Karin Westerwelle: Zu Charles Baudelaires Gedicht „Das Confiteor des Artisten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Charles Baudelaires Gedicht „Das Confiteor des Artisten“ aus Charles Baudelaire: Sämtliche Werke, Briefe. 

 

 

 

 

 

CHARLES BAUDELAIRE

Das Confiteor des Artisten

Wie die Tagesneigen des Herbstes durchdringend sind! Ah! durchdringend bis zum Schmerz! denn es gibt gewisse entzückende Empfindungen, deren Unbestimmtheit Intensität nicht ausschließt; und es gibt keine schärfere Spitze als die der Unendlichkeit.
Großes Entzücken wie ein solches, seinen Blick in die Unermeßlichkeit des Himmels und des Meeres zu versenken! Einsamkeit, Stille, unvergleichliche Keuschheit des Azur! ein kleines, zitterndes Segel am Horizont, und das durch seine Kleinheit und seine Isoliertheit meine unheilbare Existenz imitiert, monotone Melodie der Dünung, all diese Dinge denken durch mich oder ich denke durch sie (denn in der Größe der Träumerei verliert sich das Ich schnell!); sie denken, sage ich, aber auf eine musikalische und bildliche Weise, ohne Spitzfindigkeiten, ohne Syllogismen, ohne Deduktionen.
Gleichwohl, diese Gedanken, ob sie aus mir herauskommen oder aus den Dingen aufsteigen, werden bald zu intensiv. Die Energie in der Wollust schafft ein Unbehagen und ein wahrhaftes Leiden. Meine allzu angespannten Nerven geben nichts mehr von sich als schrill-schreiende und schmerzhafte Schwingungen.
Und jetzt bringt mich die Tiefe des Himmels aus der Fassung; seine durchsichtige Klarheit verzweifelt mich. Die Unempfindlichkeit des Meeres, die Unwandelbarkeit des Schauspiels treiben mich zur Revolte… Ach! muß denn das Schöne ewig erlitten oder ewig geflohen werden?
Natur, Verführerin ohne Mitleid, immer siegreiche Rivalin, laß ab von mir! Höre auf, meine Wünsche und meinen Stolz zu versuchen! Das Studium des Schönen ist ein Duell, in dem der Künstler vor Schrecken aufschreit, bevor er besiegt wird.1

 

Zeit und Schock

Wovon das Prosagedicht „Le Confiteor de l’artiste“ eigentlich handele, ist nach erster Lektüre keine ungewöhnliche, keine leicht von der Hand zu weisende Frage. Wohl können einige Topoi oder Gegenstände (elegische Herbststimmung, „Meeresblick mit Zuschauer“) oder auch ein zeitlicher Ablauf im Text fixiert werden: Am Beginn des Stückes steht eine Art poetologische Betrachtung, dann erfolgt die Eröffnung eines Meeres-Himmels-Schauspiels, das in zunehmender Intensität von einer Betrachterinstanz wahrgenommen wird. An seinem Ende steht, nach einem Revolteakt des lyrischen Ichs, das sich von der Zauberin „Natur“ verführen läßt, die Niederlage des Artisten. Verwirrend sind nicht nur die sprunghaften Aussagen und Leerstellen im Text, die bildliche oder gedankliche Zusammenhänge offenlassen, verwirrend ist wohl auch, daß einerseits emphatische oder traditionell geladene Wörter oder Vorstellungen (die „zur Neige gehenden Tage des Herbstes“, die „Weite des Himmels“, die „Keuschheit des Blaus“) beschworen werden, die die Hingabe oder das Interesse des Lesens bewirken. Jedoch bleiben andererseits diese Vorstellungen oder Visionen seltsam unerfüllt, weil sie nicht dargestellt, und das heißt ausgeschmückt werden: von letzter Sonneneinstrahlung, von nassem Laub, von modrigem Geruch oder ähnlichem ist nicht die Rede.
Die Taktik des Verstellens und des Verblüffens steckt bereits im Titel. Widersprüchlich (denn was kann die Kunst im Zeitalter ihrer Autonomie bekennen?), ja vielleicht unauflösbar posierend präsentiert sich das Künstlerbekenntnis des Titels. Wortwörtlich taucht das auch der literarischen Tradition der Konfessionsliteratur zugrunde liegende Motiv des Sündenbekenntnisses im Titel in der liturgischen Formel des „Confiteor“ auf. Der religiöse Gehalt des Confiteor, der in der lateinischen Formel hervorgehoben steht, stößt auf den künstlerischen, denn es ist der Artist, der sein „Ich bekenne mich schuldig“ ablegt. Einige Fragen tauchen auf. An wen kann sich das Geständnis des Künstlers richten? Etwa an Gott? Der müßte dann als die oberste Richterinstanz der Kunst angesprochen sein, denn wie könnte ihm sonst die Kunstsprache der Beichte verständlich sein? Oder dieser Gott, dem alle Dinge und Sprachen verständlich sind, würde nicht über die Kunst, sondern über die ethisch-moralische Verfehlung der Kunst urteilen? Was ist der Inhalt des Geständnisses? Worüber kann ein Dichter als Künstler ein Geständnis einreichen? Etwa, daß er in seinem artistischen Vorhaben gescheitert ist? Daß er als Künstler in seiner Autonomie gescheitert ist und Zuflucht und Gnade bei Gott sucht? Worin liegt dann die Sünde, oder genauer noch, worin liegt das Sündenbewußtsein der Kunst?

