Jürgen Engler: Zu Franz Josef Czernins Gedicht „Kunst des Dichtens / Elemente / Wasser“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

Zu Franz Josef Czernins Gedicht „Kunst des Dichtens / Elemente / Wasser“ aus dem Band Franz Josef Czernin: elemente, sonette. –

 

 

 

 

FRANZ JOSEF CZERNIN

Kunst des Dichtens / Elemente / Wasser

auf einen schlag, jetzt in das, aus dem auge springt
dir weisses; gischt, am sprung, dahin, daher zu fahren,
davon geritten, wild, wellen mir sträubt in scharen,
die überstürzend, -schäumend locken; durch wirbel dringt

jetzt solcher gang, dass haar für haar sich zwingt
der schwung zu zügeln? wogen, rufe, die sich paaren
schwall wiegend, da im sattel wir, geschaukelt, wahren
gesicht im fall durch dunkles, sog, der uns anklingt

durch zaum und zeug? wie aufgepeitscht, -gerollt und wendig
das türmt, doch wieder kehrt, aufbrausend nicht nur flieht;
der kamm, sich selbst verschlingend, mähnen treibt, unbändig

vom maul, vom grund uns auf es wühlt; was dies vollzieht,
geht durch mit dir, doch schritt für schritt, lebendig
aus mir schweift und, gezäumt nicht nur vom schwanz, einsieht?

 

Wellenschläge

Franz Josef Czernin beschwört in einem Teil seines umfassenden Projekts „Kunst des Dichtens“ die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, zugleich richtet sich der Erkenntnisdrang auf das fünfte Element: die Sprache. Vorgeführt wird, wie sie lyrisches Sprechen in Gang hält und sich ein „Gegenstand“ konstituiert, wie „Wirklichkeit“ durch Sprache konstruiert wird. Der Text liefert das Material der Konstruktion: Wörter, zumal Homonyme und Synonyme; Redewendungen, deren ursprünglicher Sinn aufleuchtet oder im Kontext überraschende Verschiebungen erfährt; Wortgruppen, oft entlassen aus vertrauten grammatikalischen Bindungen. Gemessen an Texten, die die sprachlichen Elemente zum Ganzen (und Heilen) zu fügen trachten und den Herstellungsprozeß im fertigen Produkt verschwinden lassen, kann Czernins Verfahren ebenso als Dekonstruktion bezeichnet werden.
Solche Prozedur wirkt immer noch befremdend, und oft werden die Resultate als Laborpoesie bezeichnet. Das ist dann pejorativ gemeint, und es könnte über diesen Begrifflange gestritten werden, oder auch nur kurz, wenn mit ihm eine falsche Alternative aufgestellt wird: zwischen einer Lyrik, hergestellt in Werkstätten oder eben Labors, und einer, die aus dem prallen Leben geschöpft sein soll. Doch darauf lasse ich mich hier nicht ein und empfehle, das Gedicht zunächst einfach zu lesen, laut zu lesen, seinem Wellengang zu folgen, den Hebungen und Senkungen, der Strömung und Stockung, den Brechern in der Zeile, dem Fluten eines Verses in den nächsten… Anarchische Sprachkraft und Sprachlust ist zu spüren, das Methodische und das Gezügelte dieser Lyrik sind keineswegs ihre alleinigen Charakteristika. Bedeutungen werden bei solchem Lesen erst nur erahnt, man spürt ihr Fließen und sucht Halt und Gelegenheit, sie zu fixieren. Die lyrische Rede als Überfluß, wenn nicht als Sturzsee – die Sprache ist, um es zu wiederholen, das Element, in das wir hier eintauchen.
Die Vielzahl noch unverbundener, in ihren Beziehungen erst zu klärender Wortgruppen, deren Bedeutungen sich überlagern und überlappen, sorgt für anhaltende Irritation. Der Text ist, gemessen an der (erstrebten) Eindeutigkeit alltäglichen Sprachgebrauchs, überdeterminiert. Wenn Sprache die Wirklichkeit auf konventionelle, d.h. auf historisch gewachsener Übereinkunft beruhende Weise repräsentiert, dann wird eben diese Konvention von Czernin zerbrochen, sprachliche (Selbst-)Sicherheit und blinder Sprachgebrauch werden düpiert – notwendige Voraussetzung für einen neuen und schöpferischen, ihre Möglichkeiten stärker ausschöpfenden Umgang mit Sprache. Der Anspruch, den der Autor an den Leser stellt, ist hoch:

