Jürgen Theobaldy: Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Die Ruhe auf der Flucht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „Die Ruhe auf der Flucht“ aus Wolfgang Hilbig: Die Territorien der Seele. –

 

 

 

 

WOLFGANG HILBIG

Die Ruhe auf der Flucht

warten –
aaaoh noch einmal einen abend ausruhn
vor der unendlichkeit der nacht
die uns mit allem vieh zu paaren treibt
und sich schon sammelt vor den abgestreiften schuhn…

reglos
aaaim angesicht der flut die bald erwacht
noch eine stunde sitzen auf dem mauerrand
stille im schädel und den fuß im sand
dem atem nachsehn der uns aus den lungen schwindet
dem zorn
aaadem gold das in den augen sichtbar bleibt
wenn die erschöpfung uns in dem entschluß verbindet
noch eine stunde vor dem dunklen ufer auszuruhn –

und dieses tags zu denken der zuletzt uns wärmte
des großen abends der uns unerschrocken sonnte
indes fernher ein kupferrotes lodern lärmte
und schon erlosch im riesengong der horizonte.

 

Im Niemandsland der Zeiten

Zwar ist die „unendlichkeit der nacht“ kaum noch sagbar, und dennoch weitet dieser Genitiv hier den Blick ins Offene, auf ein neues, zwischen Bangen und Zuversicht ersehntes Leben, für das die Flüchtenden nichts mitbringen außer ihren Erwartungen und ihrem Instinkt, zusammenzubleiben. Das Wort „reglos“ bricht den Rhythmus. Am Abend dämmert die Stunde der Anfechtung herauf, in der von neuem die Ungewißheit zunimmt über einen Entschluß, dessen Folgen kaum abzuwägen sind. Stille – hier eine harte Fügung. In der Weite, die das Gedicht schafft, rücken die, von denen es spricht, zueinander. Auch wenn es gleich nach dem ersten Wort abbricht, um scheinbar an derselben Stelle wieder einzusetzen: Das Gedicht hat einen großen Atem. Der ungeheure Hoffnungsraum, den es entwirft, ist erfüllt von der niedergehaltenen Unruhe der Flüchtenden.
Erst mit „dem atem“ beginnen die Verse zu strömen; in einer Parallelführung von Sprache und Geschehen gleiten sie über das Ende des Einschubs hinweg, das die Grenze im Gedicht bildet, und münden in die letzte Strophe. Diese wirkt als einzige in sich geschlossen. Das Imperfekt gibt ihr den Charakter eines Rückblicks. Kein Reim aus den beiden vorangegangenen, auch im Schriftbild gebrochenen Strophen reicht da hinein. Metrum und Rhythmus sind regelmäßig, die unbetonten Versschlüsse klingen weich, und die Zäsuren innerhalb der Trimeter werden zum Ende des Gedichts hin merklich schwächer.
Es ist ein Kunstgriff, mit dem Wolfgang Hilbig nicht nur einen nostalgischen Ausklang verhindert. Der Auftakt „warten“ erschließt viel Raum, auch Zeitraum, die Parenthese holt den vergangenen Moment des Innehaltens in die Gegenwart des Gedenkens. Das Ziel der Flüchtenden war nicht, wie noch für Brecht, „in großer Ferne… deutlich sichtbar“ – den Nachgeborenen war es ein „dunkles ufer“, aber zu erreichen. Hilbig, der 1941 in Meuselwitz (Thüringen) zur Welt kam, in einer Bergarbeiterfamilie aufwuchs und seit 1985 im Westen lebt, kehrt Brechts Perspektive um; er richtet den Blick auf den Weg, an dessen Ende die Ernüchterung gewartet hat. Der Aufbruch, die Erregung unterwegs, der Tag vor der Ankunft: Dies war’s, was „wärmte“.
Sicher lese ich das vor vier Jahren geschriebene Gedicht unter dem Eindruck der aufwühlenden Ereignisse in der DDR heute. Es ist ein Abendlied, das von der Glut des Sonnenuntergangs singt und das nicht besänftigen will. Statt der Abendglocken erklingt der „riesengong der horizonte“. Noch ist unentschieden, ob dieses Echo einer Menschheitsdämmerung eine epochale Umwälzung oder eine Katastrophe angekündigt hat. Das Kollektiv hier spricht von sich nur in dem passiv getönten „uns“. Von einem solchen „uns“ erwartet man eher, daß ihm etwas zustößt, als daß es die Lage beherrscht. Ausruhen, Atem holen, die Stille wirken lassen – in dem teils erschöpften, teils überwachten Zustand, in dem man seinen einstigen Träumen nachsinnt: gefaßt auf das, was aus ihnen noch werden könnte.

Jürgen Theobaldyaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991

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