Jutta Schutting: Liebesgedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Jutta Schutting: Liebesgedichte

Schutting-Liebesgedichte

KINSEY-REPORT 

Traum- oder Engelshonig
Traumtränen oder Traumtropfen
die Erleuchtung mithilfe verschiedener Techniken
stundenlang aufrechterhalten:
sich am Engelslächeln reiben, sanft über das Nachtgebet streichen
nackt mit seinen Träumen schlafen
die Himmelserscheinung hinauszögern
Seelenkuß oder tiefer-Brunnen-Kuß, einfacher Lippenblütlerkuß
mit Engelszungen reden
flüchtige Engelsabenteuer in Haustoren, in Autos, auf Parties
Berührung der Engelsflügel und des Gebetsflaums
Zusammenkünfte mit Burschen bzw. Mädchen,
die schon Erscheinungen hatten
die häufigste Position beim Engelsgespräch:
die Seele oben, das Fleisch darunter
Engelsheimsuchungen bis zu extremer Erschöpfung treiben
kein Nachweis, daß hohe Morgengebetshäufigkeiten
die nächtlichen Anrufungen herabsetzen
mit Verkündigungs-, aber auch mit professionellen Schutzengeln
Kontakte haben
viele dieser Männer meditieren im Dunkeln,
um sich besser auf ihre Glaubensvorstellungen zu konzentrieren
manche dieser Kinder erleben etwas,
das einer wirklichen Erscheinung nahekommt

die plötzliche Erlösung aus der Spannung,
wenn der Engel mit der Lilie aus seinem Bild steigt 

 

 

 

Gedichte gegen Melodie und Rhythmus

Liebeslyrik: das angestammte Gebiet der Frau, ihre Domäne schon zu einer Zeit, als schreibende Frauen Ausnahmen waren; ein Schonbezirk, eine Art Freigehege, in dem Literatur und Biographie gewissermassen Hand in Hand gingen; Dichtung, ausgewiesen und beglaubigt durch Erleben. Die Lyrikerinnen, deren Namen uns die Literaturgeschichte überliefert die unvergleichliche Sappho, Christina Rosetti, Gaspara Stampa, Elizabeth Barrett Browning –, waren zugleich grosse Liebende: Gedicht und Gefühl, so glauben wir wenigstens im Rückblick festzustellen, gingen restlos und selbstverständlich ineinander auf.
Der erste Gedichtband von Jutta Schutting (die man seit langem von ihrer beachtlichen Prosa her kennt) scheint diese in der Moderne längst abgebrochene Tradition wiederaufnehmen zu wollen. Liebesgedichte verspricht der Titel aber er gibt dies Versprechen so direkt und unumwunden, dass die Vermutung erwacht, hier schreibe jemand nicht mit der Tradition, der unterbrochenen, sondern, noch einmal, gegen sie, nicht über Gefühle, sondern von ihnen weg. Allerdings: der Band enthält sogar eine Art Liebesgeschichte, die Gedichte (es sind eher gedichtähnliche Texte) kreisen um die Erfahrung von Sehnsucht und Trennung, vor allem aber, unermüdlich, perseverierend, um das Ende der Liebe, das Erlöschen der Gefühle, die Zeit „danach“, um die Vergänglichkeit dessen, was einmal ewig schien und das ganze Leben war. Unwillkürlich denkt man an „Die tote Liebe“ von C.F. Meyer, eines der ergreifendsten seiner Gedichte: dieser Gang von zweien unter dem Schatten einer abgestorbenen Liebe („So wandelt zwischen uns / Im Abendlicht / unsre tote Liebe, / die leise spricht“). Es gibt bei Jutta Schutting ein Gedicht, das vom Motiv her entfernt an diesen abendlichen Gang erinnert:

SPAZIERWEG

Den Weg unseres Einander-entgegen, den Weg ins Bei-mir
den immer langsamer werdenden Weg

den Weg, der unser Weg gewesen ist,
begleiten nicht mehr fassungslose Tränen
ins Es-nicht-fassen-können heim,
da nur mehr die Erinnerung an Tränenmale
knirscht wie Kies
und längst ihn die Empfindung säumt,
du seist ihn viel öfter schon
durch die Alleingelassenheit gegangen
als mit, als zu, als mir entgegen
.