Man muß als Leser ein Gedicht immer wieder durchgehen…

Das klingt zunächst verdammt nach Fleißarbeit – Lyrik als Produktionsstätte und Taktstraße –, aber kann es nicht auch eine Lust sein, sich in die Strudel und Wirbel überschäumender Sprache zu stürzen? Das Gedicht ist das Gedicht – wer es freilich als Gefäß einer Botschaft entgegennimmt, wird angesichts dieses Textes über einen Schlag ins Wasser die Achseln zucken.
„auf einen schlag“ – das ist zuerst die plötzliche Konfrontation mit dem aufgepeitschen Element. Wie man Pferden einen Schlag gibt, und sie stürmen davon, ein Schlag Pferde, weiße Rösser. In mythologischer Dimension: das Pferd als Attribut Neptuns, des Gottes der Gewässer. Man denke an Walter Cranes Gemälde Die Rosse des Neptun (1892), die aus den Wellen, die als gischtende Wellen dem Betrachter entgegenspringen.
Ein Wortfeld, das den ganzen Text überzieht, kann vom Begriff „Pferd“ abgeleitet werden: sprung, geritten, gang, zügeln, sattel, zaum und zeug, aufgepeitscht, mahnen, maul, gezäumt, schwanz. Doch ist das nicht der einzige Komplex, der dem Leser zur Konstruktion seines Wasser-Bildes offeriert wird. Durchaus verknüpft mit dem Eindruck einer dahinstürmenden Pferdeherde mit wild wehenden Mähnen, ist ein anderer Begriffs- und Vorstellungsbereich mit dem Wort „Haar“ aufgerufen: wellen, sträubt, locken, wirbel, haar für haar, kamm, mahnen, schweift, schwanz. Aber zugleich lösen wir uns, den von diesen Wörtern suggerierten Bedeutungen folgend, von der ersten Bildebene; beide Bildbereiche sind – im Sinne eines Eindeutigkeit erstrebenden Wirklichkeitsentwurfes – nicht befriedigend zur Deckung zu bringen. Als Leser muß ich mich ständig entscheiden, von welcher metaphorischen Strömung ich mich tragen lassen will bzw. ob ich einer empirisch-sinnlichen oder symbolischen Lesart folge bzw. ob sich beide vereinbaren lassen. Dabei entspräche es den Intentionen des Autors, wie auf Anfrage kundgetan, zu versuchen, jedes Bild als sinnliche Vorstellung zu realisieren, und erst bei Komplikationen oder Unmöglichkeit auf eine begriffliche oder konzeptionelle Ebene zu wechseln. Doch bleibt es die mehr oder minder irritierende Erfahrung, daß sich der Fluß oder Wirbel der Bedeutungen nicht zum Stillstand zwingen läßt. Insofern wird das sich selbst verschlingende Gedicht, das Bedeutungen kurzweilig manifestiert, recht betrachtet sie aber im Stadium der Potenz beläßt, zum Analogon der prima materia, des Wassers als Ursprung (und Grab) aller Dinge.
Unsere Betrachtung der Wortfelder war recht substantivisch orientiert; eher mehr als weniger wäre aber das Augenmerk auf die Verben und Partizipien zu richten, denen zuvörderst die anhaltende ziellose, chaotische Bewegung der aufgepeitschten See zu „fassen“ aufgetragen ist. Wenn Wellen Rösser sind, muß man auch auf ihnen reiten können: Tatsächlich gibt es das Wellenreiten als Sport, und wer von ihm tiefere Kenntnis hat, mag darüber urteilen, inwieweit solcher Balanceakt auf den Wellenkämmen im Gedicht zur Sprache kommt. (Ein Schlag jedenfalls, so verrät das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, ist – ein weiteres Homonym – die Strecke zwischen zwei Segelwendepunkten.)
Das entfesselte (Sprach-)Element entfaltet verbal in den Terzetten seine volle Kraft: aufgewühlte Wasser wie aufgewühlte Gefühle, die uns – Scheitern und Einsicht – auf den Grund kommen lassen. Die Beschwörung des Dahin und Daher – ist sie Welt- und Welt-Anschauungsdichtung? Seinem Vortrag „Wellen: Ist Geschichte Naturgeschichte?“ setzte Rolf Hochhuth ein Motto von Jacob Burckhardt voran:

Wir möchten gerne die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst.

