Karin Boye: Versensporn 6

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karin Boye: Versensporn 6

Boye-Versensporn 6

FORM BIN ICH

Form bin ich,
doch Stoff ist Urfeuerflamme
Brand ist mein Blick
und Lohe meine Hände.
Im Schöpfungsrausch
schlingen sich Feuerzungen
unmeßbar um das Linienspiel
das dein Wesen ist.

Form bist auch du,
doch Form, die durchglüht wird,
äthetisiert
erhoben aus dem Feuermeer der Tiefe −
Spieglung und Bild,
halb nur erschaffen und im Werden
− da alle Götter −
über dem Chaos brodeln.

Von allen Dingen am
vergänglichsten sind die Götter,
von allen Dingen am
beständigsten ist die Anbetung.
O Brodeln, Brodeln,
o Augenblick und Blendwerk
und durch das Feuer
der Ewigkeit Ziel!

 

 

 

Karin Boyes Lyrik

behandelt eigentlich recht einfache Sachen – wie man leben sollte und wie man lebt. Sie behandelt das Leid des Unvollkommenen wenn man vollkommen sein wollte. „Ja visst gör det ont“ sagt sie in einem von ihren am meisten zitierten Gedichten. Es tut tatsächlich weh, eben deswegen dass kein lebender Mensch niemals so sein kann wie er sein will. Aber gerade in diesem Leid des Unvollkommenen sind ihre Gedichte entstanden. Viele von diesen sind Liebesgedichte, wo sie viel mehr will als das was sie mit ihren Worten erreicht. Andere von ihren Gedichten behandeln auf ähnliche Weise Offenheit, Gerechtigkeit und Klarheit. „Von Reinheit getroffen“ ist eine Formel ihrer dauernden Versuche das Rätsel zu verstehen wovon das widersprechende Leben ihr Erfahrungen gegeben hat. Es gibt keine Reinheit im Leben – sie existiert vielleicht in der Kunst, in der Dichtung wo sie wünschte „einen Holzlöffel so zu malen dass Menschen Gott ahnten“.
Karin Boyes Gedichte zum ersten Mal zu erleben ist deswegen eine Kenntnis von der Spaltung zwischen zu wollen und zu sein. Ihre Worte sind oft sehr schön, ihre Gedichte vibrieren von einer inneren Musik. Aber hinter diesen schönen Wörtern und dieser Musik ahnt man stets die Unruhe und die Spaltung – das Leben ist nie wie es sein sollte, die Wirklichkeit entflieht dem Traum und geht ihre niedrigen Wege von den Wolken entfernt die sie in ihrer Debütgedichtsammlung beschrieben hat. Und es ist eben diese Gegensätzlichkeit, die ihre Lyrik ein zeitloses Leben gibt. Wer sie heute liest erkennt sich jenseits von Gut und Böse. Sie erreicht bis zu uns und in uns herein mit ihren schönen und bitteren Kenntnissen. Ist es darum wir heute ihre Worte so offen annehmen können ein halbes Jahrhundert nach dem Ende ihres eigenen Lebens? Vielleicht ist es die Spaltung unseres eigenen Lebens, die sie zu unserer Lebensbegleiterin macht, zu einer schwedischen Klassikerin.

Björn Julén, Karen Boye Verein, 1996
Übersetzt von Ingrid Malm

Eine Optimistin voller Angst

− SPIEGEL-Redakteur Harald Wieser über die Schwedin Karin Boye und ihren Roman Kallocain. Die Lyrikerin und Romanciere Karin Boye (1900 bis 1941) ist eine „Heilige“ der lesbischen Boheme. Nelly Sachs übersetzte ihre Gedichte. Peter Weiss erinnerte in der Ästhetik des Widerstands an sie. – Nun liegt ihr Zukunftsroman Kallocain wieder vor, der ihr den Titel einer „Schwester Orwells“ eingetragen hat. −

In den Abendnachrichten des schwedischen Rundfunks gab die Polizei von Alingsas bei Göteborg am 23. April 1941 die Personenbeschreibung einer als vermißt gemeldeten Frau bekannt:

Die Verschwundene ist 40 Jahre alt, mittelgroß und kräftig gebaut. Sie hat schwarzes Haar, auffällig dunkle Augenbrauen, eine kurze Nase und einen breiten Mund mit sehr weißen Zähnen. Sie geht mit langen, festen Schritten. Zuletzt war sie mit einem grauen Mantel und einer Baskenmütze bekleidet; sie trug einen schwarzen Rock, eine graue Bluse und ein buntes Halstuch; die Absätze ihrer schwarzen Schuhe sind niedrig, die Farbe ihrer Strümpfe ist vermutlich braun. Es muß befürchtet werden, daß die Frau unter vorübergehender Sinnesverwirrung leidet und in der Nähe von Alingsas umherirrt.

