Karin Kiwus: Zweifelhafter Morgen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karin Kiwus: Zweifelhafter Morgen

Kiwus-Zweifelhafter Morgen

APHASISCHES ENDE

Wenn keine weiteren
Mordmeldungen
vorliegen möchten wir nun
angesichts der näherrückenden
Geiherstunde
unsere Diskussion
über die nötigen
Schreiräume
in einer Gesellschaft
verenden und abschießend
feststellen daß alle zunächst
überredensgroß
erscheinenden Probleme
doch noch gelöst
und sozusagen einem
Begattungsinstitut
übergeben werden konnten

 

 

 

Nachwort

Im Jahre 1976 erschien der erste Gedichtband der damals vierunddreißigjährigen bundesdeutschen Autorin Karin Kiwus, Von beiden Seiten der Gegenwart. Die Zustimmung der Kritik war allgemein. Karl Krolow:

Gegenwarts-Erfahrenheit und geistige Neugier, Auseinandersetzungs-Lust und verbale Aufmerksamkeit treffen in den Arbeiten von Karin Kiwus aufeinander.

Heinz Ludwig Arnold:

Soweit ich sehe, ist Karin Kiwus, vielleicht dank ihrer Unbefangenheit, die einzige Lyrikerin, der es gelungen ist, zwischen den Erkenntnissen der bewegten sechziger und siebziger Jahre und der großen lyrischen Tradition zu vermitteln: beide zu verbinden in einem neuen Ton, der auch neue Maßstäbe setzt.

Rudolf Hartung:

Diese Autorin ist keine Debütantin; gegen Dilettantismus scheint sie von Anfang an gefeit. Fast souverän beherrscht sie Phrasierung und Zeilenbruch, klug organisiert sie das einzelne Gedicht, und noch die Titel sind überaus treffsicher gewählt.

Helmut Heißenbüttel:

Das Schlagwort der siebziger Jahre, so scheint sich allmählich herauslesen zu lassen, heißt ,Neue Subjektivität‘. Damit es kein Schlagwort bleibt, muss dieses Wort mit aktuellem und lebendigem Inhalt gefüllt werden. Hier, in den Gedichten von Karin Kiwus, wäre solcher Inhalt.

