Jürgen Brôcan: Antidot

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jürgen Brôcan: Antidot

Brôcan-Antidot

DIE DECKE

Eine der letzten Photographien
zeigt ihn in seinem Garten,
kaum von den Bäumen zu unterscheiden,
astkrumm, rindengraue Haare,
mit den Gedanken tief in der Erde,
die mit ihm gemeinsam taub
wurde fürs Vogelgeschrei.
Auf einem anderen Photo sammeln sich
Lichtkristalle am Schreibtischfenster,
davor Bücher, Stifte, Brillenetuis, Topf-
pflanzen: Ausbruchsversuche
aus dem Verwunschenen.
Ein drittes Photo verrät seinen Ruheplatz,
über dem Worte und Erinnerungen
hingen, nicht gesünder
als der Zigarettenqualm. Dort
kamen viele Gedichte auf die Welt,
auf Großvaters Bockdecke,
die ihn warm hielt bei den Kutschfahrten
durch andere Zeiten, ausgebleicht,
zerschlissen, bis das Gewebe
die Machart preisgab, seine Falten
wie der Wellengang vor Suffolks Küste.
Diese Photos gehören zusammen,
man müßte wohl die Bäume
befragen, wie.

(In memoriam: Michael Hamburger, 1924–2007)

 

Jürgen Brôcan liest aus seinem neuen Gedichtband Antidot

 

 

Widerstand gegen die Linie

− Zu den Gedichten von Jürgen Brôcan. −

Die Linie ist eine Verbindung zweier Punkte, die über diese Punkte hinaus ins Unendliche zielt, aber auch die Strecke zwischen den Punkten geht ins Unendliche und sei, meint Pascal, genau das, was uns unverständlich bliebe. Diese Richtung der Unendlichkeit könnten wir kaum akzeptieren, denn alles Unendliche schiene uns einzig unendlich groß. Ausgangspunkt: Der Garten. Die Welt. Ein Haus, ein Häuschen in Dortmund, von fern, von sehr fern klingen die Fangesänge der Borussia herüber, und eigentlich nur, wenn man von ihnen weiß. Eine Wand voller Bücher. Ein Kater. Geschichte. Die Kamera zoomt sich heran, aus dem Weltall, geht in die Tiefe, geht in die Einzelheit, kommt ins Stocken. Kommt an die Grenze ihrer eigenen Technik, daß eben nicht alles Film ist, auch das Auseinandertreiben der Dinge nicht. Brôcan impft das Gegengift ein.
Ausgangspunkt sei also ein Punkt, der die Unendlichkeit herausfordert und aufhebt, der für die Endlichkeit des Moments, die Hirnforschung mißt ihn in Nanosekunden, die Zeit stillstellt. Und aus diesem Stocken heraus beginnt das Zählwerk von neuem die Zeit zu verzeichnen.

Anfang und Ziel lange schon außer Betrieb, eine Strecke,
die zu nichts führt, nichts bringt, museales Fragment,
eingelagert in Anfangswildnis, auf den Schwellen
gelbe Schleimpilze, Schneckenspuren, leuchtend wie Fiberglas,
(„Zur Wannenbrücke“)

Brôcans Gedichte fangen dort an, wo etwas aufhört, aufgehört hat, wo Zeit, dieses fragwürdige Phänomen, das Gott, wie von Ockham schreibt, dem Menschen zur Seite stellte, damit er in der Unendlichkeit nicht verzweifle, außer Kraft gesetzt ist. Denn Zeit ist Bewegung. Es sind die zwei Dimensionen, die angeblich alles umfassen, die den Raum schaffen und ihn in sich zu einem Ende bringen. Wenn wir in die Weite schauen, schauen wir in der Zeit zurück. Wir sind von Zeitkreisen eingehüllt, gefangen, könnte man meinen. Aber:

DIE KOLLABIERTE ZEIT

Im Suchkegel des Augenlichts die kollabierte Zeit −

aus dem Struppicht an Rändern stark befahrener Straßen,
von zuviel Gegenwart verdrängt,      
auskling-

ende Materie:      Walrippen einer Scheune,
die Dauer ihres Verwesens länger als die ihres Verweilens,

oder zwischen den Schonfristen der Häuser
ein Hochbunker, Scharten & Schroffen, von denen

Luftschnäpper (Elstern u.a.)
sich ins wehende Element stürzen −

Umzweigungen, glyphisches Kraut.
Moos: Grab der Steine,
Canto fiorito der Dächer.