Vier Tage nach der Radiomeldung entdeckt ein Wanderer aus Bergatorp die verschwundene Frau. Sie hatte sich zwischen den Eichen eines Aussichtsberges nördlich von Alingsas mit einer Dosis Tabletten in den Schnee gesetzt und war erfroren: „die Mütze über das Gesicht gezogen und die Arme auf der Brust gekreuzt“. Dieser Freitod aber war weniger die Folge einer Sinnesverwirrung; er war die bei klarem Verstand ausgeführte Verzweiflungstat einer Depressiven, über deren Leben von früher Kindheit an die schwarzen Vögel der (Freudschen) Todessehnsucht kreisten: „Ich bin im Äußeren ein recht fideler Gesellschaftsmensch“, hatte sie einmal von sich selber gesagt, „aber ebensooft spaziere ich mit Selbstmordphantasien durch meine traurigen Tage.“
Die Tote hieß Karin Boye – und das polizeiliche Protokoll wies sie als eine Lehrerin aus, für Religionskunde, schwedische Sprache und Geschichte. Aber vor dem mit gelben Rosen geschmückten Sarg verneigten sich nicht nur Schüler und Rektoren. Zum Begräbnis in Stockholm fand sich eine schillernde Gemeinde ein: die feine schwedische Gesellschaft und die homosexuelle Halbwelt, die etablierte Prominenz aus Kultur und Wissenschaft und die politisch heimatlose Linke. Diese ungleiche Menschenmenge nahm Abschied von einer exzentrischen Frau und melancholischen Literatin, deren 1940 erschienener Zukunftsroman Kallocain in den Literaturlexika als ein „Höhepunkt schwedischer Prosa“ angezeigt worden ist, und deren in ihrer Heimat berühmte Lyrik auch in (leider entlegenen) deutschen Ausgaben besichtigt werden kann: in der von Nelly Sachs übersetzten Sammlung schwedischer Gedichte Von Welle und Granit und in dem bibliophilen Bändchen Brennendes Silber.
Nelly Sachs hat Karin Boye als „bedeutende Lyrikerin von tiefem gedanklichem Ernst“ gepriesen, „einem reichen, fast männlich zu nennenden Geist“. Peter Weiss reservierte ihr im dritten Band seiner Ästhetik des Widerstands, in der Ahnengalerie des modernen Sozialismus, einen Platz gleich neben Willi Münzenberg, dem roten Zeitungszaren. Die schauerliche Vision eines Polizeistaates im Roman Kallocain trug ihr den Titel einer „Großen Schwester George Orwells“ ein. Und die subkulturelle Boheme, die sich der bürgerlichen Moral verweigert und „freiere“ Lebensweisen ausprobiert, verehrt(e) in ihr eine vergessene „Heilige“.
Denn die Schriftstellerin Karin Boye, die als Lyrikerin mit 22 Jahren debütierte (Moln = Wolken) und mit noch nicht 30 Generalsekretärin der (schwedischen) Clarte wurde, einem internationalen Literaten- und Intellektuellenzirkel des französischen Pazifisten Henri Barbusse; die T.S. Eliot in ihrer Heimat bekanntmachte und Thomas Manns Zauberberg übersetzte und die (1931) eine Zeitschrift namens Spektrum redigierte, in der sie auch als Essayistin zur Feder griff („Die Sprache jenseits der Logik“) – diese Frau war eine überzeugte Antiautoritäre und eine nicht feministische Lesbierin.
In einem Brief an ihre Freundin Kajsa Lönngren, eine heiter-verträumte und unorthodoxe Kommunistin, mit der sie 1932 in Berlin-Schöneberg (Landshuter Straße 33) eine Zeitlang eine Wohnung teilte, verriet sie über ihre Berliner Abenteuer:

Insbesondere habe ich mit einer kleinen Athenerin Bekanntschaft gemacht, die ich als Gigolo in einem weniger bekannten Damenclub fand… Eine Figur, wie ich noch nie vorher ihresgleichen sah, lustig – würdige kleine Person, pessimistisch und jungenhaft, immer in Herrenkleidung.