Das Beispiel (kein extremes unter den Gedichten dieses Bandes) zeigt, wie weit entfernt man hier von allem ist, was einmal Liebeslyrik hiess, wie weit weg vom unmittelbaren Gefühl, das auch bei einem so formbewussten, ja artistischen Dichter wie C.F. Meyer spricht (der gerade dieses Gedicht immer wieder bis in die selbstverständliche Einfachheit der letzten Fassung überarbeitet hat). Darf man Jutta Schuttings Zeilen überhaupt Verse nennen? Der Zweifel drängt sich auf, man mag den Begriff Lyrik so weit fassen, wie man will. Verrät sich hier die lange Uebung der Prosaautorin? Vermutlich eher ein bewusstes Zerstören des Rhythmus, eine fast gewaltsame Absage an die Sangbarkeit der Lyrik, unterstützt noch durch die Neigung zur Abstraktion. Da wird eine Art Gedankenakrobatik geübt, die der Leser mitvollziehen muss, ohne doch am Ende zu tieferer Einsicht zu gelangen; ein Wortspiel, aber nicht eines mit Klängen und Nuancen, eher mit Begriffen; ein Denkspiel, das nicht selten zum syntaktischen Verwirrspiel wird, in rhetorischem Ueberschwang endet.
„Uebersetzung aller Bewegtheit in eine neue, / in mir von dir sich selber sprechende Sprache / Freiheit von, Freiheit zu Sprachverwirrung“, „Urbild und Abbild, Urgrund und Trost, Anschein und Schein / all meiner Verwirrung“: Bei Prosasätzen dieser Art würde man den Stift des aufmerksamen Lektors vermissen bei den vorliegenden Gedichten weiss man, dass sowohl Abstraktion wie preziöse Satzkonstruktion bewusst gesetzt sind, gegen die poetische Verführung durch Melodie und Rhythmus vermutlich. Nur ist das Bewusste und Programmatische nicht an sich schon gut!
Jutta Schutting schreibt eine substantivische Verssprache mit vielen Satzellipsen, aus denen das Verb, damit auch die Bewegung ausgestossen ist. Auch das lässt sich als Programm verstehen und ebenso die Vorliebe für zusammengesetzte Hauptwörter. „Tagtraumtraurigkeit“ und „Andenkenlandschaft“ können überzeugen und lassen beim Leser Assoziationen mitschwingen „Kinderzeitfauteil“ mag angehen –, aber das Wortkarussell dreht sich immer schneller, die Wörter verbinden sich zu Ballungen, schlimmer, zu Reihungen: „die Nochnichtliebenden“, „die Nichtmehrliebenden“ und schliesslich: „die nichtmehrliebenden Nochimmergeliebten“; „das Hier-miteinander-gewesen-Sein“, „das Einander-für-einen-Abend-gefunden-Ha-ben“. Es ist, als ob die Autorin die Gefühle und Erfahrungen, die sich doch nicht halten lassen, der Zeit entrücken und in feste Begriffe unterbringen möchte: Aber indem sie das Leben bewahrt, lässt sie es auch erstarren oder versteinern.
Jutta Schutting stemmt sich offensichtlich schreibend gegen alles, was aus der Tradition der Liebeslyrik an Melodie und Rhythmus, an Gefühl und Sangbarkeit noch verführerisch nahe ist; sie beugt sich auch nicht den neueren Formen einer spröden verhaltenen Lyrik, wie wir sie in vielen Varianten kennen. Sucht sie in immer neuen Wortbildungen, in komplizierten Sätzen ein Gefühl auszudrücken, das sich nicht ausdrücken lässt oder braucht sie die antipoetische Sprache viel mehr als Barriere gegen Emotionen? Oder soll durch die Fülle an Worten, an schweren Begriffen das Verborgene laut, wie durch einen Schallverstärker, ausgesprochen werden? Falls das letzte zuträfe, wäre an den alten Schiller zu erinnern; an einen Pentameter, der so veraltet nicht ist:

Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr.

Ein Warnsignal für alle, die mit Sprache umgehen, am meisten für den Lyriker.

Elsbeth Pulver, Neue Zürcher Zeitung 11.11.1982

 

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Trauer, Liebe und Kindheit: Julian Schutting wird 85
NÖN, 2.9.2022

Wolfgang Huber-Lang: Dichter und Wanderer: Julian Schutting erhält Artmann-Preis
Salzburger Nachrichten, 2.9.2022

Gerhard Zeilinger / Julian Schutting: „Drei Stunden gehen, drei Stunden schreiben“
Der Standart, 3.9.2022

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Archiv 1 & 2 + ÖM +
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Bei Julian Schutting nachgefragt.

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