Abschiedsstimmung
Mit dem herbstzeitlichen Tagesende, mit der Evokation einer melancholischen Stimmungslage rückt der Text, so möchte man vorerst urteilen, den Topos − oder das Stereotyp − von Abschied und Untergang an seinen Anfang. Idyllisch wirkt der Einstieg gleichwohl nicht. Das Stück beginnt mit dem Blick des Melancholikers auf die Dinge der Welt oder, anders formuliert, die Gegenstände stellen sich unter der sinnlichen Wahrnehmung des Melancholikers dar. Der Dichter als Melancholiker, als der sich der acedia oder dem taedium vitae Hingebende, ist im Angesicht Gottes ein Sünder, sollte sich seine Gottesferne, seine Ferne zur Schöpfung nicht in Gottesliebe wandeln. Das Schuldmoment und sein lustvolles Vergnügen, das Petrarca der Dichtung so intensiv eingeprägt hat, sind also, traditionell kodiert, mit der ersten Textzeile evoziert. Es ist die Schuld desjenigen Melancholikers, der sich von der Welt wegbewegt, dem die Welt Mittel zum Zweck ist.
„Que les fins de journées d’automne sont pénétrantes!“ Ausrufend, mit einem „Que“ eingeleitet, beginnt der Text. Nicht nur staunendes Vergegenwärtigen im Sinne des deutschen „Wie durchdringend doch“, sondern offenes, nicht feststellbares oder eingrenzbares Erschaudern wird hier vorgestellt: der Auftakt findet keinen Vergleich, um jene Durchdringungskraft der sich neigenden Herbsttage zu beschreiben. Die Offenheit der Evokation verleiht dem Prosagedicht seinen besonderen, bizarren Tonfall. Am besten läßt sich das zugleich lakonische und trauernde Moment im Vergleich mit einer traditionellen, lyrischen Satzstruktur erfassen. Gemeint ist eine spezifische Auftaktstruktur von Lyrik, die des Sonetts, das Anheben mit einem metaphorischen „comme“ (wie). Mit „comme“, dem ersten Wort eines Sonetts, wird in einer Vergleichsstruktur ein Vergleichsobjekt bildlich evoziert. Zur Veranschaulichung des differenten sprachlich-inhaltlichen Rahmens sei eine Comme-Eröffnung zitiert. Ronsard beginnt eines seiner berühmten Sonette mit dem Vers:

Comme on voit sur la branche au mois de may la rose (Wie man im Monat Mai auf einem Zweig sieht die Rose).

Der Spannungsbogen, eingeleitet durch das vergleichende „comme“, beginnt sich erst mit dem „Ainsi“ (so) des ersten Terzetts zu schließen: Schön wie die Rose im Monat Mai auf dem Zweig ist die Schönheit, die der Dichter besingt.
Ein solcher metaphorischer Vergleichsbogen wird im Prosagedicht nicht aufgebaut. Der Ausruf des Einstiegs ist ein unvollständiger und unverständlicher Satz. Das Repräsentationsmodell von Sprache ist mit dem ersten Satz gekappt, für die Intensität des durchdringenden Fühlens gibt es keinen adäquaten sprachlichen Ausdruck. Am Prosagedichtanfang ist es folglich nicht bloß die „Welt, die unterm Blick des Melancholikers“ sich auftut. Genau genommen erscheint diese Welt unter dem Blick des Melancholikers nicht. Sie ist nicht vorhanden, sie wird nicht als vorhanden vorgestellt oder vorstellbar. Die Welt erscheint lediglich in einer Abstraktion von ihrem Sein, sublimiert hin auf den Zustand eines empfindenden Subjekts, besser gesagt, auf einen Empfindungszustand des Schmerzes. Bedeutung zieht hier nicht in die Gegenstände des Melancholischen ein. Sondern jener Gegenstand, der in der Evokation des Herbsttagsendes vermeintlich auftaucht, ist als ein transitorischer, in sprachlich zunächst äußerst unverständlicher Form vorgestellt: Bedeutung haftet nicht am herbstlichen Tagesende, sondern in seiner Ausrichtung auf die Empfindung Herbsttagesende. Erst mit dem zweiten Satz, durch die Ausrichtung der strahlend-durchdringenden Qualitäten auf den Schmerz wird der unvollendete Bedeutungsbogen des ersten Satzes geschlossen. Die Herbsttagesenden sind durchdringend bis zum Schmerz. Das heißt jene Herbsttagesenden können in ihrer wahren Durchdringungskraft nicht beschrieben werden: Trauer liegt über ihrer Intensität: ein stöhnendes, schmerzvolles „Ah!“ (oder „Ach!“), kein klares, freudiges, überwältigendes „Oh!“ empfindet ihre Macht; kein Bild oder Vergleich vermag sie in ihrer Gewalt darzustellen, sondern nur die Ohnmacht des Schmerzes verleiht ihnen Ausdruck.
Über diese Grenzen der Darstellung in den Korrespondenzen gibt die anschließende poetologische Betrachtung Auskunft. Stilistisch-sprachlich ist sie in besonderer Weise ausgeführt:

denn es gibt gewisse entzückende Empfindungen, deren Unbestimmtheit Intensität nicht ausschließt; und es gibt keine schärfere Spitze als die der Unendlichkeit.

Die logische begründende Konjunktion „denn“ (car) liefert kein Argument für den vorgestellten Empfindungsmodus. Warum oder auf welche Weise die strahlend-durchdringenden Herbsttagesenden Anteil am Vagen oder an der Wollust haben, wird keineswegs erläutert. Eindringlich heißt es: „il est de“ (es gibt/es sind). Die Formulierung ist der in dem berühmten Correspondances-Gedicht im ersten Vers des ersten Terzetts verwandt:

Es gibt Parfüme, wie das Fleisch von Kindern frisch.

Das, was als Empfindung in der Eingangszeile als eine Art „je-ne-sais-quoi“ evoziert wurde, wird schlicht als Sein behauptet („il est de“); das Unfaßbare ist. Dieser affirmative Charakter ist vor allem in Hinblick auf das Ende des Prosagedichtes festzuhalten. Denn im Schrecken des Artisten taucht, wie zu sehen sein wird, ein gegensätzliches Moment auf: der Schrecken vor dem Nichtsein.
Der Unbestimmtheit „gewisser Empfindungen“, so folgert das Confiteor-Stück in verstellender oder umständlicher Formulierung, kommt sehr wohl die Qualität des Intensiven zu. Die inhaltliche Aussage wird nun parallel noch einmal („il n’est pas de“) sprachtheoretisch oder poetologisch ausgeführt: in Bild und Begriff der scharfen Spitze der Unendlichkeit. Die Spitze, die „pointe“ ist bildlich als Wurfgeschoß, als Pfeil(spitze) zu begreifen, die berührt, trifft und verwundet. Im Gegensatz zu jener Verbildlichung der communicatio mit dem Schönen oder dem Ideal in der lyrischen Liebestradition (etwa bei Dante, Petrarca oder Ronsard), wo Amor mit Köcher und Pfeilen bewaffnet seine Spitzen in das Herz des liebenden Dichters versenkt, bleibt im Prosastück das Bild merklich unvorstellbar. Kein Amor, kein Köcher, kein Herz. Der Grund dafür ist in der Überholtheit der Metaphorik oder allegorischen Darstellung der Amortheologie zu suchen. Die Nichtgegenständlichkeit der Verbildlichung oder die Entfigürlichung des Figürlichen kann durch zwei weitere Details herausgestellt werden: Mit Bedacht steht im Text wegen der semantisch-poetologischen Doppeldeutigkeit das Wort „pointe“ (und nicht etwa „Pfeil“), das heißt jene Spitze meint und be- deutet eine rhetorische Figur, eine paradoxe Wendung: das Concetto.2 Nun bleibt in der pointierten Aussage − wie im übrigen im gesamten bisherigen Auftakt des Prosatextes − gänzlich ungenannt, wen oder was die Spitze durchdringt. Das alte Objekt Herz, der Ort und Topos der Begegnung mit dem Schönen durch die Pfeile Amors, bleibt leer. Jene Durchdringungsintensität, die im ersten Satz als ungeheuerliche Macht, dann als Schmerz hervorgehoben wurde, wird auch hier im Adverb „acérée“ noch einmal, und zwar sehr gegenständlich benannt. Es ist eine Pointe, die nicht spitz (aïgue) ist, sondern scharf wie ein Messer oder ein Schwert schneidet. Wen oder was sie zerschneidet, bleibt offen.
In welchem Verhältnis stehen die poetologischen Bestimmungen, die abstrakt theoretischen Ausführungen des Einstiegs zum folgenden Text? Ist die Entfaltung des Himmels-Meeres-Tableaus in barocker Tradition als eine Explicatio, eine pictura der subscriptio zu lesen?
Im Stil den Anfangssätzen ähnlich, beginnt die Entfaltung des Tableaus:

