Jürgen Engler: Zu Karl Mickels Gedicht „Lineares Labyrinth“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Mickels Gedicht „Lineares Labyrinth“ aus dem Band Karl Mickel: Palimpsest, Gedichte und Kommentare 1975–1989. –

 

 

 

 

KARL MICKEL

Lineares Labyrinth

Den eingesunknen Zaun; die Greisin winzig
Die Hände vor dem Nabel ineinander
Gehakt; die Nägel grau; der erste Stein
Der kleinen Herde grauer Wackersteine
Schmust sich zum linken Fuße; runde Rücken
Gedrängt um runde Rücken; einer bockt

Gewahr ich aus dem Autofenster. Meine
aaaVierzigjährige Fahrerin
aaaaaaFrau Diewelt rast
aaaaaaaaaHolterdipolter die Straße

Vorbey vorbey; das Weib im Rückspiegel
Hütet die Kinder; dann das Kind die Gänse
Doppelt weit, weil ich mich ja entferne
Zurücke, als das Weib; da seh ich vorn schon
Den eingesunknen Zaun; die Greisin winzig

 

Leben in Fahrt

In Karl Mickels Gedicht „Lineares Labyrinth“ entfaltet sich das ikonographische Motiv der drei Lebensalter, wie es bis in die Antike zurückreicht und sich in der Kunst besonders seit dem Mittelalter ungebrochener Beliebtheit erfreut: Kindheit, Reife (das die Kinder hütende Weib) und Alter (die Greisin). Der Dichter sieht sich mit einem oft erörterten Problem der Poetik konfrontiert, man denke nur an Lessings Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie: Während es die Malerei erlaubt, dem Betrachter die drei Lebensalter gleichzeitig zu präsentieren, ist die Poesie als zeitliche Kunst auf das Nacheinander angewiesen. Mickels Lösung, dem Vorgangscharakter von Poesie wie der – Simultanität verlangenden – ikonographischen Tradition zu entsprechen, ist schlicht bewundernswert. Sie ist zudem die Lösung des Rätsels, das der Titel aufgibt, wie ein „lineares Labyrinth“ möglich sei. (Das Gedicht ist den „Schriften“ Karl Mickels entnommen; deren zweiter Band, 1990 im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig erschienen, versammelt unter dem Titel Palimpsest Gedichte und Kommentare 1975–1989.)
Gleichsam in einem Augen-Blick werden die Greisin (durch die Frontscheibe), die Frau und das Kind (im Rückspiegel) erfaßt. Das Gedicht beginnt mit einer Ellipse; doch nicht der Nominativ wurde gewählt (der eingesunkene Zaun), sondern der Akkusativ. Darüber wünschen wir Auskunft, der Schluß des Gedichts gibt sie uns: ein offener Schluß, der keiner ist, weil der Text labyrinthisch in sich selbst zurückführt. Wenn es „hinten“ heißt: „da seh ich vorn schon…“, so haben wir ebendies „vorn schon“ im Gedicht gesehen; die Vor-Spiegelung am Schluß ist die Rück-Spiegelung der Vor-Spiegelung. Was. (räumlich) vorn ist, ist (zeitlich) hinten, in der Zeit des Gedichts und in der Zeit des Lebens. Wir sehen voraus, und zwar geschwind: das Verschwinden, „den eingesunknen Zaun“, die „winzige Greisin“. Man kann die labyrinthische Verirrung und Verwirrung noch steigern, wenn man die Verse 13 und 14 nicht allein so interpretiert, daß sich das Kind „doppelt weit zurücke“ befindet, sondern liest: „weil ich mich ja entferne / Zurücke“, so daß das Vorwärts des im Gefährt Dahinsausenden – gemessen an den Zurückgebliebenen, gar Hinterbliebenen – als Rückzug (Rückfahrt) aus des Lebens Mitte hin zum Ende erscheint. Das mag ausreichen an Interpretation und Spekulation, um neben der Linearität (der schnellen Fahrt, bei der der Ortsausgang, der Ausgang) bald erreicht sein wird; in formaler Entsprechung: der Ablauf des Gedichts selbst) die Labyrinthik des Textes (die Geschlossenheit des Lebenskreislaufs, das Hin und Her im Zeit-Raum; formal: die endlose Schleife des Gedichts) zu kennzeichnen. (Daß räumlich und zeitlich Situiertes ineinanderspielt, verdeutlicht auch eine Wortkette wie „Rücken“ – „Rückspiegel“ – „Zurücke“.)
