Jürgen Engler: Zu Richard Pietraß’ Gedicht „Der Ringende“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Richard Pietraß’ Gedicht „Der Ringende“ aus dem Band Richard Pietraß: Freiheitsmuseum. –

 

 

 

 

 

RICHARD PIETRASS

Der Ringende

Greift tausendfingrig in die Luft, von Kohlgas umpufft. Am Rande des Betts, seiner Gruft, schlagen ihn Pech und Schwefel zusammen. Die Dampframmen des Straßenbaus lassen ihn bis in die jüngste Wurzel erzittern. Die Krähen wittern frisches Aas. In Höllengewittern vollendet sich, was nicht im Himmelskessel verglüht.
Kaum, daß weiß er erblüht, färbt schwarz sich sein Hochzeitskleid. Tausendfach Beileid funken die Zündkerzen; wird es verschmerzen: Glück und Glas. Gerührten Herzens geben sie Gas, entfalten das asphaltne Leichentuch.
Wir schlagen den Schwächling, auf das Buch vom grünen Baum. Sein Holz gibt unsern Klagen Raum. Und was bleibt der Ringeltaube: Holzauge.

 

Der Reim – nicht am Ende

Die Meinung taucht immer noch und immer wieder auf: Ein Gedicht ist das, was sich reimt. Genauer: was sich endreimt. Liest einer derjenigen, die diese Auffassung hegen, den vorangestellten Text, wird er ihn auf den ersten Blick nicht als Gedicht anerkennen. Doch wird er beim Lesen verunsichert werden: Immer wieder stößt er auf Wörter, die sich kräftig reimen. Was ist das nur für ein seltsames Mischgebilde aus Prosa und Poesie?
Aber vielleicht sind diese Reime echte Endreime, die durch einen – leicht rückgängig zu machenden – Kunstgriff zu Binnenreimen wurden? Versuchen wir, die Probe aufs Exempel zu machen:

Greift tausendfingrig in die Luft,
von Kohlgas umpufft.
Am Rande des Betts, seiner Gruft,
schlagen ihn Pech und Schwefel zusammen.
Die Dampframmen
des Straßenbaus lassen ihn bis in die jüngste Wurzel erzittern.
Die Krähen wittern…

Nein, die Verse bieten sich in Taktfüllung und Silbenzahl so unterschiedlich dar, daß sich kein vertrautes metrisches Schema ableiten läßt. Kein Gedicht herkömmlicher Art, dessen Bauplan nachträglich verschleiert wurde, liegt hier vor. Um „freie Verse“ handelt es sich nicht, aber als Prosagedicht ist der Text wohl auch nicht zu bezeichnen, dafür sind die sich reimenden Wörter zu häufig und – zu wirksam. Um eine besondere Form poetischen Sprechens muß es sich handeln.
Um ihrer Eigenart auf die Spur zu kommen, bietet sich ein Exkurs an. In seiner Schrift Revolution der Lyrik (1899) stellte Arno Holz den Reim grundsätzlich in Frage.

Brauche ich denselben Reim, den vor mir schon ein Anderer gebraucht hat, so streife ich in neun Fällen von zehn denselben Gedanken. Oder, um dies bescheidener auszudrücken, noch wenigstens einen ähnlichen. Und man soll mir die Reime nennen, die in unserer Sprache noch nicht gebraucht sind! (…) Der Tag, wo der Reim in unsere Literatur eingeführt wurde, war ein bedeutsamer; als einen noch bedeutsameren wird ihre Geschichte den Tag verzeichnen, wo dieser Reim, nachdem er seine Schuldigkeit getan, mit Dank wieder aus ihr hinauskomplimentiert wurde.

Im Anschluß daran plädierte Arno Holz nicht für den „freien Vers“, der ihm mit Pathos und Rhetorik verbunden schien, sondern für einen Vers „letzter Einfachheit“ und „möglichster Natürlichkeit“. Mit der Einführung der Mittelachse suchte Holz dieses Ziel zu erreichen; man möge nur sein Empfinden genauestens auszudrücken trachten, dann stelle sich der notwendige Rhythmus schon von allein her. Auf alles übrige – Reim, Strophe, überlieferte Metren und so weiter – sei zu verzichten.
Die Reflexionen von Arno Holz haben zweifellos einiges für sich, und sie zählen zu den frühen Bemühungen der Poeten unseres Jahrhunderts, die lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Nun ist von der Literaturwissenschaft schon darauf hingewiesen worden, daß Holz in seinen Dafnis-Liedern, diesen Imitationen und Parodien barocker Poesie, den Reim wieder durch die Hintertür einläßt. Aber auch in Phantasus, der seltsamen kosmogonischen Mischung von originell-groteskem Sprachspiel und Mythisierung, die auf einem positivistisch-ermüdenden Katalogisieren der Welt (und der Sprache) gründet, in dieser fast 1.350 Seiten umfassenden Kolossalphantasie also drängt sich immer wieder der Reim in den Mittelpunkt, und das im direkt-räumlichen Sinne des Worts.
So tritt beispielsweise Pan auf, zum „Entsetzensscheusal“ stilisiert,

zum schlampig, zum pampig, zum wampig, zum quampig, zum
stampig,
anstößigst, abstoßendst
trommelpanzigen, quastenschwanzigen,
empusen, medusen,
abstrusen
Schlumpumperviech
für
den ersten … Seeleneinruck,
für den ersten … Nerveneindruck, für den ersten … Sinneneinzuck
vermißwandelt, verrnotzzottelt, verschundschandelt, verklotztrottelt …