Die Literaturkritikerin Margit Abenius, die die einzige Boye-Biographie veröffentlich hat (Stockholm 1951), teilt ihren Lesern mit, Karin Boye habe ihren auf alle Konventionen pfeifenden Lebensstil so unideologisch und natürlich vertreten, daß sie ihn „geradezu erfunden haben könnte“. Schon in Stockholm war sie nach 1927 (dem Jahr der Trennung von ihrer puritanisch erziehenden Mutter) häufiger Gast in einer Art Kommune gewesen, die über die politisierende Lektüre der Schriften Freuds zusammengefunden hatte und deren Mitglieder nicht nur ihre radikalen Ideen und ihr Geld, sondern auch ihre Sexualität miteinander teilten.
Aber Karin Boye, die zu gewissenhaft war, um diese Libertinage kritiklos zu idealisieren (im Romanfragment Asketen verlegt sie diese Zeit in einen Kreis jugendlicher Helden: „Sie bewunderten einander mit abgründigem Entsetzen“), war eine Hedonistin mit einem ewig schlechten Gewissen. Sie gehörte, gemeinsam mit ihren Freunden, zu den Pionieren einer Lebenskultur, wie sie später die Apo auf ihre Fahnen schrieb, aber meist quälte sie dabei das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Nicht zufällig schließt der Brief an Kajsa Lönngren mit einer Bitte: „Du darfst von meinen Eskapaden aber niemandem erzählen. Warum? Es schickt sich nun mal nicht.“
Diese Individualistin mit den zwei unversöhnlichen Seelen in der Brust – ein Leben lang hatte sie Angst und immer wieder Angst vor (und nach!) dem eigenen großen Mut: Von ihrem ganzen Temperament her war sie eine Gegnerin institutionalisierter Bindungen wie der Ehe, aber 1929 heiratete sie den sieben Jahre jüngeren Leif Björk, einen linksradikalen Clarte-Mann aus Uppsala. Geheimbündlerisch redete sie in den Hinterzimmern der bürgerlichen Gesellschaft der Revolution das Wort (Deckname: „Der große Reigen“), aber bereits mit 17 führte sie ein „Christliches Tagebuch“ und glaubte („Die Moral – das ist Christus“) auch in ihrer gottesfürchtigen Lyrik an den „Herrn des Kosmos“.
Zu Hause fühlte sie sich nur im Lärm und auf dem Asphalt der Metropolen („Ich bin in der Stadt geboren, ich gehöre zur Stadt“), aber in ihren den Schönheiten der Natur gewidmeten Gedichten sehnt sich die urbane Nachtschwärmerin nach Ruhe: ist sie „von Schmetterlingen eingehüllt“ und besingt sie die „Kinder des Wassers“. Vorlaute Rechthaberei war ihr von Herzen zuwider, aber die Freunde aus der Clarte, mit denen sie in den Clubs im Umkreis der Königlichen Bibliothek Debatten ausfocht, erinnern sich ihrer auch als einer Militanten, die „wie das Weltgewissen“ auftreten konnte: herrisch und „mit strafendem Blick“ und „manchmal geradezu brutal“.
Signe Boye, die Mutter, hatte ihrer Tochter einmal irritiert gesagt:

Es ist, als ob du zwei Menschen wärst.

Und die Tochter hatte zur Antwort gegeben: „Zwei? Nein, viele, viele Menschen!“
In Berlin traf die in Skandinavien inzwischen bekannte Dichterin (Gömda land = Verborgenes Land; Härdarna = Feuerstätten) unter dem Eindruck einer schweren seelischen Krise am 31. Januar 1932 ein: die Adresse des jüdischen Psychoanalytikers Walter Schindler im Gepäck. Aber zwischen dem Arzt und seiner Patientin stellt sich nicht das nötige Vertrauen ein: Schindler bringt nur wenig Interesse für ihre literarische Arbeit auf; sie sieht in ihm vor allem „den Mann“. Schon nach zwei Monaten (Peter Weiss: „Ihre Schrecken auf dem Sofa des Analytikers“) ist sie der Behandlung ihrer „lesbischen Sünden“ überdrüssig.
Auf das Scheitern der Psychoanalyse bei Walter Schindler reagiert die Erotomanin mit einer nun erst recht „verwegenen“ Lebensart. Ihre Mitschülerinnen hatten das schöne, aber blasse Mädchen einst „Madonna“ gerufen. Nun putzt sie sich nach allen Regeln der weiblichen Kunst heraus und tritt, wie sie selber kokett bemerkte, ihre „Streifzüge durch die Unterwelt an“: vergnügt sich in den Szene-Kneipen Eldorado und Silhouette und taumelt von einer Liebesaffäre in die nächste. Sie mischt sich in den lesbischen Kreis um die Malerin Käthe Kollwitz und nimmt die gemeinsame Wohnung mit Kajsa Lönngren in der Landshuter Straße: Während um sie herum die deutsche Demokratie in Scherben fällt, schirmen die beiden Schwedinnen ihr Grammophon vor den Nachbarn mit Decken ab und hören Brechts Dreigroschenoper.
Die rastlose Fröhlichkeit jedoch, die die Madonna der „sterbenden“ Stadt Berlin wie Galgenhumor abgewinnt, verscheucht ihre Selbstzweifel keineswegs:

Ich lebe, als wäre ich geschaffen wie ein Mann, aber ich bin kein Mann.

Lustlos übersetzt sie den Etzel Andergast des Caspar-Hauser-Autors und Simplicissimus-Redakteurs Jakob Wassermann – und bezahlt mit dem Honorar immer wieder neue Termine bei immer wieder neuen Seelenärzten.
Trotzdem empfand sie die Berliner Wohngemeinschaft mit Kajsa Lönngren als ihre „unbeschwerteste Zeit“. Die ganz große Rolle jedoch haben im Leben der Karin Boye zwei andere Frauen gespielt: die Schwedin Anita Nathorst und die Deutsche Margot Hanel. Die Dichterin und Schulrektorin Anita Nathorst, die es in einer zweiten Karriere zur Assistentin des schwedischen Nervenarztes Iwan Bratt brachte (und seit ihrer Kindheit an Hautkrebs litt), hatte Karin Boye bereits mit 18 kennengelernt. Sie schaute zu der sechs Jahre älteren Anita Nathorst auf, taufte sie ihre „geistige Mutter“. Aber die Zuneigung zu der mit einem Mann verbundenen Freundin blieb zeitlebens eine platonische Liebe.
Die 19jährige Margot Hanel „erobert“ Karin Boye in Berlin: ein mageres Mädchen mit großen, dicken Brillengläsern, dessen einzige Mitgift die seelischen Verwundungen der Prügel und des väterlichen Jähzorns sind. Karin Boye holt Margot Hanel 1933 zu sich nach Schweden und gibt die halbjüdische Geliebte, um bösen Zungen und grinsender Nachrede vorzubeugen, als deutschen Flüchtling aus. Sie schreibt für ihr „Vögelchen“ ein Gedicht: „Idyll“. Aber die an Unterwürfigkeit gewöhnte Margot Hanel macht sich bis zur eigenen Lebensunfähigkeit von ihrer Retterin abhängig – und die Liaison der verschiedenen Frauen wird zu einer folie a deux aus Himmel und Hölle.
Während Karin Boyes Zeit in Berlin, über die ein schöner, jetzt erschienener Aufsatz der Schwedin Pia Garde (Pia Garde: „Karin Boye in Berlin oder: Versuch der Neubewertung einer zur Heiligen stilisierten lesbischen Schriftstellerin“, in Eldorado, Verlag Frölich und Kaufmann) Auskunft gibt, kommt es zu einem Ereignis, das der Schriftstellerin meist entweder angekreidet (Peter Weiss) oder umgekehrt, um der Makellosigkeit willen, in ihrer Vita einfach retouchiert wird (Pia Garde). Dabei gibt gerade dieses Ereignis Karin Boye als jene – in leicht überrumpelbares Gefühl und streng kontrollierten Verstand, in vitale Lebenslust und (Selbst-)Vernichtungsobsessionen – gespaltene Persönlichkeit zu erkennen, die sie auf seltene Weise gewesen ist:

Am 12. März 1932 hält Hermann Göring (und nicht, wie Peter Weiss nahelegt: Adolf Hitler) im Sportpalast eine nationalsozialistische Wahlrede. Die Antifaschistin Karin Boye hat with a little help des an der Universität lehrenden Schwedisch-Dozenten Vilhelm Scharp (der durch seine Bekanntschaft mit Görings 1931 verstorbener schwedischer Ehefrau Zugang zu hohen Nazi-Kreisen hatte) einen Zuschauerplatz ergattert – und hebt, vom apokalyptischen Pathos der Rede wie hypnotisiert, ihren Arm zum Hitlergruß.
Die linke Sozialromantikerin aus der Clarte, die bei einem späteren Berlin-Besuch (1938) angesichts der den Juden zugewiesenen gelben Bänke in den Parks „bitterlich weinte“, stimmt ein in die Sieg-Heil-Dämonie. Als hätten sich Robert Louis Stevensons groteske Romanfiguren „Dr. Jekyll“ und „Mr. Hyde“ in eine wirklich lebende Frau verwandelt.
Mit einem Stipendium der Schwedischen Akademie unternimmt Karin Boye, die Berlin im Oktober 1932 wieder verlassen hatte, im Sommer 1938 eine Griechenlandreise, die sie über Wien führt, und bei der sich ihr Sportpalasterlebnis innerlich wiederholt: Vor einem „unnachgiebige Härte“ ausstrahlenden Hitler-Photo in einer Wiener Bank erschrickt sie einerseits „fürchterlich“, andererseits findet sie es „ernst asketisch, beinahe schön“ und schreibt an eine Freundin: „Wie soll das nur enden für die Wiener mit ihrem sprichwörtlichen Sinn für Muße und Muse?“

Blitzartig ging mir der Gedanke durch den Kopf, daß die Verbissenheit auf dem Photo und der freundliche Charme der Wiener den Kampf zweier Menschentypen symbolisiert: den Kampf zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zur Macht. Dabei fiel mir ein, was Du über mich zu sagen pflegst: daß nämlich auch ich, wenigstens wenn ich arbeite, zu den Asketen gehöre – und wurde von einer Panik ergriffen, von der ich vermute, daß sie einen glühenden Nationalsozialisten überfallen könnte, wenn er entdeckt, daß er ein hundertprozentiger Jude ist. Verstehst Du das? Ich armer Mensch, wer erlöst mich von meinem sterblichen Leib?

(…)

Harald Wieser, Der Spiegel, 16.7.1984

„Ich suchte nach Worten, die es nicht gab…“

– Über Karin Boye (1900–1941). –

In der Literatur der 20er Jahre läßt sich in Schweden die Tendenz zur Wirklichkeitsflucht feststellen – als Reaktion auf das Kriegserlebnis. Auch Karin Boye gehört zu denen, die sich mit ihrer Dichtung eine Gegenrealität zur Wirklichkeit schaffen. Von Freuds Trieb- und Traumlehre beeinflußt, erarbeitet sie sich in ihren Gedichten eine Terminologie immer wiederkehrender Bilder von einer ursprünglichen Kraft. Das Meer als Ursprung des Lebens und zeugende Allmutter ist eines dieser Bilder. Das Chaos der Natur wird von Karin Boye nicht negativ bewertet, es ist ein vernichtendes und fruchtbares Chaos zugleich: In dem Gedicht „Abschied“ spricht sie vom „zeugenden Dunkel des Chaos“. Der Mensch als Teil der Natur ist diesem Chaos, das manchmal mit dem Unbewußten gleichzusetzen ist, hilflos ausgeliefert; doch aus dem Chaos erwächst er manchmal zu übermenschlicher Größe, im Gedicht dargestellt durch die kosmische Entgrenzung: „sehen wollte ich deiner Augen weit offenen Weltraum“.
Oft erliegt der Mensch, das lyrische Ich, jedoch auch den Urgewalten, die über seine Kräfte gehen und ihn innerlich zerreißen wollen:

Doch unter Haut und Blut, in meinem Innenmark
bewegen sich schwer, schwer zu fangende Meeradler,
breitflügelige, denen nie ihre Beute entgeht.

Diesen übermächtigen Kräften hat der Mensch nichts entgegenzusetzen als einen insektenhaft winzigen Willen, der ein leicht zerstörbares Gleichgewicht trägt. Daß Karin Boye zuletzt den in ihr ringenden Kräften erlegen ist, davon zeugt ihr freiwilliger Tod.
Neben dem Einfluß der Psychoanalyse ist Nietzsches Einfluß unverkennbar, wenn Karin Boye schreibt: „Oder sollen wir einen Gott erwarten – und welchen?“ In dem programmatischen Gedicht „Form bin ich“ sagt sie:

Von allen Dingen am
vergänglichsten sind die Götter,
von allen Dingen am
beständigsten ist die Anbetung.