Die Faszination, die von vielen Gedichten der Karin Kiwus ausgeht, findet ihren wesentlichen Grund in einer Haltung, ja Distanz wahrenden Zeitgenossenschaft, die sich den Verletzungen und Niederlagen des eigenen Ich im lyrischen Text stellt, Poesie und Politik nicht vorschnell versöhnt, die Klage über das Geringerwerden von Hoffnung zu keiner Zeit in Larmoyanz abgleiten lässt. Die Relevanz dieses mittlerweile zehn Jahre zurückliegenden Beginns scheint im historischen Rückblick noch schärfer sichtbar: Allzu vieles und Hochgerühmtes in der BRD-Literaturszene der siebziger Jahre erwies sich als Dienst an aktueller Gestimmtheit; das Wort von einer konturenlosen „Neuen Weinerlichkeit“ war nur zu oft berechtigt.
Von beiden Seiten der Gegenwart sah sich in einer Reihe programmatischer, korrespondierender Gedichtbände. 1975 erschienen unter anderem Westwärts 1 & 2 (Rolf Dieter Brinkmann), Mausoleum (Hans Magnus Enzensberger), Meine Lust ist größer als mein Schmerz (Godehard Schramm), Einen Fremden im Postamt umarmen (Roman Ritter), Poem vom grünen Eck (Klaus Konjetzky), Ein Bankier auf der Flucht (F.C. Delius). 1976 setzte Nicolas Born mit seinem großen Bilanzierungsversuch, dem Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte„, zweifelnde Signale der Rückschau auf die politischen Bewegungen der späten sechziger Jahre.
Eine Zeit gesellschaftspolitischen Stillstands erzwang Neubestimmungen poetischer Konzeptionen und poetologischer Reflexionen; der tatsächliche Verlust von utopischer Substanz musste wahrgenommen und begriffen werden, das Innewerden eigenen und allgemeinen Scheiterns evozierte spezifische sprachlich-kommunikative Aussageformen, die zum Beispiel das Gedicht als Indikator und Impuls neu zu gewinnenden Selbstverständnisses prägten. Sprachreflektierende, experimentelle Strategien hatten hier kaum eine Funktion: Autobiographische, quasi erzählende Lyrikkonstrukte, deren Grundton zumeist freundlich-melancholisch gestimmt war, lösten bei vielen jüngeren, um die Mitte der vierziger Jahre geborenen Gedichteschreibern explizit politische „Kampftexte“ (ein heute vergessener Terminus der sechziger Jahre) ab. Das beharrliche Insistieren eines Teils bürgerlicher Literaturkritik auf den Zusammenhang von umfassender neokonservativer „Wende“ und den Hervorbringungen einer ehemals links orientierten Kultur der Resignation und Innerlichkeit war von schmerzhaften Momenten der Wirklichkeit gedeckt. Viele Intellektuelle, die um 1967/68 von der Erwartung auf eine revolutionäre Umwälzung der festgefügten bundesdeutschen Gesellschaft getragen wurden, die meinten, die Revolution hätte bereits begonnen, zunächst in den Abteilungen Philosophie und Literatur des Überbaus, sahen sich am Beginn der siebziger Jahre um bescheidenste Resultate ihrer Veränderungsbemühungen betrogen. Philosophie blieb Theorie, Literatur blieb Kunst; die Modelle eingreifender Agitation trafen auf die Abwehr potenziell Aufzuklärender, die Konzepte subkultureller Bewusstseinserweiterung wurden in kurzer Frist vom etablierten Kulturbetrieb assimiliert.
Dass diejenigen, die meinten, es schon immer gewusst zu haben und die unter dem ironischen Motto „Nun dichten sie wieder!“ zufrieden das Restauratorium beschrieben, die Ambivalenz der Aufarbeitung misslungener Geschichte verdrängten, darf nicht hindern, nach den produktiven, subversiven Spuren zu suchen, die einer Neuentdeckung von Verhaltensqualitäten wie Sensibilität, Subjektivität, Trauer und Melancholie eigen waren. Martin Walsers These, Literatur erhalte ihre Antriebe aus der Mangelerfahrung, man schreibe vor allem auf, „was einem fehlt“, wurde von jüngeren Autoren aufgenommen und variiert. So antwortete Karin Kiwus auf die – selbstgestellte – Frage „Ihre Gedichte sind oft so düster… Warum schreiben Sie nicht auch einmal über das Glück?“:

In Zeiten innerer Unruhe oder gar Verzweiflung, glaube ich, wird der Impuls, sich zu artikulieren, viel dringlicher sein. Und darüber hinaus ist eine Beschreibung problem- und konfliktgeladener Situationen eigentlich auch interessanter, zwingender und erkenntnisfördernder. „Das Glück allein ist heilsam für den Leib“, hat Proust gesagt, „die Kräfte des Geistes jedoch bringt der Schmerz zur Entfaltung“.

Anders als die Mehrzahl der Lyriker, deren Gedichte einer Literatur der „Neuen Subjektivität“ zugerechnet wurden, hat Karin Kiwus erst am Anfang der siebziger Jahre mit dem Schreiben begonnen. Sie wurde 1942 in Berlin geboren, wuchs dort auf, studierte Publizistik, Germanistik und Politologie in Berlin (West) und schloss das Studium mit dem Magisterexamen ab. Von 1971 bis 1973 arbeitete Karin Kiwus als wissenschaftliche Assistentin an der Akademie der Künste in Berlin (West), von 1973 bis 1975 war sie Lektorin beim Frankfurter Suhrkamp Verlag. Von 1975 bis 1986 hatte sie die Funktion des „Sekretärs“ der Abteilung Literatur an der Akademie der Künste in Berlin (West) inne, seit 1986 ist sie Lektorin im Reinbeker Rowohlt Verlag: Daten einer erfolgreichen Existenz inmitten des Kulturbetriebes.
Der Lyrikband Von beiden Seiten der Gegenwart verweist auf anderes, Disharmonisches, auch Erschreckendes.