Exzessiv demonstriert Arno Holz seine Sprach- und Reimpotenz, und er bewies auf seine Weise, daß der Reim nicht totzukriegen ist, jene Magie des Gleichklangs, die einen Sinn noch vor Erfassen der inhaltlichen Bedeutung der Wörter oder einen weiteren hinter ihr suggeriert. Und wer als Erwachsener gereimte Gedichte liest, dem erklingen im Unterbewußten wohl immer auch die Abzählverse der Kindheit, der erinnert die spannungsvolle Gestimmtheit, mit der sich eine Gruppe kleiner Menschenkinder – wie oft stellte man sich dazu im Kreis auf! – dem Ritual des Abzählens unterwarf.
Arno Holz unterschätzte bei seiner Attacke die Verführung, die für den Dichter vom Reim ausgeht: sich den Zwängen des Hergebrachten zu stellen und sie zu überwinden, ein lyrisches Sinnganzes zu bilden, das sich durch Unwiederholbarkeit, Lebendigkeit und Individualität auszeichnet, womit zugleich die tradierten und vertrauten Bauelemente des Gedichts dem Gewohnten entrissen und entrückt werden.
Ein Blick auf die gegenwärtige Lyrik der DDR genügt, um zu sehen, welch große Rolle der Reim in ihr spielt. Natürlich wird er vorzugsweise von jenen genutzt, die – wie beispielsweise Uwe Berger, Manfred Streubel oder Eva Strittmatter – in besonderem Maße traditionellen Formen verpflichtet sind. Aber auch Lyriker wie Adolf Endler, Heinz Kahlau, Karl Mickel, Richard Pietraß, Jürgen Rennert gebrauchen ihn häufig, ganz zu schweigen von Dichtern, die – Kahlau und Rennert finden sich unter ihnen – regelmäßig auch oder in erster Linie für Kinder schreiben.
Unter den Dichtern, die wie auch immer dem Reim die Treue halten, nimmt Pietraß jedoch einen besonderen Platz ein. Sein Gedicht „Der Ringende“, in dem Band Freiheitsmuseum kein Einzelbeispiel, ist durch einen doppelten, gegenläufigen Vorgang charakterisiert: Vernichtung und Auferstehung des Reims. Er wird kritisiert, insofern er aus seiner pointierten Stellung als Endreim verdrängt, gleichsam ins zweite Glied verwiesen wird. Dort aber behauptet er sich auf neue Weise. So wird dem Diktat des Reims, will er dem Dichter laut Arno Holz fremde Gedanken aufnötigen, entgangen; seiner klanglichen, rhythmischen und ideell bindenden Kraft aber versichert sich der Poet. Suggeriert wird, daß der Reim sich während des poetischen Sprechens wie von selbst einstellt. (Diesen Eindruck jedenfalls erweckt der fertige Text, wie das Gedicht tatsächlich entsteht, kann außer Betracht bleiben.) Poetisches Sprechen hat eine Mitteilung zum Ziel, die Informationen über einen Gegenstand, gesehen im Prisma der Erfahrungen des Dichters, seiner Gedanken und Gefühle, uns unterbreitet. Zum anderen erscheint in diesem Gedicht die Sprache gleichsam als Subjekt; vorgeführt wird, wie ein Text aus Sprache geboren wird, die Sätze und Satzteile spielen sich die Reime wie Bälle zu. Oder anders: Die Reime sind Knoten eines sprachlichen Netzes, in welchem sich Wirklichkeit fängt. Um die sprachartistische (Er)Findungsgabe des Lyrikers recht zu würdigen, genügt es freilich nicht, auf die „ganzen“ Reime hinzuweisen. Nicht minder sind es die „halben“, die Dichte und Haltbarkeit des poetischen Gewebes garantieren. Vielfach finden sich Alliterationen (Greift – tausendfingrig – Gruft; Höllengewittern vollendet – Himmelskessel verglüht; Glück und Glas – gerührten – Gas; schlagen – Schwächling), ebenso Assonanzen (Bett – Pech und Schwefel; Dampframmen des Straßenbaus; entfalten – asphaltnen; Raum – Ringeltaube – Holzauge).
Sprache bietet sich dar als spontaner und spielerischer Prozeß. Gleichwohl wird er von ideellen und metaphorischen Impulsen gesteuert. Der Baum, dessen Leben von den Abgasen des Verkehrs gefährdet wird, steht, pars pro toto, für die Natur. Ihre Existenz wird von der menschlichen Zivilisation bedroht, insofern diese sich – global gesehen – „naturwüchsig“, also ohne umfassende und menschlichen Bedürfnissen verpflichtete Planung entfaltet. Das heißt mit anderen Worten: Kapitalistisches Profitdenken und imperialistische Machtpolitik in allen ihren Erscheinungsformen sind die Hauptverursacher ökologischer Gefährdung des Planeten. Zwei von schrecklich vielen Beispielen seien notiert. Anfang des Jahres 1980 veröffentlichte das Außenministerium in Hanoi Untersuchungsergebnisse, nach denen über zwei Millionen Vietnamesen an den Folgen der chemischen Kriegsführung der USA gegen Vietnam leiden. Danach sind allein über Südvietnam mehr als 100.000 Tonnen chemische Kampfstoffe abgeworfen worden. 13.000 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Nutzfläche sowie 25.000 Quadratkilometer Wald wurden vernichtet. Das andere Beispiel: Im brasilianischen Amazonasgebiet entstehen in kapitalistischer Monokultur-Strategie riesige Rinderfarmen, an denen Multikonzerne wie Volkswagen, Anderson Clayton und Mitsubishi beteiligt sind. Die Auswirkungen dieses Projekts auf große Teile des Amazonaswaldes, der etwa zwanzig Prozent des gesamten Sauerstoffs der Erde liefert, sind heute noch nicht absehbar. Der Sozialismus ist zum einen in diese globalen Zusammenhänge einbezogen. Zum anderen sind im Hinblick auf den Umweltschutz, so groß die Anstrengungen auch sind, seine materiellen Möglichkeiten nicht unbegrenzt – gerade auch dadurch, daß er sich mit imperialistischer Hochrüstungspolitik konfrontiert sieht.
Und doch muß alles nur Mögliche getan werden, um jeden Baum zu schützen! Nicht oft genug kann man Marx’ Bemerkung aus dem dritten Band des Kapitals zitieren:

Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (als gute Familienväter – J. E.) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.

Zur Verbreitung solchen Bewußtseins will das Gedicht mit seinen Mitteln beitragen. Es macht Umweltschutz zur Sache auch jedes einzelnen, attackiert Leichtfertigkeit, Gedankenlosigkeit und Sorglosigkeit, regt uns an, unsere Bedürfnisse zu bedenken und zu überprüfen.
Eine Beobachtung, wie jeder, der wach seiner Umwelt begegnet, sie machen kann, mag der Anlaß des Gedichts gewesen sein. Zugleich wird das Bild des bedrohten Baums zum Gleichnis. Uralte poetisch-mythologische Vorstellungen tauchen auf. Für die germanische Mythologie der Edda ist das Universum ein Baum von gewaltigen Ausmaßen und wunderbaren Eigenschaften: Die immer grünende Weltesche Yggdrasil senkt ihre Wurzeln tief in die Erde und reckt ihre Krone bis zum Himmel, wo sie in einer Wolke von Licht schwimmt. Und nicht nur den christlich geprägten Kulturkreisen ist der dürre Baum Symbol des Todes, während der grüne Baum das Sinnbild des Lebens abgibt.
Vor diesem Hintergrund der Überlieferung wie des Wissens um die gegenwärtige Lebensbedrohung entfaltet sich das spielerisch anmutende Gedicht gleichwohl dramatisch. Das biblisch-apokalyptische Bildmaterial gemahnt an letzten entscheidenden Kampf und Weltende: Gruft – Pech und Schwefel – jüngste Wurzel (die Assoziation des jüngsten Tags stellt sich ein) – Krähen – Aas – Höllengewitter – Himmelskessel – Hochzeitskleid – asphaltnes Leichentuch.
Kontrastreich wird modernes Wortgut eingefügt: Kohlgas – Dampframme – Straßenbau – Zündkerzen. Der Gebrauch beziehungsweise die Andeutung von stehenden Redewendungen („Glück und Glas…“) schaffen auf andere Weise Hintergründigkeit. Das Wort vom „Holzauge“, mit dem das Gedicht schließt, bezeichnet zum einen ganz real das, was der Ringeltaube bleibt: Abfall. Der Baum ist Teil einer ökologischen Kette; wird er vernichtet, hat das weitreichende Folgen. Zum anderen ergänzen wir: „Holzauge, sei wachsam!“ – unpathetische Aufforderung an den Leser, sich seiner Verantwortung bewußt zu werden. Nicht vergessen sei die selbstkritisch-ironische Pointe, daß das Holz des geschlagenen Baumes das Papier liefert, auf welchem die Klage über ihn ertönt. So reimen sich in diesem Gedicht Freiheit und Gebundenheit, Spiel und Ernst. Wie in den ebenso strukturierten Gedichten „Freitisch“ und „Durch die Blume“ wird Natur, im Bewußtsein ihrer Gefährdung, in freier poetischer, gleichsam natürlicher Sprache besungen.

Jürgen Engler, neue deutsche literatur, Heft 8, August 1983

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