Grand délice que celui de noyer son regard dans l’immensité du ciel et de la mer!

Die Redeform ist elliptisch, der mögliche Ausdruck „Es ist ein großes Entzücken“ zum unmittelbaren Beginn „Großes Entzücken“ gekürzt. Damit wird der Exempelcharakter des Bildes unterstrichen. Den Blick in die blauen Weiten zu vertiefen, ist eine und zugleich eine exzellente Möglichkeit der Empfindung großen Entzückens.
Was die Bestimmungen jenes großen Entzückens sind, was unter der Erfahrung des Unendlichen zu verstehen ist, wird im folgenden zum ersten Mal genauer, aber wiederum abstrakt bezeichnet. Von den eigentlichen Gegenständen der Vorstellung, dem Meer und dem Himmel, bleibt nur eine substanzlose (schwer zu imaginierende) Eigenschaft, die unendliche Weite, übrig. Allein sie ist im vorgestellten Himmel-Meerblick wichtig, denn schon läuft die poetische Rede in eine Überbietung der abstrakten Begriffe über: Einsamkeit und Schweigen steigern sich zur unvergleichlichen Keuschheit des Azurblaus. An den gelieferten Begriffen ist nicht nur die besondere semantische Nähe zu genau jenen Wörtern, denen traditionell der Vorstellungsgehalt der Unbestimmtheit (le vage) zugeschrieben wird, auffällig. Bestechend ist auch und vor allem ihre theologische Aufladung: In jener kontemplativen Haltung, in einer Art Andachtshaltung, die sich in Meer- und Himmelsweite versenkt, stellen sich die Attribute der Göttlichkeit, zu der auch die Farbe „Blau“ gerechnet werden kann, ein. Rechnet man die evozierten Topoi zu einer Ästhetik des Erhabenen, so kommt man nicht umhin, die offensichtliche und explizite Bezugnahme auf religiöse, theologische oder mystische Konzepte festzuhalten. Losgelöst von religiös-kontemplativer Dignität sind die evozierten Kategorien nicht, mögen sie ihren Ursprung auch an einem anderen − ästhetischen − Ort (Himmel und Meer) und aus einem anderen Vermögen haben.
In der Erscheinung des Unendlichen ist die Anwesenheit des „moi“, der Betrachterinstanz, nicht ausgeblendet, sondern im Bild oder im Schauspiel (im „spectacle“, wie es an späterer Stelle heißt) aufgegangen: Gegenüber der nicht vergleichbaren und das heißt unaussprechlichen Keuschheit des Blaus, gegenüber seiner unendlichen Reinheit zeichnet sich ein zitternd-bebendes Segel am Horizont ab. In einer anderen Beziehung als die Weite des Himmels- und Meeresblaus steht nun das Segel zum Betrachter: Das Segel hat Abbildungsfunktion, es imitiert die Existenz des Betrachters, der hier, an dieser Stelle, zum ersten Mal auftaucht. Aber die imitatio geschieht auf besondere Weise: in oder mittels seiner Kleinheit („par sa petitesse“) und in oder mittels seiner Abgegrenztheit („son isolement“) wird die unüberwindbare Existenz des Dichters („imite mon irrémédiable existence“) dem Segel vergleichbar. Im Gegensatz zum Bild des Unendlichen, das im göttlich- marienhaften Attribut der Reinheit, der Farbe Blau sinnlich erscheint, also als eine reine Erscheinung ausgewiesen ist, dem kein Vergleich und kein Signifikat zugeordnet werden kann, hat das Segel eine zeichenhafte Bedeutung. Weil das Segel klein und abgeschieden am unendlichen Horizont steht, stellt es metonymisch die unüberwindbare Existenz dar. Weil das Segel dem Unendlichen nahe ist, ist die Existenz ohne ein Mittel, sie zu heilen. In der Erscheinung des Unendlichen, des Göttlich-Reinen, bedeutet das sich am Horizont abzeichnende Segel eine Art Befleckung, eine Beschmutzung des Erhabenen: Die unheilbar-unüberwindbare Existenz hat am Heil der Erlösung (in der Erscheinung des Reinen) keinen Anteil, sie geht im Göttlichen nicht auf.
Bereits zu diesem Zeitpunkt der Empfindung und Versenkung wird die Existenz des Betrachters als unheilbare und damit als heillose benannt; ein Makel haftet ihr an. Es tauchen aber keine Widersprüche oder Unstimmigkeiten in der Gegenwart des Unendlichen auf. Das Ich (oder die heillose Existenz) ist in die Dinge versenkt, in der Größe der Träumerei ist es verloren gegangen. Die gebrochene Linie und die Monotonie des S-Tones (délice, celui, son, l’immensité, ciel, Solitude, silence, chasteté etc.) sind jene Eindrücke, die im ersten Stadium der Beschreibung vorherrschen. Auf die lautliche oder synästhetische Dimension einer berauschenden und nicht etwa langweilenden Erfahrung macht ein gesondertes Bild aufmerksam: die „mélodie monotone de la houle“.
Ebenso wie − bildlich gesehen − der Wellenschlag in seinem regelmäßigen Gleichklang hält sich zwischen den Dingen (an sich) und den Dingen in der Wahrnehmung ein Gleichgewicht. Es ist erstaunlich, daß von den zuvor in ihrer Unfaßbarkeit evozierten Abstrakta („l’immensité du ciel et de la mer! Solitude, silence“) nunmehr als von Dingen/Sachen die Rede ist. Alle vorher evozierten Bilder der absoluten Ausdehnungen, Abstrakta also, wer- den summarisch im Ausdruck „toutes ces choses“ (alle diese Dinge) zusammengefaßt. Die Vergegenständlichung zum Ding, die durch das verweisende Demonstrativpronomen „ces“ (diese) noch einmal unterstrichen wird, hebt die Mächtigkeit der Imagination hervor. Jene Durchdringungs- und Bildkraft, die nicht den Dingen innewohnt oder ihnen aufliegt, sondern mit dem Blick auf die Dinge erscheint, jener Schein der Dinge hat sich hier zur Präsenz der Dinge gefestigt. Es ist die Erhabenheit der Träumerei, die das Sein der Dinge in künstlerischer Weise herstellt und wo sich ihr Sein in jener un- greifbaren, flüchtigen Form hält: Wenn das „moi“ sich verflüchtigt hat, aber als „je“ („dis-je“) noch sprechen kann, sind die Dinge nicht bloß als gedachte, sondern als denkende selbst anwesend, und zwar in der künstlerischen Form der Erscheinung: auf musikalische und bildliche Art und Weise („musicalement et pittoresquement“).
Die Flüchtigkeit und mehr noch die Gefahr, die von diesem Zustand der Kontemplation ausgeht, offenbart sich in der Folge. Nun, je länger die Zeit der Versenkung andauert, je mehr das Ich wie von den Dingen besessen ist („Toutefois, ces pensées, qu’elles sortent de moi ou s’élancent des choses, deviennent bientôt trop intenses.“), ist nicht mehr die Herkunft der Dinge entscheidend − die inzwischen ehedem nur noch als „pensées“ (Gedanken, Gedachtes) auftreten −, sondern die Intensität, die ihnen zu eigen ist. Ihre Intensität, die sich schnell steigert, wird bald unerträglich. Gleichwohl bleibt an dieser Stelle ungenannt, wer oder was das Objekt ihrer Einwirkung ist. Ebensowenig wie in den Anfangszeilen des Prosagedichtes wird hier das Objekt oder Subjekt der Empfindung genannt.