„Vorbey vorbey“ – das Vergehen wird in der vergangenen Wortform sinnfällig. Die Szenerie, die wir eiligst durchqueren und bald verlassen haben werden, ist eine dörfliche, und zumal das „kleine Bild“ (griechisch „eidyllion“) im Rückspiegel erinnert an eine Idylle. Für diese bleibt keine Zeit in unserem Dasein, dessen Lebensvorgänge wachsender Beschleunigung ausgesetzt sind, objektiv wie auch – bei zunehmendem Alter – im subjektiven Empfinden. So ist dieses Gedicht auch ein Abgesang auf Idyllisches, palimpsestartig schimmert Theokritsche Dichtung durch. Der Restbestand der Schäfer- und Hirtendichtung ist die „kleine Herde grauer Wackersteine“; nichts anderes mehr hat die Greisin, die Kinder sind längst aus dem Haus, zu hüten. Die Momentaufnahme korrespondiert mit dem Rückblick auf Frau und – wie anzunehmen gerechtfertigt ist – Mädchen, die gleichfalls eine tradierte weibliche Rolle ausüben.
Ein „bockender“ Stein reißt das Ich aus seiner Betrachtung. Höchste Zeit, unsere Aufmerksamkeit auch der Fahrbahn, mehr noch der Fahrerin zu widmen. Denn das Ich in diesem Gedicht wird gefahren, in diesem Sinn erleidet es seine Erfahrungen. Wer ist diese Fahrerin? Warum ist sie gerade 40 Jahre alt? Nur soviel läßt sich sagen, daß es sich um ein mittleres Alter handelt. Die Beobachtungen in diesem Gedicht, nehmen wir an, sind aus der Mitte des Lebens heraus gemacht worden, genauer: diese Mitte scheint bereits überschritten worden zu sein beziehungsweise überfahren, denn die Bilder von Kindheit und Reife erscheinen im Rückspiegel, vorn wartet „schon“ das Alter. Nun ist die Frau, die das Ich rasend mitnimmt, nicht nur eine Figur mittleren Alters, sondern auch eine des Mittel-Alters. Um niemand anderes als um Frau Welt nämlich handelt es sich. Wen sie zur Lebens-Fahrt einlädt, den fährt sie, ungefährlich ist diese Fahrt nie, früher oder später zu Tode. Daß ihr das Ich, wie Mickels Gedicht „Anakreons Art“ nahelegt, noch einige Male heftig und auf andere Weise rasend unter den Rock greifen wird, ändert nichts am Ausgang der Fahrt und Ausfahrt. Als Beifahrer von Frau Welt empfiehlt sich Mickel, nicht nur mit diesem Gedicht, als der Allegoriker der gegenwärtigen deutschen Poesie.
Daß Frau Diewelt und Frau Welt eine Person sind, wird durch Mickels Verstechnik gleichermaßen ver- und enthüllt. Seinem Gedicht liegt – wiederum palimpsestartig – die Sonettform zugrunde. Im Unterschied zum Sonett mit 14 hat der vorliegende Text 15 Verse. Nehmen wir jedoch die Silbenzahl von zehn beziehungsweise elf Silben pro Vers, dann erweisen sich die Verse 8 bis 10 aus zwei Versen mit vollständiger Silbenanzahl gebildet. Deren Trennung läßt den allegorischen Sinn hervortreten: „Vierzigjährige Fahrerin Frau Die / Welt rast Holterdipolter die Straße“. Liest man Vers 9 mit diesem Wissen, so wäre jede Silbe zu betonen. Dabei stellt sich – weniger von „runden Rücken“ kann nun die Rede sein als vielmehr von Katzenköpfen – das rechte Holterdipolter auch im Versmaß ein: Während die erste Strophe dem fünffüßigen Jambus als dem tradierten Vers des Sonetts folgt, setzt Vers 5 daktylisch ein, kündigt dem Gleichmaß, das erst im letzten Vers wieder voll erreicht wird. Reimlosigkeit läßt von vornherein kein gefühliges Mitschwingen zu, vielmehr wird sachlich das Gesehene berichtet. Was der Dichter als Fahrgast von Frau Welt in bewußten Augenblicken erfährt, teilt er ohne weiteren Kommentar mit. Seine Wahrnehmungen sind Kommentar genug.

neue deutsche literatur, Heft 466, Oktober 1991

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