Genau hier sitzt Brôcan. Wie die amerikanischen Pioniere kann er Gefangenschaft nicht akzeptieren. Keine räumliche, aber auch die eines Metrums nicht. Brôcan macht sich auf den Weg nach innen. Schärft die Wahrnehmung. Dort wo die Technik versagt, wo sie als tradiertes, gegenständlich gewordenes Vermögen aufgibt, beginnt Brôcan, indem er einen Imaginationsraum öffnet. Die Technik verfeinert. Deshalb wohl läßt er sich auch nicht auf eine einheitliche Form bringen. Denn uns umgibt ein Ensemble. Punkte und Sprachen. Fachsprachen, Flächen, Dialekte, Soziolekte, die dem Dichter nicht nur Dekoration oder Bildungsornament sein wollen, sondern Anwendungen, Körper, und als solche ernst genommen.
Und so geht er in der Zeit zurück. Trifft historisch gewordene Gestalten. Nichts, was war, ist zu den Akten gelegt. In allem pulst Gegenwärtiges. Um den Ausgangspunkt ergeht sich von überall sternförmig das Universum. Und so ist es, nach Brôcan, zu denken: In jeder Hinsicht unendlich. Brôcan sucht nach Ähnlichkeiten in der Literatur der Geschichte, zum Teil in Montagen von Originalzitaten, um Heutiges durch Früheres zu erhellen: durchlässige Zeitschichten.
Und jene Durchlässigkeit ermöglicht ein fast anarchisches Nebeneinander, das jegliche Hierarchie aufhebt. Man kann sagen, hier dichtet einer, der Whitman gut kennt und andere Amerikaner, die der Freiheit eine Tradition gestiftet haben. Klar kennt er sie, hat er doch nicht wenige von ihnen ins Deutsche gebracht, nicht zuletzt Whitmans Mammutwerk Grasblätter, das eine Ankündigung von Weltdichtung ist. Und in dieser Weltdichtung hat alles Platz, sogar oder gerade ein Gedicht über den Fußballtorwart Jens Lehmann, der von 1999 bis 2003 129 Mal den Dortmunder Kasten hütete.

(wohl auch die Bewegung
eines kleinen Balls auf einem

größeren, schnelleren: (es
sei der Geruch nach einem

selbst −

Brôcans Welt ist nämlich ähnlich der Whitmans in jeder Hinsicht demokratisch verfaßt. Das macht seine Dichtung politisch. Nicht also, weil sie sich im Appellativen ergeht, sondern weil sie genau hinsieht. Und weil sie die Dinge nicht aufgibt, was auch passiert.

Jan Kuhlbrodt, Nachwort, 2012

 

Jürgen Brôcan huldigt Walt Whitmann und Nelly Sachs

Der Dortmunder Jürgen Brôcan erkundet vergessene Orte. Wo alte Industriebauten vor sich hin rosten, ist sein Revier. „Bunkerfarbenes“ beherrscht die Szene: Aber nichts ist endgültig, alles bewegt sich. Anstatt mit der Lupe durch den Rost zu kriechen, holt Brôcan per „Wörterzoom“ Erscheinungen heran: eine „Bienenkonferenz“ zwischen Labkraut und Gerümpel etwa oder die antike Figur des Orest, der gerade auf den honigtriefenden Berg Hymettos steigt, schließlich die funkelnden Lichtkristalle am Schreibtischfenster des 2007 gestorbenen Dichters Michael Hamburger, so wie sie dokumentiert sind auf letzten Fotografien.
Dinge wie eine ausgebleichte Decke dienten einst als Ausgangpunkt für „Kutschfahrten durch alle Zeiten“. Ein achtsameres „in memoriam“ als dieses ist kaum denkbar. Das Motiv des Poeten kurz vor dem letzten Atemzug kommt im Gedicht über Walt Whitman und dessen letzten Wohnadresse: „328 Mickle Street, Camden“ wiederholt in einem empathischen und zugleich nüchternen Ton zur Sprache – eine Hommage an das Leben und ein Gegengift gegen Vergänglichkeit. Gewagte fiktive Monologe weisen auf größere historische Zusammenhänge.
Im fünften Lyrikband des Übersetzers und Herausgebers Brôcan weht der Geist der Literatur – in Widmungen, Anklängen an überwiegend amerikanische Poesie und in wörtlichen Zitaten, unter anderem von Nelly Sachs.
Gelegentlich komponiert er – wie im Falle John Ruskin – aus einzelnen Gedichtzeilen anderer Dichter etwas Neues. Der Dichter als Pirat? Viel Philosophisches, Botanisches, Kunst- und Kultur- und Geschichtswissen ist in den Versen aufgehoben oder als Material in den angehängten Anmerkungen verstaut. Mal sprengt es die Form, mal fügt es sich zu einem anregenden Text, der Geschichte, Gesellschaftskritik und fantastische Erfindung vereint.