Der Schmerz und die Energie gegen die Natur
Daß den Betrachter oder das kontemplative Ich etwas im Modus des Schmerzes oder der Gewalt trifft, geht aus zwei Aussagen des Textes klar hervor. Zunächst erfolgt eine allgemeine Aussage als eine Art Regel („Die Energie in der Wollust schafft ein Unbehagen und ein wahrhaftes Leiden“), dann eine explizit auf den Betrachterzustand ausgerichtete Zustandsangabe („Meine allzu angespannten Nerven“). Inwieweit präzisieren diese beiden Aussagen das schon Gewußte, das heißt, daß der ästhetische Zustand als ein Schmerzzustand zu begreifen ist? Unbehagen und wahrhaftes Leiden sind zunächst Abschattierungen des Begriffes des Schmerzes, der bereits im Anfangssatz des Prosagedichtes genannt wird. Genauer taucht hier aber noch einmal jenes Vermögen auf, das den Schmerz kreiert. Das Schöpfungsvermögen besteht in der Energie der Wollust. Eine gewisse Steigerung der „volupté“ oder der „sensations délicieuses“, wie es in der ersten Ausführung der Logik des Ästhetischen hieß, führt nicht passivisch, sondern aktiv schaffend, das heißt künstlerisch zum Schmerzzustand.3
Mit dem Beginn des Baudelaireschen Prosagedichts und der Untergangsstimmung des Herbstes sind, das haben wir bereits gesagt, die Natur oder jene Gegenstände, die Natur veranschaulichen, bereits verschwunden. Auch im Topos des Meeres mit Himmel taucht die Natur nicht auf, sondern jene Abstraktheit einer unendlichen reinen Weite, in der göttliche Keuschheit, aber kein Leben herrscht. Jene Energie, die hier in der Wollust aktiviert wird, dient folglich dazu, die Natur weiter zurückzudrängen, die Kunst von ihren Naturbestandteilen zu reinigen. Bevor wir nun auf jene Wendung des Gewalt- oder Energievollen, die der scheinbar äußeren Vernichtung von Natur nachstrebt, auf das Ich und seine Nerven zu sprechen kommen, ist auf einen weiteren Bedeutungsgehalt des Begriffes Energie aufmerksam zu machen.
Mit dem Begriff Energie ist nicht lediglich ein, sagen wir, destruktives Vermögen angesprochen. Denn der Begriff Energie meint in der sprachtheoretischen oder rhetorischen Tradition ein bestimmtes Konzept von Sprache. Selbst wenn der menschlichen Sprache eine bestimmte Form der Energie nicht abgesprochen wird, so ist es doch die Sprache oder das Wort Gottes, dem höchste Energie zukommt. „Gott“, so heißt es bei dem Sprachtheoretiker Frain du Tremblay in seinem zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstandenen Traité des langues, „kann in Wahrheit durch sein Wort alles geschehen lassen, was ihm gefällt: Dixit et facta sunt. Er kann gleichfalls bestimmten Wörtern eine so große Mächtigkeit verleihen, daß sie, sobald von Menschen gesprochen, niemals ihre Wirkung verfehlen werden; so geschieht es beispielsweise in den Sakramenten der Kirche.“4 Gottes Sprache ist eine energetische Sprache, weil sie sich unmittelbar als Werk oder Tat vollzieht. Auch für Boileau, den Regelklassiker und Pseudo-Longinus-Übersetzer des 17. Jahrhunderts, ist die Sprache der Bibel energetisch, und weil sie energetisch ist, hat sie Anteil am Erhabenen. Auch die menschliche Sprache hat einen Anteil am Energischen, und zwar insofern, als sie einen gewissen Vorstellungsgehalt in großer Kürze mit Präzision und großer Schnelligkeit und somit mit Erhabenheit evoziert. Der Effekt einer solchen Rede ist das „je-ne-sais-quoi“ der Empfindung, das in der Energie der Sprache entsteht und dem Repräsentationsmodell der Sprache nicht gehorcht. Von diesem Effekt der künstlerischen oder sprachlichen Energie ist in der Wendung zum Nervenzustand des Ichs die Rede.

