Jürgen Zenke: Zu Günter Eichs Gedicht „Inventur“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Inventur“ aus Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 1: Die Gedichte. Die Maulwürfe. 

 

 

 

 

GÜNTER EICH 

Inventur 

Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.

Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.

Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.

Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,

so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.

Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.

Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.

 

Poetische Ordnung als Ortung des Poeten

Das Nichts zwingt zur Schöpfung.
Eich: Notizen

Ein Kriegsgefangener benennt seine kostbaren Habseligkeiten: Wer ein Beispiel dafür suchte, daß selbst ,naive‘ Gedichte, die ungekünstelt bis zum Verdacht der Kunstlosigkeit wirken, nicht notwendig unmittelbar zum Leser sprechen, der könnte aus heutiger Sicht auch diese Strophen anführen, obwohl sie zu den berühmtesten der deutschen Nachkriegslyrik zählen und sich eine ganze Generation aus ähnlicher Erfahrung damit identifizieren konnte. Die erneute Begegnung mit dem offenbar jedermann vertrauten Gedicht steht im Zeichen einer unerwarteten Befangenheit, die sich schon durch die (literar-)historische Etikettierung einstellt. Gilt doch „Inventur“ noch vor anderen Lagergedichten Günter Eichs geradezu als Inbegriff von „Kahlschlag-Literatur“ aus dem „Jahre Null“, wenngleich diese Begriffe im Hinblick auf ungebrochene Traditionen nach dem Krieg längst als revisionsbedürftig erkannt worden sind. Seine Wirkungsmöglichkeit wäre dann auf sehr wenige Nachkriegsjahre begrenzt – ein Schicksal vieler Zeitgedichte. Schon für die Jahre des „Wirtschaftswunders“ läßt sich nur noch angenehmes Gruseln und das erleichterte Kontrastgefühl ,Wir sind wieder wer‘ vorstellen. Heute scheint eine ausschließlich historisierende Deutung des Gedichts als Dokument einer längst vergangenen und verdrängten Zeit der Bedürftigkeit und selbstverschuldeten nationalen Demütigung nach der bedingungslosen Kapitulation unvermeidlich. Oder was könnte den Leser einer Überflußgesellschaft mehr befremden als die liebevolle Verwaltung des Mangels bei Eich?
Sollten wir das Gedicht deshalb kurz entschlossen aus seinem Kontext lösen und als Variation über das heutige Problem der ,wahren Bedürfnisse‘, als Appell zur Rückbesinnung auf das Notwendige angesichts der „Grenzen des Wachstums“ verstehen? Immerhin hat man es als Kontrafaktur auf das behagliche Lob spießbürgerlicher Saturiertheit in dem formal eng verwandten Rollengedicht „Jean Baptiste Chardin“ von Richard Weiner gedeutet (Neumann, S. 63), in dem es etwa heißt:

Hier ist mein Wedgewood,
Dort ist mein Sèvres,
Das lustige Bildchen,
Fragos Geschenk.

Doch hat Eich die Kenntnis dieses ,Vorläufers‘ ausdrücklich bestritten. Solange ein bewußt parodistischer Rückbezug darauf nicht zu beweisen ist, sollte man den Sinn von „Inventur“ nicht durch modische Spekulationen verstellen, etwa mit der Behauptung:

Der Prozeß der Verdinglichung [im Spätkapitalismus] ist total in der Situation des Gefangenen. (Müller-Hanpft, S. 38)

