der Konkurrenzgesellschaft leider nicht so märchenhaft einfach ist wie in „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“ von Adelbert von Chamisso: Der die Kontinente und Länder durcheilende Weltreisende Schlemihl zieht sich, will er an einem Ort verweilen und vielleicht etwas botanisieren, einfach Pantoffeln als Hemmschuhe über die Siebenmeilenstiefel.) Die Aufmerksamkeit dieser Anthologie gilt dem individuellen Umgang mit Zeit, den – oft nur bescheidenen – Möglichkeiten, Zeit für sich zu gewinnen: Zeitverbleib statt Zeitvertreib. (Rilke: „Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben! / Sie zu halten, wäre das Problem.“) Ermutigt werden soll zum zeitweiligen Innehalten im Lebens„lauf“ – „das Leben ist eine Rennebahn“, beklagte schon Gryphius –, zum Nachdenken über die private Zeitökonomie und über das Anlegen von Freilaufstrecken, auf denen man selbst das Tempo bestimmt: Mein ist der Augenblick. Innehalten heißt, sich Zeit zu nehmen für sich (und für andere), und das nicht nur am Abend respektive Lebensabend, am Feierabend, wenn der Mensch – so der traditionelle lyrische Topos – nach vollbrachtem Tagwerk ausschert aus der Betriebsamkeit und zur Ruhe und Besinnung kommt, ja sogar ohne schlechtes Gewissen sich seinen Träumereien hingeben kann.

Was eigentlich genießen wir in solcher Lage? Nichts, was dem eigenen Selbst äußerlich wäre, nichts außer sich selbst und die eigene Existenz.

So Jean-Jacques Rousseau in den „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“.
Um Lebenskunst geht es: das rechte Maß von Faulheit und Tätigkeit, Geselligkeit und Alleinsein, Eile und Langsamkeit. Wenn Zeit und Muße rar geworden sind, müssen wir wissen, was wir wollen und was nicht. „Kraft zur Genügsamkeit“, fordert der Wachstumskritiker Nico Paech:

Wir können uns inzwischen mehr Dinge leisten, als wir Zeit und Aufmerksamkeit dafür haben. Das überfordert uns systematisch.

Eile und Langsamkeit sind relative Begriffe; entscheidend ist, wie sie der Befriedigung der eigenen – selbstbestimmten, also reflektierten – Bedürfnisse dienen. Eile oder Langsamkeit – es geht um eine dem Menschen angemessene Zeit. Prediger Salomo (3,1):

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.

Jürgen Engler, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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