Die Nerven und das Schöne
Jene vorherige (bildliche) Vergegenwärtigung des Ichs im Schauspiel des Erhabenen als dessen Bestandteil und Konstituens ist hier auf den reinen Empfindungszustand reduziert, der mehr an die Verfaßtheit des Ichs als an die Natur des Erhabenen gebunden zu sein scheint. Jedoch ist mit dem besonderen Spannungszustand der Nerven etwas anderes gemeint als die bloße Ich-Befindlichkeit. Das beweist der logische und zeitliche Sprung zum nächsten Absatz.
Die Sequenz („Et maintenant la profondeur du ciel me consterne“) beginnt mit einer temporalen Bestimmung, die einen weiteren Ablauf in der Zeit und einen Umschlag in der Wahrnehmung des Unendlichen markiert. Erst in diesem Stadium der Empfindung, wo das Schauspiel des Unendlichen Widerwillen und Widerspruch erzeugt, tritt die Ich-Instanz, in Form des wiederholten und insistierenden Reflexivpronomens − („me consterne“ (bringt mich aus der Fassung), „m’exasère“ (verzweifelt mich), „me révoltent“ (treibt mich zur Revolte) − vergegenwärtigt, mit großer Vehemenz auf. Zuvor, im ersten Stadium der Wahrnehmung herrschte die Unpersönlichkeit des Blickes und das Verschwinden des Ichs vor; hier kehrt das Ich mit großer Imposanz hervor. Welche Position markieren in dieser zeitlichen Wendung also die gespannten Nerven?
Die Verflechtung von Kunst und nervöser Krankheit oder Neurose ist vornehmlich aus der Fin-de-siècle-Literatur, beispielsweise eines Joris Karl Huysmans, bekannt: Das Schöne erscheint hier in der Aura des kranken Verfalls. Doch über die Möglichkeit des Schönen in der modernen Gesellschaft haben sich bereits vor dem Ende des Jahrhunderts und zu einer Zeit, als die Psychiatrie ihren größten Aufschwung nahm, Autoren wie Balzac, Baudelaire und Flaubert Gedanken gemacht. Am systematischsten für ästhetische Fragen hat sicherlich Baudelaire, und darin von Edgar Allen Poe beeinflußt, den Zusammenhang zwischen dem Ästhetischen und dem Bereich des Nervös-Pathologischen durchdacht. Das zeigt zum Beispiel seine Rezension von Madame Bovary, in der die weibliche Figur nicht als hysterische Frau, sondern eben als „poète hystérique“ analysiert wird.
Eine Erfahrung, die nicht das Exzessive des ästhetischen Vergnügens, sondern sozusagen nur den Rand, die Grenze oder die Konfrontation des Unendlichen und Endlichen bildet, ist es, die im Bild der Nervenspannung Ausdruck findet. Es ist die Himmels- und Meeresferne, die sich dem ästhetischen Betrachter offenbart; von ihr ist er ausweglos und heillos getrennt. Gegenüber jener leichten Abhebung des Ichs im Bild der metonymischen Figur des zitternden Segels betonen die gespannten Nerven einen erhöhten, gesteigerten Schmerzzustand. Die Ursache oder die Modalität des Schmerzzustandes wird in den aufeinanderfolgenden Stadien für den Leser kaum genauer beschreibbar. Der Schmerz der ästhetischen Empfindung liegt in einem inneren, seelischen Bereich, der nahe an den Zusammenbruch des Empfindens heranreicht. In der Instanz oder dem unsichtbaren Material der Nerven manifestiert sich eine bildlich vorgeprägte Form des Schreienden, die zuletzt im Schrei des Artisten sich enthüllt. Denn das Attribut „criardes“ heißt, beispielsweise auf Farben angewendet, grell-schreiend. In den Nerven manifestiert sich folglich ein stiller Schrei.
Der Wendepunkt oder Umschlag der Erfahrung des Unendlichen im letzten Teil des Prosagedichtes ist nun nicht etwa als direkte Abwendung vom Schauspiel („spectacle“) zu begreifen. In der Fassungslosigkeit und Verzweiflung des Betrachter-Ichs angesichts des Unendlichen vollzieht sich nicht die bloße Abkehr vom Unendlichen. Was hier in der Unwandelbarkeit des Schönen und der Revolte des Ichs so deutlich zum Ausdruck kommt, ist die Distanz des Betrachters zum betrachteten Gegenstand. Jene Aura des Tiefen („profondeur“) und des Klaren („limpidité“) läßt das Schöne in der Ferne erstarren. Auf diese Erscheinungsweise des Schönen weist vor allem auch das Wort „spectacle“ hin. Es bedeutet Schauspiel und unterstreicht zugleich die spektakulären, das heißt die unwirklichen, rein äußerlichen Aspekte einer Vorstellung, die der Betrachter als bloße Inszenierung durchschaut. Was bedeutet diese Kennzeichnung der Ferne der Aura des Schönen als Schauspiel?
Man könnte durchaus sagen, daß hier der Erscheinung des Meeres-Himmels-Schauspiels, den Bildern der Träumerei und Imagination eine Verfälschung, eine Verzerrung, eine Unwirklichkeit angelastet wird. Entscheidend ist hier nicht bloß die Zerschlagung eines romantischen Klischees der Meeresimagination (etwa: melancholischer Dichter am Meer), wie man die Abrückung vom Topos in der Revolte bewerten könnte. Entscheidend ist vielmehr die darstellende Verdeutlichung des Prozesses der Imagination des Betrachters. Deren Macht läßt das eigene Produzierte als das Fremde und Entrückte, wie von einer anderen artifiziellen Maschinerie − einem Deus ex machina − gesteuert, erscheinen. Gegen die Ferne, gegen die eigene Schöpfung und ihre Distanz erhebt sich die Revolte. Die bloß negative Ergriffenheit ist es, die das Ich in einem Akt der Revolte abwenden will. Das Ich revoltiert also nicht gegen das Schöne an sich, sondern gegen eine Seinsordnung, die nur eine klar bestimmte Erfahrbarkeit des Schönen zuläßt. Diese Zweiteilung der Ordnung ist im folgenden rhetorischen Fragesatz klar, beinahe gesetzmäßig, formuliert:

Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau? (Ah! muß denn das Schöne ewig erlitten oder ewig geflohen werden?)