Konsum- und Ideologiekritik haben andere Voraussetzungen als die von Eich 1945/46 in amerikanischer Gefangenschaft am eigenen Leibe erfahrenen Entbehrungen. Zurückhaltung mit solchen Interpretationen gebietet schon der Respekt vor dem Autor, der sich zeitlebens jeder vordergründigen Vereinnahmung für ,Zwecke‘ entzogen hat.
Ratlosigkeit mag den Leser auch bei der Gattungszuordnung befallen. Die Berühmtheit dieser Verse ist keine Antwort auf die schlichte Frage: Ist das denn überhaupt ein Gedicht?
Mehr als Strophenform und Metrum scheinen auf den ersten Blick nicht dafür zu sprechen. Zwar ist Reimlosigkeit, zumal im 20. Jahrhundert, kein ausschließendes Kriterium, doch was könnte prosaischer sein als ein Text, dessen Sprache so konsequent jeder Bildlichkeit enträt, der schon im Titel Kaufmannsroutine ankündigt und dann mit der Auflistung beziehungs- und eigenschaftsloser Dinge auch zu praktizieren scheint? Nicht einmal die Substantive „brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug“, wie Gottfried Benn sie in den „Problemen der Lyrik“ feiert (S. 513); statt dessen „Kargwort neben Kargwort“, wie es in Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Müllabfuhr“ programmatisch heißt.
Die durch solche Zweifel provozierte genauere Betrachtung enthüllt jedoch eine bisher übersehene konstitutive Spannung zwischen prosaischer Inventarisierung und lyrischem Rhythmus, zwischen scheinbar beliebiger Addition und kunstvollem Bau.
Metrisch haben die Strophen mit ihren jeweils vier zweihebigen Versen einen deutlich liedartigen Charakter, wie er uns etwa aus dem Volkslied „Die Gedanken sind frei“, dem geistlichen Lied „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod“ oder Goethes „Mailied“ vertraut ist. Das gilt besonders für die Zeilen mit Auftakt und weiblicher Kadenz, obwohl Schillers „Punschlied“ auch auftaktlose zweihebige Verse mit männlicher Kadenz als kantabel vorführt. Frei von strophischer Begrenzung begegnet uns dieser Verstyp häufiger in Dithyramben (etwa bei Schiller und Nietzsche), in Oden und Hymnen (z.B. Goethes großen Hymnen der ersten Weimarer Jahre). Die rhythmische Gestaltung variiert in diesen Gattungen stärker, doch stellt sich bei doppelter Senkung in der Versmitte häufig ein tanzender Rhythmus ein, der den Dithyrambus seit seinen Ursprüngen auszeichnet. Da nun in Günter Eichs „Inventur“ solche Verse mit doppelter Senkung in der Mitte dominieren, gleichzeitig aber der Endreim des Liedes ausgespart ist, wird man das Gedicht zwischen beiden Formtraditionen beheimatet sehen müssen. Acht weitere Gedichte der Sammlung Abgelegene Gehöfte, die wohl ebenfalls 1945/46 entstanden sind, folgen dem gleichen metrischen und strophischen Prinzip, sind allerdings durchweg gereimt; „Die Orgel der Sümpfe“ besteht aus zweihebigen Versen ohne strophische Gliederung. Auch vier chinesische Gedichte hat Eich 1949 bis 1951 in vierzeilige Strophen mit vorwiegend zwei Hebungen übertragen: „Klage“, „Ein Sommertag“, „Frühlingsnacht“ und „Kurze Rast am Ufer“ – das erste davon als Exilgedicht einer Königin auch thematisch und sprachlich mit „Inventur“ verwandt:

Ein Zeltdach ist meine Wohnung,
Aus Filz sind die Wände.
Rohes Fleisch muß ich essen,
Stutenmilch ist mein Getränk.