Die Welt ist eingeschlafen
in der Stunde eurer Geburt

allein mit den Tagträumen
erweckt ihr sie wieder

roh und süß und wild
auf ein Abenteuer

eine Partie Wirklichkeit lang
unbesiegbar im Spiel

(„An die Dichter“)

Literatur als beschleunigte, intensivere, entgrenzte Wirklichkeit: Das hat zu bedenken, wer es unternimmt, sich den sehr unterschiedlich strukturierten, kühl-diesseitigen oder traumhaft-assoziativen Texten von Karin Kiwus zu nähern.
In ihrem Debütband finden sich mehrfach Elemente einer anverwandelten Poetik des modernen Gedichts:

Was wir hier zu Papier bringen können
ist natürlich nur eine Skizze
ein erster Entwurf
die zögernde Erfindung jedes einzelnen
seine Wunschvorstellung
etwas verschwommen noch
denn es ist schwierig am Anfang
mit den eigenen Mitteln umzugehen
sorgfältig durchdacht deutlich und spontan

(„Übung in freier Malerei“)

Und aus dem Sturmtief der Verwirrung schließlich
wenn alles sich eingetrieselt hat
auftauchen wie ein Zyklon
ruhig durchatmen
und den Kammerton a
anstimmen
a wie Anfang

(„Ende des Illusionstheaters“)

Gewiss hat Karin Kiwus recht, wenn sie meint, dass ein Aufzählen literarischer Vorbilder, oder besser: Vorlieben, wenig über die Beschaffenheit ihrer eigenen Gedichte aussagt. Dennoch, sie nennt Neruda, Majakowskij, Dylan Thomas, Günter Eich, Hölderlin, die ihr wichtig geworden sind. Kein radikales Sich-Abgrenzen von Traditionen also, kein Postulat des abrupten Neubeginnens, das für viele jüngere Lyriker (von Brinkmann bis Theobaldy) zu Zeiten ihres Anfangs so notwendig war, um später Eigenes erarbeiten zu können.
Der Band Von beiden Seiten der Gegenwart wurde vor allem deshalb zu einem literarischen Ereignis, weil es Karin Kiwus gelang, die Richtung fast aller ihrer Gedichte, die Richtung des Abschiednehmens und der Erfahrung immer nur kurzzeitigen Glücks, in sehr verschiedenen, auch divergierenden, Sprachen zu erkunden: Die Gedichte „Alle Herrlichkeit auf Erden“ und „Im Alten Land“ zum Beispiel zeigen die Spannweite ihrer Rede. In „Alle Herrlichkeit auf Erden“ geht die verzweifelte Härte des tabula rasa, der unwiderruflichen Reduktion einer Existenz, in eine neue, hoffnungsfreie Ruhe über:

Auf einem blankgewaschenen Stein hocken
und alle Sinne verlieren
an das Nichts
an das liebliche Nichts

„Im Alten Land“ hingegen hält den Ton beinahe feierlicher Rückschau auf Verlorenes ohne Sentimentalität, einigen der genauesten Texte Ingeborg Bachmanns verwandt. Auch hier keine Stilübung, kein Nachweis, „dies“ eben auch zu können, sondern ein verwandeltes Stück Biographie:

Was ich vermisse, ist Weite, ist ein unbegrenzter Horizont, ist ein fast körperlich empfundenes Gefühl von Freiheit. Wenn ich also eine Landschaft beschreibe – die norddeutsche, weil sie mir lieb und vertraut ist –, so eher aus dem Bewusstsein eines Mangels heraus als eine Erinnerung an eine meiner Wirklichkeiten. (Karin Kiwus).

Angenommen später, der zweite Gedichtband von Karin Kiwus, 1979 erschienen, traf wiederum auf das Interesse prominenter Kritiker. Gerd Ueding, Erich Fried und Helmut Heißenbüttel zum Beispiel versuchten, den Veränderungen der Schreibhaltungen und Textstrukturen auf die Spur zu kommen. Heißenbüttel gestand seine Schwierigkeit ein, „an diese Gedichte heranzukommen“:

Sie haben überall offene Stellen, ja, so könnte man sagen, offene Wunden und sind doch zugleich abweisend. Dieses Abweisende oder Distanzsuchende, nein nicht Suchende, Distanz Aufrichtende, war auch in dem ersten Gedichtband vorhanden. Aber es hatte dort die Form von Abwehr, oft rigoros, geradezu, ohne Umschweife. Das Subjekt, so ist mein Eindruck von diesen neuen Gedichten, ist verletzlicher geworden, verletzter, es ist durch Erfahrungen hindurch gegangen, die tiefer und gründlicher verletzt haben…