In den französischen Spitzfindigkeiten − die Vor- und Nachstellung des Adverbs „ewig“, die Kommasetzung − kann die deutsche Übersetzung der rhetorischen Frage nicht ganz nachkommen. Ewige Verdammnis im Schönen oder ewige Flucht vor dem Schönen lauten die wenig voneinander abweichenden Entweder-Oder-Varianten.

Amor und die Natur
In einem radikalen Eingriff in die poetologische Tradition und ihre Bestimmungen erklärt nun der Text an seinem Ende die Natur, und nicht das Ideal oder eine das Ideal initiierende Instanz, zur Anstifterin, zur Verführerin einer Überschreitung. Die Apostrophe der Natur („Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi!“) und der von der Natur davongetragene Triumph sind verblüffend, ja sogar rätselhaft. Denn die Ästhetik Baudelaires ist, das haben unterschiedliche Arbeiten herausgestellt, eine Ästhetik „nach der Natur“. Für Baudelaire gibt es weder einen Fluchtpunkt des Absolut-Guten, den Rousseau und mit ihm das 18. Jahrhundert in der Rehabilitierung der Natur und mit dem Konzept der ursprünglichen Güte des Menschen konstruiert haben, noch jene von Lamartine bedichteten harmonievollen Naturentsprechungen.
Mit der radikalen Entwertung und Verwerfung des Naturhaften stimmen die ersten Zeilen des Prosagedichtes überein: Der Untergang der Dinge bezeichnet das Moment des Erscheinens des Schönen. Auch das Meer-Himmels-Schauspiel folgt der Absage an die Idealität der Natur: Nicht das Naturschöne, sondern ein abstraktes, unendliches und unbildliches ästhetisches Denken kommt hier zur Erscheinung. Wie aber ist dann die Schlußpointe des Confiteor-Stückes zu verstehen?
Die Natur wird in abstrakter Form apostrophiert. Sie und nicht das Meeres-Himmels-Schauspiel ist die Verführerin und die immer (aber nicht ewig!) Siegende, die Wünsche und Stolz des Artisten herausfordert. Sie selbst, die Natur, so muß rückschließend gefolgert werden, ist es, die die Revolte des Artisten gegen die Unwandelbarkeit des Himmels-Meeres-Schauspiels initiiert. Deswegen kann auch das Studium des Schönen nur als ein Duell begriffen werden, in dem der Künstler mit der Natur − oder ihren verführerischen Gestalten − kämpft, bevor er von ihr, die ja als immer Siegende bereits tituliert wurde, unweigerlich besiegt wird.
Andere Namen als den der „nature“ tragen in der Tradition der Poesie die als mitleidlose und immer siegreiche Verführerinnen auftretenden Figuren. Sie heißen Cassandre, Marie, Hélène, Olive, Délie, Diane, Laura, Beatrice. Zwar sind auch diese Figuren keine Gestalten aus Fleisch und Blut, aber das ist nicht das Wesentliche. Entscheidend ist ihre transitorische Mittlerfunktion, mit der sie Amor, der Transzendenz des Schönen, zu Hilfe kommen. Sie sind Botinnen.
Der im „Confiteor de l’artiste“ Verführte ist kein durch die Göttlichkeit Amors, sondern er ist der durch die gefallene Natur magisch Verzauberte (Verzauberung liegt im Wort „enchanteresse“) und Besiegte. Deswegen ist ihm die Macht des Schönen aber noch längst nicht fern. Ohne transzendente Setzung oder Ableitung ist sie präsent oder entfaltet sich aus dem Wahrnehmungs- beziehungsweise Imaginationsvermögen des Künstlers. Verführt wird der Artist durch jenen Bestandteil oder Rest, der dem Schönen nicht zugehörig ist, der außerhalb des Schönen Bestand hat. Er läßt sich angesichts des Schönen verführen, den Rest naturhaften und nichtschönen Seins aufzuheben, und das heißt besiegen zu wollen. Bestandteil des Naturrestes ist die eigene, menschliche und unterlegen-schmerzvolle (heillose) Natur des Artisten. Sie selbst im Schönen, im Unendlichen heilen zu wollen, ist der wahnwitzige Akt der Revolte, zu dem sich der Artist hinreißen läßt. Im Angehen gegen das menschliche Unvermögen und in der Verweigerung, das Schöne nur als Schmerz zu erfahren, besteht die Hybris (Wunsch und Stolz) des Artisten und damit der sündige Fall. Anders als der Melancholiker, der sich von der Welt und der Schöpfung trauernd zurückgezogen hat, revoltiert der Artist des Confiteor-Stückes gegen die Schöpfungsordnung. Anstatt bloßer Trauer: Revolte.