Dorothea von Törne, Die Welt, 7.7.2012

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Rainer Strobelt: Untergänge, Übergänge
fixpoetry.com,  25.8.2012

 

AUWALD
(für Jürgen Brôcan)

Nehmen wir an,
es sei Leipzig, und hier ein Stadtteil
mit angrenzendem Dickicht;
dem größten Auwaldgebiet im Herzen Europas.
auch das schon Produkt früher Besiedlung und der Erlaubnis
zur Entnahme von Holzbruch
aaaaaaaaaaaaaus der Landschaft
aaaaaaaaaaaaaaaaaaazur eigenen Nutzung
Und wenn die Flut ausblieb, wurde zweimal im Jahr künstlich geflutet.

Ein Staubecken voll Paddler, Reiher und Kajaks.
Motorbootfahrer mit Megaphon
geben die Schläge vor.
Wer wollte angesichts dieser krautigen Ufer
am Fluss von Gestade sprechen?
Zeitfluss und Zeitsaum. Wann etwas begann,
ist immer nur Hypothese.

Olympioniken im Kanu
Holzbruch, Schwemmgut, Nutzung, privat, Auwaldgebiet, Herz.
Worte wie Thesen, Worte wie Weichholz, Worte wie Worte
TRUG PRIVATEN CHARAKTER
Worte sind immer Worte gewesen

Er rührte an den Schlaf der Welt mit Worten, die Blitze waren
sie kamen auf Schienen und Flüssen daher, durch alle Länder gefahren.

aaaaaaKommunistische Variante der Genesis.
Eisenbahnfortschritt. List entwarf eine Strecke von Dresden nach Leipzig
Knotenpunkt, Mittelpunkt. Bahnsteigkarten kannte ich
nur aus Erzählungen und einem Leninzitat

Warum bitteschön sollte man noch eine Bahnsteigkarte kaufen
wenn die Revolution ohnehin ausbleibt?
Und wenn man in getönten Scheiben des Schnellzug immer nur
das eigene Gesicht sieht, unter dem die Fenster hinweggleiten.
Die Sprache folgt der Industrialisierung nach. Holzpflaster
verschwindet nur langsam. Hält sich
dort wo in Gulliedeckeln alte Straße zitiert wird
noch an die hundert Jahre.

Tripp Trapp Tripp Trapp

Zwischen Augsburg und München liegen wenige Kilometer. Zwei Tage
Fußmarsch für eine erschöpfte Armee. Entlang einer Bahnstrecke
Ausgangspunkt Fuggerstadt und beginnender Sozialbau.
Wohnungen praktisch und übersichtlich wie Nomadenzelte
Wer aber wollte beim Zustand der Welt an Schlaf denken?
Wen man da rütteln musste, der war bereits tot.
Kein Auge zu öffnen und andere
gingen offenen Auges der Zukunft entgegen.
Kein Schlaf und der Alptraum kein Traum.

Wir zogen in diesen Stadtteil in Leipzig vor allem der Kinder wegen.
Eisvögel, Gimpel, Spaziergänger, hin und wieder ein Reh.
Im Frühjahr durchwabert Geruch wie Knoblauch die Straßen
Ein Knoblauchgeruch der dickblättrigen Kräutern entströmt.
Bärlauch, ach Bärlauch, klingt es ab März wie eine Verheißung
Bald werden sich die Pflanzen ergeben und weiße Blüten hissen
dem Kräutersammler mit seinem Körben still sich unterwerfen.
Kennern des Essbaren und dem Zeitpunkt problemfreien Genusses