Das läßt für die ersten Nachkriegsjahre auf seine erhebliche Wertschätzung dieser Form schließen, die er in den folgenden Sammlungen aufgibt, wie seit den fünfziger Jahren auch andere einfache gereimte Strophenformen, vor allem die Volksliedstrophe, weil ihm die traditionellen lyrischen Sageweisen von Reim, Strophe und Metapher zunehmend verdächtig werden und ihn alles zur zeichenhaften Abbreviatur drängt.
Die rhythmische Ausgestaltung dieses Versmaßes in „Inventur“ zeigt eine – naturgemäß subtile – Doppelfunktion. Daß genau die Hälfte der 28 Verse auftaktlos einsetzt, mag noch als bloßer Zufall abgetan werden, obwohl Eichs Formsinn nicht unterschätzt werden sollte. Daß davon wiederum die Hälfte – was der Strophenzahl entspricht – den dreiteiligen Aufbau des Gedichts mitakzentuiert, könnte immer noch belanglos erscheinen. Denn die rahmende Funktion der beiden Eckstrophen wird auch ohne den kräftig-bestimmten Einsatz der drei ersten und vier letzten Verse syntaktisch augenfällig durch die anaphorische Reihung syntaktisch parallel gebauter, deiktischer Hauptsätze, die den vom Titel geweckten Erwartungen in ihrer schmucklosen Statik vollauf gerecht werden – Eigenschaften der Dinge ,zählen‘ schließlich nicht bei einer Inventur, und der Zusammenfall von Ding-, Satz- und Zeilenende fördert gewiß die solchem Vorhaben nützliche Übersicht.
Wenn indessen die eine Hälfte der auftaktlosen Verse so offenkundig eine Sonderstellung einnimmt, richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf die andere Hälfte. Diese sieben Verse verteilen sich unregelmäßig über die fünf ,Binnenstrophen‘, akzentuieren also nicht den Bau des Gedichts, sind dafür aber Zeilen von so zentraler Bedeutung wie „Tags schreibt sie mir Verse“ (23) und „lieb ich am meisten“ (22), vorenthaltener Bedeutung wie „niemand verrate“ (16) oder unerwartet und rätselhaft emphatischer Wertung wie „kostbaren Nagel“ (10) mit den zwei folgenden Zeilen. Die zunächst unauffällige Zeile „nachts meinem Kopf“ (18) wird offenbar rhythmisch vorausdeutend auf die ebenfalls nachts „erdachten“ (24) Verse herausgehoben. Die Versuchung liegt nahe, als geheimen Fluchtpunkt für diese sieben Verse das ,Schreiben‘ des Ich anzunehmen, ohne deswegen im Umkehrschluß alle Verse mit Auftakt als mutmaßlich zweitrangig aus den Augen zu verlieren. (Das verbietet sich für die Eckverse der vorletzten Strophe ohnehin.) Stützen könnte sich diese Vermutung auch auf eine parallele rhythmische Besonderheit. Insgesamt dreimal realisieren wir bei sinnakzentuierter Lesung eine dreisilbige Senkung statt einer ein- oder zweisilbigen in der Versmitte. Dadurch wird noch einmal die Bedeutung der Zeile „Tags schreibt sie mir Verse“ hervorgehoben, zum andern in den Anfangszeilen der Eckstrophen die Rahmung zusätzlich betont. Auch hier also eine – parallele – Doppelfunktion rhythmischer Elemente.
Die quantitative Verteilungssymmetrie rhythmischer Besonderheiten auf Rahmen- und Binnenstrophen lenkt den Blick auf eine analoge Symmetrie des Kontrasts zwischen expliziter Inventur in den Rahmenstrophen und verdeckter Bestandsaufnahme in der mittleren Strophe, gleichsam der Symmetrieachse, die übrigens auch als einzige einen zweisilbigen Auftakt enthält. Hier liegen neben wollenen Socken andere, geheime Kostbarkeiten. Sieht man die Parallelität der verbergenden Geste als vorausdeutenden Hinweis an, so kann „einiges“ (15) sich nur auf etwas beziehen, das wie der „kostbare“ Nagel mit dem Schreiben zu tun hat; und als das „es“ (also nicht der Brotbeutel), das nachts dem Verse erdenkenden Kopf zum Kissen dient (17f.), müßte im Zentrum des Gedichts das auch vor dem Leser sorgsam gehütete Geheimnis des Dichtens stehen, eines Dichtens, das im Bann so prosaischer Dinge wie der wollenen Socken geschieht, die in schlechten Zeiten ebenso materiell wichtig sind wie als Gegenstand für Lyrik in schlechten Zeiten, um ein bekanntes Gedicht Bertolt Brechts abgewandelt zu zitieren.
Die kompositorische Spannung zwischen Rahmen- und Binnenstruktur tritt auch auf der Ebene von Lautung und Klang der Verse in Erscheinung. Deutet schon die bis zur mittleren Strophe gleichmäßig zunehmende, dort kulminierende und wiederum allmählich abnehmende Tendenz zur Verschleifung der strengen Zeilenzäsur durch Enjambements auf ein, wenn auch verhaltenes, rhythmisch-musikalisches Crescendo und Decrescendo des Sprechens, so findet dies eine – nicht so streng symmetrische – Entsprechung in der Verwendung der Vokale und Konsonanten. Die gruppierende Funktion des Endreims ist weitgehend dem Stabreim übertragen. (Dies gilt, wenn man jede Strophe als Äquivalent zweier germanischer Langzeilen auffaßt.) Durch konsonantische Alliteration vor allem am Ende der jeweils ersten beiden ,Kurzzeilen‘ werden die Einsätze der Strophen 1, 2, 4, 5 und 6 markiert: „Mütze“/„Mantel“, „büchse“/„Becher“ usf. Vokalische Harmonien bestimmen das Klangbild sämtlicher Strophen. Im Kontrast zur Dominanz der hellen Vokale, vor allem auf i bzw. ie, in den Eckstrophen fällt das Auf- und Wieder-Abklingen der dunklen auf a und o in den Binnenstrophen 2, 4 und 6 auf: „hab“/„Namen“: „Brot-“/„wollene Socken“; „was“/„verrate“: „Tags“/„nachts“/„erdacht“. Auch unabhängig von der Gleichlautung werden die betonten Vokale zur Mittelstrophe hin immer dunkler, gleichsam ,wärmer‘, und danach wieder heller. So erscheint die Mittelstrophe abermals als Höhepunkt des lyrischen Sprechens.
Diese Beobachtungen zur lyrischen Struktur weisen demnach auf eine dreigliedrige Komposition, die das Thema „Inventur“ in der ersten Strophe mit bauendem Rhythmus anschlägt, in den folgenden fünf Strophen rhythmisch fließend ,durchführt‘ und mit einer Reprise der thematischen und formalen Elemente in der letzten Strophe ausklingen läßt. Die Durchführung kulminiert rhythmisch und klanglich in der mittleren Strophe und verarbeitet dabei ein zweites Thema: das Schreiben des Ich, das in der zweiten Strophe auf scheppernder Grundlage (lautmalend: „Konservenbüchse“/„Teller“/„Becher“/„-blech“) mit einer schrill quietschenden Signatur beginnt (ebenso lautmalend: „geritzt hier mit diesem“), die noch ganz an den prägenden Klang des Themas gemahnt, dann aber zu gelösteren Klängen und Formen findet, so daß die inhaltliche Steigerung zu den in der vorletzten Strophe genannten Versen auch in der Sprache der Verse selbst glaubhaft wird. „Die Macht der Gedichte“, „Der Zauber der Verse“ sind nicht mehr „im Hunger vergessen“, wie es in einem anderen Gedicht aus dem Komplex „Gefangenschaft“ heißt (I, 32), sondern erscheinen unter den ,Aktiva‘ der „Stunde Null“. Vielleicht enthält der für diese Jahre ungewöhnliche Gebrauch des Stabreims bereits einen metaphorischen Hinweis auf fast verschüttete Anfänge des Dichtens. Aus der Inventur erwächst die Kraft zur Invention.
Eine Formuntersuchung, die allen Feinheiten dieses Gedichts gerecht werden wollte, hätte auch z.B. auf reihende oder chiastische Klangstrukturen zu achten, etwa: „mein Teller“/„mein Becher“; „begehrlichen“/„berge“; „Notizbuch“/„Zeltbahn“; „was ich niemand“; „Bleistiftmine“/„lieb […] meisten“. Auch solche verborgenen, über die Nützlichkeit hinausreichenden Beziehungen tragen zur poetischen Ordnung der Dinge in den Binnenstrophen bei, wo die schrumpfende Zahl der wahrgenommenen Gegenstände dafür Raum eröffnet.
Wer solche Beobachtungen für formalistische Pedanterie hält, mag sich durch jenen Brief Günter Eichs eines anderen belehrt sehen, aus dem ein Jahr nach Veröffentlichung der Abgelegenen Gehöfte Alfred Andersch zitiert:

Die Korrespondenz eines Doppelkonsonanten in der ersten Zeile mit einem in der zweiten kann entscheidender sein als der Gefühls- oder Gedankeninhalt. (S. 150)

Noch zehn Jahre später rühmt er in einer Gedichtrezension den „Rhythmus“, „den Kunstverstand in der Reimanordnung und im Spiel der Vokale und Konsonanten“ (IV, 431). In einem Diskussionsbeitrag aus dem Jahre 1949 faßt er zusammen: 

Literatur, wenn sie nicht Reportage und Unterhaltungsroman bleiben will, wird erst wesentlich und wirksam, wenn sie Form gewinnt, d.h. über das Dargestellte hinaus gültig ist. […] Entscheidend scheint mir die Genauigkeit […] Stil ist kein Schlafpulver, sondern ein Explosivstoff. (IV, 395) 

Daß „Inventur“ dank seiner Form einen Anspruch auf Bedeutung und Wirksamkeit als deutsches Nachkriegsgedicht erheben kann, nicht etwa kraft einer rein inhaltlich trivialen Inventarisierung, die allererst einen ,explosiven‘, d.h. spannungsreich und unerwartet poetischen Ausdruck finden mußte, hoffe ich gezeigt zu haben.
Eich ist mit derselben Elle zu messen, die er 1949 an den damals in Deutschland gerade entdeckten Hemingway anlegt: „sein kunstvoller, ja raffinierter Stil ist nicht aus dem Journalismus ableitbar“ (IV, 395 f.), das heißt: stilistisches Raffinement zeigt sich auch darin, daß es sich hinter der Oberfläche des Faktischen zu verbergen weiß und sich nicht aufdrängt wie das ,lyrische‘ Raunen eines ,falschen Tiefsinns‘.
Daß Eich damit keiner apolitischen Ästhetisierung der Nachkriegswirklichkeit das Wort redet, geht bereits aus seiner Situationsbeschreibung des Schriftstellers Anno 1947 unmißverständlich hervor: die Aufgabe habe sich „vom Ästhetischen zum Politischen gewandelt“, fern „jeder unverbindlichen Dekoration, fern aller Verschönerung des Daseins“ (IV, 393).
Damit plädiert er nicht für unmittelbar politisch eingreifende Literatur, sondern für die Trennschärfe ihrer Wirklichkeitswahrnehmung als Ausdruck ihrer inneren „Wahrheit“ und letztlich als Grundstein einer „Ethik“. Für einen Nachfahren der romantischen Dichtungstradition, der Eich in seinen Anfängen zu Beginn der dreißiger Jahre war, heißt das auch: die Natur hat aufgehört, poetisches Reservat zu sein; statt des Posthorns tönt Eimerklappern durch den Wald: 