Der Schrecken
Als ebenso rätselhaft, aber nachhaltiger vielleicht hat sich beim Lesen des Schlußbildes ein anderes Element eingeprägt, das mit der Verzauberung durch die Natur in engem Zusammenhang steht: das Bild des vor Schrecken aufschreienden Artisten. Die Reaktion des Schreis kann in die Kette der dargestellten (und verbildlichten) Empfindungsmodalitäten des Unendlichen gestellt werden. An erster Stelle taucht das im Meer-Himmels-Schauspiel plastisch in der metonymischen Form des zitternden Segels vergegenwärtigte Ich auf; an zweiter Stelle steht die abstrakt-unsinnliche Ausführung über die Nerven im Spannungszustand; an dritter Stelle steigert sich das Bebend-Zitternde und das Grell-Schreiende zum Schrei.
Um jene Beziehung des Schreis auf den ihn auslösenden Vorstellungsgehalt zu erhellen, ist zunächst die semantische Bedeutung des Wortes „frayeur“ genauer zu erfassen. Daß es sich um einen Wahrnehmungsschrecken handelt, der den Schrei auslöst, ist durch das Wort „frayeur“ bestens gesagt. Gegenüber dem poetologisch einschlägigen Wort „horreur“ − in der Formel „pitié et horreur“ (Mitleid und Schrecken) − betont es nicht diejenige Angst und denjenigen Schrecken, die beispielsweise einer Tragödie entspringen und die selbstverständlich der Einbildungskraft des Dichters/Zuschauers zuzurechnen sind, sondern es hebt genau jene Komponenten in der Wahrnehmung des Ereignisses hervor, die dessen „reale“ Gefahr durch die imaginären Überbietungen, Spiegelungen, Verzerrungen usw. ins Unbewältigbare steigern. Mehr als in das Wort „horreur“ spielt also in „frayeur“ die illusionäre Täuschung, die Angst auslöst, hinein. Die disproportionale oder übersteigerte Angst, die im Wort „frayeur“ steckt, läßt sich im übrigen auch durch die Verwendung des Wortes in den Fallstudien der zeitgenössischen Psychiatrie illustrieren. So kennzeichnet Pierre Briquet in Traité clinique et thérapeutique de l’Hystérie, einer Studie über die Hysterie aus dem Jahre 1859, die Reaktionsweisen der hysterischen Frauen als durch den Schrecken eines Erlebnisses bedingte. Als Beispiele solcher „frayeur“-Vorfälle nennt Briquet den unerwarteten Anblick einer Leiche oder eines Kampfes zwischen mehreren Männern, das Sehen eines sich aus einem hohen Fenster stürzenden Bruders. Der Schreckensschrei selbst kann dabei zum Szenario des hysterischen Anfalls gehören. Die psychiatrische Rekonstruktion und Therapie des hysterischen pathologischen Falls verankert dessen auslösende Ursache in der realen Erlebniswelt, sieht aber im (vornehmlich weiblichen) Subjekt, in seiner physischen und psychischen Verfassung, die Bedingungen der Genese der Neurose.
Will man der Ursache und dem Gehalt des Schockerlebnisses im Prosagedicht auf den Grund kommen, erweisen sich die psychologischen Kategorien, die den Vorfall an ein zufälliges, unfallähnliches Ereignis und an die Reaktionsstruktur des Subjektes knüpfen, als nicht ausreichend. Auch die Ableitungen des Schockbegriffes bei Walter Benjamin aus der frühen psychoanalytischen Theorie Freuds und die − lockere − Hinführung dieser Verstehenskomponenten zu Baudelaire überzeugen nicht. Entscheidend für die Interpretation Benjamins und sein Mißverständnis ist, daß er den Erlebnishorizont der modernen Welt und Stadt Paris auch als Urgrund der ästhetischen Schockerfahrung angesehen hat.
Die Verwechslung oder zumindest partielle Vermischung des historisch-gesellschaftlichen Horizonts mit dem Ästhetischen schimmert in vielen Formulierungen und Ableitungen Benjamins bezüglich des Schockbegriffes durch. Prinzipiell scheint die Ineinssetzung durch eine gewisse Unentschlossenheit bedingt, den modernen Erfahrungshorizont des Menschen und die poetische Produktion in eine entschiedene Beziehung der Vermittlung zu setzen. Fließend gehen die Ausführungen Benjamins von den allgemeinen Voraussetzungen der psychoanalytisch verstandenen Schockabwehr − ihrer Leistung, „dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein anzuweisen“ − zum Künstler Baudelaire, der das Duell oder „die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit hineingestellt“ hat, und zum Mienenspiel des Dandys über. So ist es denn auch einerlei, wo die Schocks begegnen:

Die Psychiatrie kennt traumatophile Typen. Baudelaire hat es zu seiner Sache gemacht, die Choks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren, woher sie kommen mochten („Charles Baudelaire. Ein Lyriker in Zeiten des Hochkapitalismus“).