Ihre Gottesvorstellung ist durchsetzt von alter nordischer Mythologie. Es ist ein Gott, den das Chaos selbst erschuf:

Halb nur erschaffen und im Werden
– da alle Götter –
über dem Chaos brodeln.

Dieser Gott ist für den Menschen nicht erreichbar, und doch sehnt der Mensch sich nach ihm: „Über das Äußere herrschen keine Götter“. Neben den Bildern von Vernichtung und Tod schuf Karin Boye Liebesgedichte von einer lyrischen Zartheit und Traurigkeit, die jedoch immer noch die männlich-kraftvolle Seite ihrer Sprache durchschimmern lassen. Als Beispiel soll hier das bereits erwähnte Gedicht „Abschied“ vorgestellt werden:

ABSCHIED

Erwecken wollte ich dich zu einer Nacktheit, gleich dem nackten Vorfrühlingsabend,
da die Sterne vom Firmament fallen
und die Erde brennt unter schmelzendem Schnee.
Sehen wollte ich dich einmal nur
hinsinkend im zeugenden Dunkel des Chaos;
sehen wollte ich deiner Augen weit offenen Weltraum
bangend nach Erfüllung,
sehen wollte ich deine Hände gleich aufgeblühten
Knospen
neu und leer in der Erwartung.

Du gehst, und nichts von all dem habe ich dir gegeben.
Ich reichte niemals dorthin, wo dein Wesen bloßliegt.
Du gehst, und nichts von mir nimmst du mit dir –
überläßt mich so der Niederlage.

Ein anderer Abschied ist mir in Erinnerung:
wir flogen aus dem Urtiegel wie ein einziges Wesen,
und da wir uns trennten, wußten wir nicht mehr
wer ich und wer du war…

Du aber – wie Glas hast Du meine Hand entlassen,
so leblos wie eine Sache und so veränderlich,
so ohne andre Erinnerung als den leichten Fingerabdruck,
den das Wasser hinwegschwemmt.

Erwecken wollte ich dich zu einer Formlosigkeit, gleich
der formlos flackernden Flamme,
die zuletzt ihre lebendige Form findet, ihre eigne…
Niederlage, Niederlage.

Ihre Situation als Dichterin in einer feindlichen Welt, in der sie sich nicht zurechtfindet, ist sehr genau in dem Gedicht „Kinder des Wassers“ in zarte Bilder gekleidet:

KINDER DES WASSERS

Um unsre Wiege wogten sanft wie Seegras
durchsichtige Wassergeister, ungreifbare.
Zeitlos ruhten wir glücklich in windloser Tiefe.

Wer vertrieb uns aus unserer Heimat
Wie wirbelnde Blasen sausten wir gegen das Licht,
wie glänzende Silberfische glitten wir in bleigraue See.
So standen wir an einem Morgen mit tropfendem Haar am Ufer
in einem fremden Land.

Niemals finden wir heim.
Wir wandern weiter wie im Traum.
Unsere feuchten dunklen Augen scheuen die Sonne.
Unsere kühlen und sanften Hände scheuen das Handeln.
Unsere fließenden und fliehenden Seelen scheuen das Lieben.
Sie schlingen sich wie Schlangen um alles brennend Heiße…

Wie im Traum gehen wir, unsere Welt ist Schaum.
Unser fernes kühles Lächeln ist ein Gruß aus unseres Vaters Reich,
wo Portale aus glasgrünem Wasser sich wölben –
Portale zur ewigen Ruhe.

Die 1. Strophe bildet einen Rückblick auf den Zustand kindlicher Unschuld. Die Zeit als Faktor der Vergänglichkeit ist ausgeschaltet, die Kinder des Wassers befinden sich in Einklang mit der sie umgebenden Wasserwelt. In der 2. Strophe verlassen die Kinder ihre Heimat, der vor-bewußte Zustand, für den das Meer steht, wird eingetauscht gegen Bewußtsein vom Leben. Das Meer wird als Heimat bezeichnet, die die Kinder des Wassers verlassen und gegen ein Leben auf dem Festland eintauschen. Die Rückkehr aus dem „fremden Land“ ins Meer ist nun nicht mehr möglich, obwohl die Natur des Landes den Kindern des Wassers widerstrebt. Selbstmörderisch verbrennen sie in der Hitze. Das Leben ist nun wie ein Traum, aus dem die Kinder des Wassers nicht mehr erwachen können.