Anarchisten auf Abwegen hundert Jahre zu spät? Eher nicht.
Gespräch zweier Frau’n um die dreißig, Textilien im Haar
eingeflochten die Markennamen neuer Funktionsbekleidung:
Kennst du Bärlauchpesto? Bärlauch und Öl, das kenne ich, klar.
Was hier alles ein Herz hat! Die Stadt, die Nation, sogar dieser
Kontinent. Bombendurchpflügt über die Jahre. Auf jeder Baustelle,
und auch am Ort, wo das Herz Wald ist also, findet man
Weltkriegsmunition. Blindgänger. Überbleibsel

zu deren Zerstörung Sprengmeister in kolossal klobigen Kostümen
wie ausgedacht und gefertigt in der Werkstatt des Bauhaus.
Textiles Gestalten. Ideen Schlemmers. Biomorph? Nein!
Kubus Zylinder und Kugel. Reine Formen fernab natürlicher Referenz.
Die Umrisse gelöst in geometrische Formen, Kubus, Quadrat,
der Mensch sein eigenes Haus. Die Sprengkörper zu sprengen.
So etwas findest du nicht im natürlichen Dschungel.
UND NICHT IN DER WÜSTE. Bombendynamik.

Zwischen den Bäumen und in den Büschen Zangen und Zettel
Orientierungsläufer markieren hier übers Jahr am Kontrollpunkt
papierne Beweise ihres kurzen Daseins an vorgegebenen Orten.
Dann krauchen sie aus dem Dickicht wieder heraus.

Wie aber bewegt man sich durch die Zeit, nicht in der Zeit? Orte,
vergangene, nicht zu rekonstruieren. Orte ganz ohne Gegenwart.
Vielleicht gibt es keine historische Gerechtigkeit, und vielleicht
ist Gerechtigkeit gar nicht herstellbar, weil ja ein jeder Prozess,
der zu ihr führen könnte, in der Vergangenheit anzusiedeln wäre,
wie jeder Urahn, der sich einer Strafe, dem gutgemeinten Zugriff
entzieht. Er verbirgt sich wie alle Geschichte hinter Geschichte.

Wir sehnten uns nach anderem, Brôcan der Whitmanübersetzer und ich,
vor der BIBLIOTHEK Wolfenbüttel etwas, von dem wir nicht
in der Lage waren zu sprechen. Es war Tasten und Fragen.
Ein Stochern in Texten. Politisch, ästhetisch und überhaupt.

Wende dich O Liberad, denn der Krieg ist vorüber
Von ihm und allem ab, breite dich künftig aus, zweifle nicht
aaaaalänger, durcheile die Welt resolut.
Wende dich ab von rückwärtsgewandten Ländern, die von Be-
aaaaaweisen der Vergangenheit zeugen.

Was Walt Whitman   am Ende des amerikanischen Bürgerkriegs dichtet,
steht auch in Europa immer noch aus.

Wieder schieben sich Erzählungen von der Geschichte vor die Geschichte,
schieben sich übereinander wie Eisschollen auf Friedrichs Bild
Verlorene Illusion. Berichte eines Vergangenen werden berichtigt.
Berüchtigt mancher Erzähler. Verstummt auch vergessen, vergessen

gemacht. Wieder zur Sprache gebracht.
Wieder Vergessen. Innehalten ist Übergehen,
wenn die Beschäftigung mit dem, was war, keine Gegenwart
zeugt. Das die Crux des Prozesses. Dieser Gedanke

Ach Kafkas Axt, wie konnte ich die nur vergessen,
da ich zu Fuß unterwegs bin auf einem gefrorenen Meer.
Allerhand.

Ein Unbehagen, auch evoziert diesen alten Wunsch nach Erlösung,
und nicht nur nach Rettung besonders großartiger Texte,
Vorstellung ist mit Biografien verbunden,
verhaftet, die sich auf verschiedene Weise
in Texte verwandeln, eigene, die eines andern. In seinem letzten Roman

aaaaaaaaaaaaaaaaaaa„Das mechanische Klavier“

schreibt William Gaddis, dass Thomas Bernhard seine Texte schon kopiert, bevor er selbst sie
geschrieben. Das ist Auflösung von Zeit,
ohnehin, dass jetzt die Kopie dem Original vorausgeht.
Oder war’s so schon immer?

Jan Kuhlbrodt

 

Im Gespräch: Timo Brandt redet mit dem Autor Jürgen Brôcan

Die Dankesrede des Dortmunder Autors Jürgen Brôcan zur Verleihung des Literaturpreises Ruhr 2016 in Gladbeck.

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Jürgen Brôcan

 

Jürgen Brôcan liest den Gedichtzyklus HALDENHUB am 20.2.2022 im Museum für westfälische Literatur – Kulturgut Haus Nottbeck.

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