Die Haarflut als Sinnbild für Lebenskraft und -lust und die wogenschlagenden Wasser als Bild für Unbeständigkeit, Illusion und Nichtigkeit des Lebens – das wäre auf der Abstraktionsebene eine mögliche symbolische Spannweite. (Oder auf der Spekulationsebene: Vergessen wir nicht, daß die Lektüre jene Fügung ist, in die der Leser das sinnliche Sprachmaterial zu bringen sucht.) In solchem Assoziationsraum wäre vielleicht der oder besser: ein Ansatz zu finden, sich dem Ich und Du und Wir des Textes zu nähern, ihrem (auch ekstatisch-erotischen) Treiben und Getriebenwerden eine Allegorie abzugewinnen.
Das entfesselte Element ist durch den Schwall schnell wechselnder Sprach- und Sinneinheiten durchaus in Redens- und Darstellungsart präsent. Zugleich werden wir angehalten, „schritt für schritt“ das Gedicht in der strengen Form des französischen Sonetts zu durchgehen. Das Sonett als Zaumzeug für ausschweifende Rösser, galoppierende Gefühle und Gedanken? Von jeher eignete dem Sonett ein stark gedanklicher Aspekt; in der widersprüchlichen Entfaltung von Empfindungen und Gedanken suchte sich seine ordnende Kraft zu bewähren. Die klassizistische Orientierung auf einen (wenn auch ambivalenten) zur Ruhe kommenden Gedanken, wie sie sich in Bechers Vorstellung vom Sonett als Ordnungsmacht artikuliert, ist freilich Czernins Sache nicht: Wie Welle auf Welle folgt, überstürzen sich die metaphorischen Entwürfe. In Czernins Projekt lebt die Tradition des barocken Sonetts auf, die rhetorische Macht leidenschaftlicher Frage und Rede, wie sie Andreas Gryphius in die deutsche Verskunst brachte. Nicht der fünffüßige Jambus, sondern der sechshebige Alexandriner ist hier das Maß, wobei für Czernin nicht – man schaue sich nur den Eingangsvers an – die obligate Zäsur nach der dritten Hebung, also nicht die „zweischenklichte Natur des Alexandriners“ (Schiller) bindend ist, sondern im Wechselspiel von Schema und Variation die Zäsuren frei gesetzt werden. Gegenüber dem Sonett der Renaissance ist dem Sonett des 17. Jahrhunderts die Überzeugung von der Harmonie der Welt verlorengegangen; die Gewaltigkeit und die Unendlichkeit der Erde und des Universums geraten in den von Entzücken oder Angst geweiteten Blick; der Mensch ist nicht länger Mittelpunkt, sondern Teilchen in einem Kraftfeld voller Dynamik und Kontraste. Ein barocker Gestus prägt Czernins „Element“-Gedichte: Mit ihrer Bruchstückhaftigkeit im Inneren entsprechen sie einer auseinanderdriftenden Welt, die im künstlerischen und literarischen Werk zu konzentrieren immer schwerer wird. Nicht zu vergessen ist schließlich, daß der Autor die sich im Text herstellende (Wort-)Welt zugleich in Frage stellt; hier wird kein Punktum gesprochen, am Ende der Satzgetüme steht das Fragezeichen. Sprach- und Bildmächtigkeit gehen einher mit Kritik, die den metaphorischen Bedeutungszauber der Sprache durchleuchtet und so die Wirklichkeit wörtlich herstellt, uns hinstellt, sie immer zugleich anzweifelnd.
Was derart über die Realität der Elemente, die für die Welt stehen, gesagt wird, trägt hypothetischen Charakter. Solch Vermutungsdenken kann sich nicht im einzelnen Text erschöpfen, ein Schlag ins Wasser pflanzt sich fort durch den ganzen Ozean. (Der geneigte Leser sei mithin auf die in ndl 1/97 veröffentlichten Sonette verwiesen, die andere „Versuchsanordnungen“ erproben. Der Kontext ermöglicht neue Verknüpfungen, Akzentuierungen, Korrekturen, das sinnliche Wortmaterial – aus unserem Text z.B. Auge, Weißes, Maul – verheißt neues Sinn-Versprechen.) Die Wort-, Satz- und Textfolge repräsentiert eine Kontinuität aus Fragmenten: Sprache ist nicht stetig, setzt sich nicht fest, sondern wellenartig fort, springt in metaphorischen Sätzen; die Ordnung der Wörter und Bedeutungen ist eine vorläufige und nachhinkende. Wo ist Tiefe und wo Oberfläche im aufgewühlten Element? Czernins Sprache ist eine im Entstehen begriffene und begreifbare; in seinen Sonetten mischen sich Augenschein und Sinnsprung, durchdringen sich Kalkül und Ekstase: lyrisches Sprechen im Überfluß. Das Überflüssige, meinte aber Voltaire, ist das höchst Notwendige. In der Literatur auf jeden Fall.

Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 517, Januar/Februar 1998

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