Biographische Daten
Karin Boye wurde 1900 in Göteborg/Schweden geboren. Das Geschlecht der Boye stammt aus Böhmen. Der Großvater der Dichterin, Karl Joachim Eduard Boye, ließ sich in Göteborg nieder, wo er als Kaufmann und preußischer Konsul tätig war. Der Vater arbeitete als Ingenieur (Über die Mutter bzw. Großmutter haben wir nichts gefunden.).
Karin Boye studierte 1921-1926 an der Universität Uppsala und erwarb den Magister der Philologie. 1925 schloß sie sich der Clarté-Bewegung an, deren Generalsekretärin sie zeitweise war.
1924 war die schwedische Organisation als Sektion des internationalen Verbandes gegründet worden, der unter dem Einfluß Barbusses stand und in jenen Jahren eine bedeutende Rolle für die Verbreitung sozialistischen Gedankengutes spielte.
1929 und 1936-38 war Karin Boye als Lehrerin tätig. Sie fühlte sich Walt Whitman und T.S. Eliot verbunden, übersetzte Rilke und den Zauberberg ins Schwedische. Ende der zwanziger Jahre unternahm sie eine Reise in die Sowjetunion, von der sie enttäuscht zurückkehrte. 1932 führte sie ihr Interesse für die Psychoanalyse nach Berlin. 1931 war sie eine der Gründerinnen der modernistischen, psychoanalytisch orientierten Zeitschrift Spektrum.
Am 24. April 1941 nahm sich Karin Boye in Alingsås das Leben.

Zur Rezeption Karin Boyes in Westdeutschland
Wer in Westdeutschland kennt überhaupt nur den Namen Karin Boyes? Kaum jemand, es sei denn, er ist Skandinavist oder hat die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss gelesen. In deutscher Sprache wurde veröffentlicht: Boyes Roman Kallocain 1947 (1940) und eine Gedichtsammlung unter dem Titel Brennendes Silber. Letzterer ist nicht mehr im Handel erhältlich. Der Roman ist jetzt im Neuen Malik Verlag neu aufgelegt. Es soll noch ein Roman Krise in deutscher Sprache veröffentlicht worden sein.
Otto Oberholzer hat 1978 im Nachwort zu einer Neuauflage von Kallocain darauf aufmerksam gemacht, daß man den Roman auf zweierlei Art lesen kann: Wenn man Boyes Erfahrungen in der Sowjetunion und im faschistischen Deutschland sowie ihre Beschäftigung mit der Psychoanalyse – sowohl theoretisch wie auch als Analysandin – außer acht läßt, kann der Roman als spannende Science fiction gelesen werden; der Heyne-Verlag hatte ihn auch 1978 in einer solchen Reihe wiederaufgelegt.
Die neue Ausgabe des Buches im Neuen Malik Verlag war von verständnisloser Kritik begleitet: Samuel Bächli, der als Schlüsselwort im Roman „die Scham“ entdeckte, hat wohl nicht die Zeit gefunden, das Werk genau zu lesen.

(…)

Karin Boye verdrängte nicht, daß es ihr vor Hitler den Arm hochgerissen hatte, es ging ihr Zeit ihres Lebens nach. Auch wollte sie sich immer wieder den Widersprüchen stellen, die sich im zwischenmenschlichen Bereich ergaben. Die Kluft zwischen ihrer Konstitution, „in allen Vorgängen die letzten Folgen zu erkennen“, z.B. die Diskrepanz zwischen der Tatsache, daß es in ihr selbst etwas gab, das auf faschistoide Anreize reagierte, und ihrem Willen, sich dagegen zu wehren, wurde immer unüberbrückbarer.
Lange Zeit gelang es ihr, diesen Abgrund mit Dichtung zu überbrücken. Aber am Ende scheitert sie daran. Auch die Psychoanalyse, die 1932 noch nicht so weit war, in dem Maße wie heute die Wirkung gesellschaftlicher Faktoren auf das Individuum zu berücksichtigen, hat sie davor nicht bewahren können. Als Karin Boye vor dem Dilemma stand, sich diesen unmenschlichen Verhältnissen anpassen zu müssen, weil die Verhältnisse unbeeinflußbar schienen, und sie aber auch vor ihren Auswirkungen nicht rein bleiben konnte, zog sie die Konsequenz, lieber zu sterben als mitzumachen. Deshalb reiht sie Peter Weiss in die Reihe derjenigen ein, die widerstanden haben.