„Nichts gelernt“ gehört zu den Gedichten, die sich an die Ränder des noch Sagbaren begeben, die aus dem erinnernden Träumen keineswegs Trost gewinnen für ein Heute, sondern voller Schrecken das Bleibende, den Stillstand festhalten. Den Protokollen des Ungelebten kann, hat man sich einmal für Aufrichtigkeit und Genauigkeit entschieden, wenig entgegengehalten werden. „Das eine und andere Exil“ ist Zbigniew Herbert gewidmet und endet so:

die Poesie Liebe
hast du auf einmal beschwörend gesagt
die Poesie
das ist ein bisschen
Freiheit machen

Eine erstaunlich große Zahl der bisher geschriebenen Gedichte der Karin Kiwus gehört zum Bleibenden heutiger Lyrik und ist auch ein Versprechen auf Zukünftiges. Nach angenommen später hat Karin Kiwus keinen neuen Gedichtband veröffentlicht, nur weniges in Zeitschriften publiziert. Die hier vorgelegte Auswahl erfolgte in Zusammenarbeit mit der Autorin; neben Gedichte aus ihren beiden Bänden treten neue Arbeiten.

Klaus Pankow, Nachwort, Oktober 1986

 

Sinn des Schmerzes

Vor einem Dutzend Jahren erschien der erste Gedichtband von Karin Kiwus, Jahrgang 1942. Der Beifall war kräftig, den die bundesdeutsche Lyrikerin für den Band Von beiden Seiten der Gegenwart bekam. Aus diesem Band, dem nachfolgenden – Angenommen später wie den Manuskripten wählte Klaus Pankow Verse für die eigenständige Reclam-Publikation Zweifelhafter Morgen aus.
Eindeutiger als die Gedichte der siebziger Jahre, sind die der achtziger Jahre Prosagedichte. Auch sie entbehren nicht der inhaltlichen Konkretheit und der sich daraus ergebenden gedanklichen Klarheit. Die Konkretheit und Bestimmtheit der Verse, die nicht durch das spektakuläre Sendungsbewußtsein der Verfasserin veranlaßt werden, öffnen dem Leser die Augen. Manche Zeilen sind wie ein kalter Wasserstrahl ins schlafende Gesicht. Die lyrischen Bilder der Karin Kiwus demontieren die Andachtsbilder der Wohlstandswirklichkeit. Die Autorin hat nie Gefallen daran gefunden, in ihren Gedichten materiellen oder ideellen Morgenröten zuzujubeln oder sie zu verkünden. Ihre Sache ist es, von Morgengrauen zu sprechen, um schließlich zu den Schluß-Folge-Forderungen zu kommen: „steh auf stell dich / wie eine Vogelscheuche / ins freie Feld“. Das ist keinesfalls die Stimme einer Lyrikerin, die den schwarzen Humor liebt.
Karin Kiwus gibt dem Schmerzlichen eine Sprache, nicht, um den Schmerz aus dem Leben zu verdrängen, sondern um zu sagen, wann und wieso Schmerz welchen Sinn hat. Ihre Texte sind also keine Tabletten, die den Schmerz lindern oder bannen. Sie sind auch nicht der sadistische Stich in die offene Wunde. Die Wunden nicht zu verschweigen, die den Menschen geschlagen werden, verlangt, den Blick auf die Wunden zu lenken. Durch die Sicht ohne Scheu gewappnet und nicht „ratlos ohne Mut“, legt die Lyrikerin fest, daß „ein Mensch selbstherrlich wieder als das absolute / Maß aller Dinge“ gilt. Das stets bedacht, verblüfft Karin Kiwus nicht mit originellen Wortkombinationen, die von idealen Absichten ablenken. Sie läßt das traditionelle Vokabular gelten, was es gilt. So können immer wieder überraschende Gedanken-Bilder entwickelt werden, die sich dem Leser leicht erschließen. Mit den Vokabeln auf vertrautem Fuße, wächst die Genugtuung, mit den unvertrauten, gedankenreichen, gedankenanregenden dichterischen Lebensbetrachtungen der Lyrikerin bekannt zu werden.

Bernd Heimberger, Neue Zeit, 11.7.1988

 

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