[…] dort werden Reisig und Zapfen gesammelt, nicht weil es poetisch ist, sondern weil es keine Kohlen gibt; Aufforstung und Abholzung, statistische Zahlen und eine Ziffer im Haushaltsplan, – so trockene Dinge können bedeutender sein als die subtilen Gefühle, die der Spaziergänger beim Einatmen des Tannenduftes hat. Ich will nicht sagen, daß es keine Schönheit gibt, aber sie setzt Wahrheit voraus. (IV, 393f.) 

Statistik als zeitgemäße Voraussetzung der Schönheit – dieses literarische Programm hat in „Inventur“ Gestalt gewonnen. Exemplarisch steht das Gedicht damit auch für die kurze „Epoche“ des „Kahlschlags“, die Wolfgang Weyrauch 1949 so beschreibt: 

[…] die Kahlschlägler fangen in Sprache, Substanz und Konzeption, von vorn an […] bei der Addition der Teile und Teilchen der Handlung, beim A-B-C der Sätze und Wörter […] Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. (S. 214ff.) 

Für „Inventur“ wäre zu modifizieren: um den Preis lediglich der poetischen Worte. 1951 fordert Benn in dem Vortrag „Probleme der Lyrik“:

Lassen wir das Höhere, […] bleiben wir empirisch. […] dies ist deine Stunde, schreite ihre Grenzen ab, prüfe ihre Bestände, wabere nicht ins Allgemeine. (S. 520)

Noch 1956 gesteht Eich:

Ich bin über das Dingwort noch nicht hinaus. Ich befinde mich in der Lage eines Kindes, das Baum, Mond, Berg sagt und sich so orientiert.

Zu dieser Orientierung in der Wirklichkeit seien ihm Gedichte „trigonometrische Punkte“, durch die sich die Wirklichkeit überhaupt erst für ihn herstelle (IV, 441f.). Hier hat die umfassendere Erkenntnisskepsis des späteren Eich das Erbe des zeitbedingten Kargheitspostulats angetreten.
Kein ,Dinggedicht‘ im Sinne Rilkes also, für den es galt, den „Gegenständen gegenüber dazusein, still, aufmerksam, als ein Seiendes, Schauendes, Um-sich-nicht-Besorgtes“, wie er aus Toledo schreibt; alles andere auch als ein Fall von ,Verdinglichung‘, denn die Dinge haben hier sämtlich einen praktischen Wert, eine Funktion. Und schon der Funktionswandel des „kostbaren“ Nagels vom besitzanzeigenden Instrument zum Werkzeug, das die Identitätssuche einüben hilft, zeigt: Das ,Haben‘ hat das ,Sein‘ noch nicht verdrängt, sondern ermöglicht es allererst, bildet den Rahmen, innerhalb dessen das Ich seine ersten tastenden Erkundungsschritte macht, um sich selbst im rückwärtigen Schnittpunkt der deiktischen Verweisungslinien zu orten, und zwar als einen Dichter eben jener Dinge, die mehr als nur funktionalen Wert haben. Zwischen ihnen stiftet das Ich bereits jene musikalisch-tektonischen Beziehungen, die ihm die Gewißheit verschaffen: Ich dichte, also bin ich. (Man vergleiche hierzu Krolows Gedicht „Sich vergewissern“.) Das ist nicht triumphal zu verstehen, sondern vielleicht als extreme Form von Notwehr. Eich hat für seinen Fronteinsatz als eiserne Reserve vorher Gedichte auswendig gelernt, und ohne Einschränkung gilt auch für ihn die Feststellung Ilse Aichingers, seiner späteren Frau:

Form ist nie aus dem Gefühl der Sicherheit entstanden, sondern immer im Angesicht des Endes. (S. 1)

Auch wenn ihm in seinen frühen Gedichten die verschweigende, verbergende Sprache nicht immer glückt, die er sich 1962 wünscht (IV, 307), so gelingt ihm vielleicht, um es mit einem Vers von Karl Krolow zu sagen, der „Sieg der Ellipse /  über den Tod“, zumindest den Tod der Poesie.

1

Jürgen Zenke, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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