Eva Adelsbach und Kunibert Erbel, die horen, Heft 137, 1. Quartal 1985

 

Fakten und Vermutungen zu Versensporn
Fakten und Vermutungen zur Autorin

 

Dokumentation über Karen Boye.

1 Antwort : Karin Boye: Versensporn 6”

  1. Raffael Otte sagt:

    Liebe Freunde der Lyrik Karin Boyes

    Ich bin mehr zufällig über google auf Euere schöne Lyrik- Webseite aufmerksam geworden und hab gedacht, vielleicht teile ich etwas Interessantes mit Euch. Vor ein paar Jahren habe ich mehr zufällig (und fast ungläubig emotional ergriffen) entdeckt, was musikalisch in Schweden im Bereich Singer-Songwriting und Folk Music im Moment blüht, zu Entdecken ist und hier noch kaum bekannt ist.

    Eine der besten Singer-Songwriterinnen SOFIE LIVEBRANT bringt morgen (23 April) am Todestag Karin Boyes eine schwedische Mini-CD mit Vertonungen von Karin Boye Gedichten heraus (eine weitere englische CD mit Jeanette Wintersson Vertonungen ist in Arbeit). Auch ihre ersten beiden englischen Alben „From here to here“ und „Emily and I“ (Vertonungen von Emily Dickinson Gedichten) sind für jeden der Singer-Songwriting liebt eine kleine, kostbare Offenbarung. (Sofie Livebrant hat bereits einen schwedischen Grammy gewonnen für ihre arg schönen Vertonungen der Gedichte des geliebten schwedischen Dichters Dan Andersson auf den CD`s ihrer guten Freundin und Musikerkollegin Sofia Karlsson.)

    Ich hatte gerade eine Stunde in meinem Internet-Cafe Zeit und dachte, vielleicht versuche ich mal diese berührende Musik in unsere Sphären zu tragen.

    Hier ist der link zu Sofies Homepage. http://sofielivebrant.com/ (Sofie Livebrant hat aber auch eine Facebook-Seite)

    Hier der link zur „Single“ Ihres Karin Boye albums: https://soundcloud.com/frokennordfeldt/osa-rbar-1

    Osårbar (INVULNERABLE)

    Osårbar, osårbar
    är den som fattar ursprungsordet:
    „Det finns inte lycka och olycka“
    „Det finns bara liv och död.“

    Och när du har lärt det och slutat jaga vinden
    och när du har lärt det och slutat skrämmas av blåsten
    så kom tillbaka och lär mig ännu en gång:
    „Det finns inte lycka och olycka.“
    „Det finns bara liv och död.“

    Jag började stava, när min vilja föddes,
    och slutar stava, när min vilja har upphört.
    Ursprungsordens hemlighet
    förvärvar vi intill döden.

    Deutsche Übersetzung von mir:

    Unverwundbar, unverwundbar,
    ist der der das Ursprungswort versteht.
    „Es gibt kein Glück oder Unglück“
    „Es gibt nur Leben und Tod“

    Und wenn Du das gelernt hast und aufgehört hast, den Wind zu jagen…
    und wenn Du das gelernt hast und aufgehört hast Dich vor dem Blasen zu fürchten,
    dann komm zurück und lehr mich noch einmal:
    „Es gibt kein Glück oder Unglück“
    „Es gibt nur Leben und Tod“

    Ich begann zu buchstabieren, als mein Wille geboren wurde.
    und hörte auf zu buchstabieren, als mein Wille starb.
    Das Geheimnis des Ursprungswortes
    erwerben wir vor dem Tod.

    und noch ein Stück von Sofie Livebrants „Några Karin“ – Album:

    SOFIE LIVEBRANT/KARIN BOYE – BONADERNA IV (mit Henrik Cederblom und Olle Linder)
    http://www.youtube.com/watch?v=bCd8T5rpW0A

    https://itunes.apple.com/us/album/nagra-karin/id858458183

    Ich hoffe die Musik gefällt Euch. Ihr braucht mir nicht zurückzuschreiben, denn wir kennen uns ja gar nicht. (Vielleicht teilt ihr diese Info ja mit Freunden ähnlich poetischen, schönen Singer-Songwritings.)

    Ich bin aber auf Facebook und teile da öfter schwedische/nordische Folk-Music , Singer-Songwriting etc. aber auch viel Musik ähnlicher Art aus anderen Gegenden (von den keltischen Inseln, USA, Europa). Lieben Gruß und einen schönen Tag wünscht Euch
    Raffael Otte

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