In bezug auf das Baudelaire-Gedicht „Le Soleil“, wo sich der Dichter als einsamer Flaneur zeigt, der mit Wörtern und Reimen, nicht aber mit der oder in der Menge ficht, hat Benjamin von der verborgenen, also heimlich anwesenden Menge gesprochen. Von dieser Menge in den Riesenstädten kann im „Confiteor de l’artiste“ auch als verborgener nicht die Rede sein. Sie taucht, was erstaunenswert ist, hier nicht einmal andeutungsweise auf. Deswegen kann auch die Figur des Schocks nicht mit der Berührung der großstädtischen Massen ins unmittelbare Verhältnis gesetzt werden. Ihr Nichtvorhandensein mag Indiz dafür sein, in welche Distanz die „moderne Dichtung“ Baudelaires sich zur Stadt gestellt hat, sie mag weiterhin Anzeichen für die Nichtfundiertheit des Schockbegriffs im psychologisch oder auch mimetisch aufgelösten Erleben sein. Für diese Distanz zum unmittelbaren, quasi naturhaften Erlebnishorizont spricht auch die strenge rhetorische Kodierung der Schock- oder Duellmetaphorik in der letzten Zeile des Prosagedichtes. Die Figur des Fechters beziehungsweise des Duells, die hier als Träger und als Höhepunkt des (ästhetischen) Affektes auftaucht, ist in der Rhetoriktradition schon bei Quintilian (Institutio Oratoria) verbürgt. Die figürliche Sprache der Endzeile ist keine spontane und unmittelbare, sondern reflexive Rede. Der evozierte rhetorische Topos ist als Kommentar des Prosastückes zu lesen: Jene Wirkungsweise des Prosastückes wird nicht einfach sich selbst (dem Leser) überlassen, sie stellt sich nicht wie ein Tableau dem Leser dar, sondern sie wird in eine Struktur oder ein Modell gefaßt. Anders formuliert: Hier wird der Redeeffekt, seine sprachliche Produktion und Rezeption bezeichnet und damit zumindest teilweise auch zerstört. Um so frappierender − und von der Tradition des Topos abweichend − ist deshalb der Einbruch des Schreis, der unartikulierten Sprache, in den festgefügten figürlichen Rahmen. Der Ausfall von Sprache produziert sich, das wird gesagt, an der Stelle ihrer höchsten Konzentration.
Auf jene sprachschöpferische Dimension, und das heißt auf jene Entfernung von der Stadt, auf die Erfahrung des Fremden in der Thematik oder im Stoff des modernen Lebens ist begrifflich bereits im Widmungsgedicht des Spleen de Paris hingewiesen. Ein vom Dichter entdecktes dichterisches Verfahren soll nicht auf „die Beschreibung des modernen Lebens“, sondern vielmehr auf die Beschreibung „eines modernen und viel abstrakteren Lebens“ angewandt werden.5 Deckungsgleich mit dem modernen Leben oder mit einer Theorie der Gegenwart ist das Projekt Baudelaires folglich nicht. Ebensowenig existiert ein bestimmtes modernes Leben, sondern eine potentielle Vielzahl von Vorstellungs- oder Imaginationsmöglichkeiten des modernen und abstrakten Lebens.6
Das Fremde − oder wenn man so will, das Moderne −, das sich im Confiteor-Stück offenbart, ist in keiner verweisenden Geste angezeigt. Wohin die Revolte führt, bleibt in der Darstellung offen. Aber jenes Etwas, was ungenannt und ungezeigt bleibt, leitet sich aus der Struktur des Prosagedichtes und der Empfindungsmodalität des Schreckens („frayeur“) ab.
Setzt man die beiden Wörter „spectacle“ und „frayeur“ ins Verhältnis, werden die Art und Weise sowie die Heftigkeit der Peripetie angesichts des Erhabenen ermeßbar. Denn während mit dem ersten Wort „spectacle“ und seiner Inbezugsetzung des Betrachters zum Bild (oder zur Erscheinung des Schönen) größtmögliche, klare und souveräne Distanzierung bezeichnet sind, findet sich in der „frayeur“-Wahrnehmung genau diese Distanz aufgehoben. „Frayeur“ empfindet man angesichts unerwarteter und bedrohlicher Nähe einer Gefahr, wenn die Möglichkeit des Ausweichens oder der Rettung aussichtslos scheint. Die Ferne des Schönen ist nahe gerückt, es produziert sich der Wahrnehmungsschrecken. Das, was den Künstler vor Angst und Schrecken aufschreien und ihn mit dem Schrei aus der kontemplativen Sprachlosigkeit in seine Kreatürlichkeit zurückfallen läßt (von der er besiegt wird), ist ohne Frage jenes leblose Erstarrungsvermögen (Unempfindlichkeit, Unwandelbarkeit) der Dinge, in denen er als Künstler sich zunehmend in der Aufhebung von Ferne auflöste und verlor. Denn die Ferne des Meeres-Himmels-Schauspiels in Nähe verwandeln zu wollen, heißt eben nicht, seine Macht zu durchbrechen, sondern in seinen Wirkungskreis zu gelangen. Jenen Anteil, den der Künstler qua Revolte an der Gefühllosigkeit des Meeres, am Unwandelbaren des Schauspiels selber einnimmt, bringt ihn in die Nähe des Todes. Die „frayeur“ ist der Schrecken vor der Gegenwart des Todes. Mit dem Schrei, mit der unartikulierten Sprache, wird dem Stillstand und dem Schweigen der Dinge eine Grenze gesetzt.
Wie unendlich groß der Abstand zwischen den Dingen in ihrem natürlichen und ihrem artifiziell-künstlerischen Sein geworden ist, wird durch die janusköpfige Gestalt der Natur im Prosagedicht erkennbar. Janusköpfig ist sie als zum Duell Verführende und als im Duell immerzu Siegend-Strafende. Der Wunsch, Natur im Schönen, im Unendlichen aufzuheben, ist von der Sichtwarte des künstlerischen Zustands derart manifest, daß die Natur selbst als Verführerin, als Anstifterin der eigenen Transformation zum Schönen erscheint. Der verzaubernde Bann, der von der Natur ausgeht, ist so gewaltig, daß der Artist sie anfleht, von ihren Verführungsunternehmungen abzulassen. Die Natur fordert in ihrem Natur-Sein, das um so deutlicher hervortritt, als der Künstler das Schöne zur Erscheinung gebracht hat, zu nichts weniger heraus, als sie zu überwinden. Die Präsenz der Natur ist unerträglich, sie ist das Böse schlechthin: Sie erscheint gleichsam als paradiesische Schlange, sie ist die mitleidlose Verführerin, die die Hybris des Artisten und seinen Sündenfall herausfordert.
Jene Überbietung, zu der die Natur anstachelt, gelingt nicht. Die Revolte des Artisten erreicht ihr Ziel nicht. Es sei denn, darin läge das Ziel der Kunst und der Revolte, ein Scheinhaftes wahrzunehmen. Denn in der Durchsetzung der Revolte, in der Annäherung an ihr Ziel, erweist sich das Ziel selbst als Illusion, als Wahn. Genau diesen Sachverhalt hält die semantische Bedeutung von „frayeur“ fest: Mit dem Wort ist ein Täuschungszusammenhang beschrieben, der auf die übersteigerte und inadäquate Reaktion des Betrachters angesichts der relativ harmlosen, aber schreckauslösenden Gegenstände hinweist. Es ist die Hybris des Artisten (seine Wünsche, sein Stolz), die das Wahnmoment und den Wahrnehmungsschock bedingt. Vor der selbstproduzierten Gestaltnahme seiner Revolte, der Wahrnehmung des Scheinhaften, schreit der Artist auf. Was läßt sich abschließend über den Empfindungszustand, der Schrecken auslöst, selbst sagen?
Zur Klärung dieser Frage ist es wesentlich, auf den Augenblick des Schreis aufmerksam zu machen. Der Schrei ereignet sich in einer dem Sieg der Natur vorausgehenden Zeit, er findet in zeitlicher Differenz zum Sieg der Natur statt. Der Artist schreit folglich nicht, weil er von der Natur besiegt wird. Er antizipiert, so könnte man höchstens formulieren, den Sieg der Natur. Der Artist schreit auch nicht, weil er sich vom Schönen besiegt sähe. Sein Schrei ist nicht der Schrecken vor dem Schönen. Der Schrecken stellt sich also angesichts der Deformation des Schönen ein: Die Intention, das Schöne im Modus der Dauer beziehungsweise der Ewigkeit zu produzieren, endet in der abgewehrten verheerenden Erfüllung. Im Aufeinanderstoß des Widersätzlichen ereignet sich der Schock: Der Artist schreit, weil er furchtvoll wahrnimmt, wie sich die energievolle Wendung gegen die Natur in ihr Gegenteil verkehrt hat − sie bringt das Schöne selbst zum Verschwinden. Der Schrecken ist also nur ein Abglanz jenes ästhetischen Empfindens, das in der Empfindung des Unendlichen im ersten Teil des Prosagedichtes theoretisch definiert oder apostrophiert wurde.
Ist aber nun das „frayeur“-Moment (und damit der Akt der Revolte) der Kunst konstitutiv (denn immer handelt es sich ja darum, das Schöne als das gegen die Natur Stehende zu erfinden), so erfüllt es eine wesentliche Funktion: Die Überschreitung im Akt der Revolte markiert die Grenzziehung der Kunst gegen die Natur. Nur im Phänomen der Niederlage, im Angstschrei und im endgültigen Sieg der Natur, zeichnet sich das Schöne als das Unerreichbare und damit als das Flüchtige ab. Es ist dem Ewiglichen, der „Leerheit einer nichtssagenden abstrakten Schönheit“, wie Baudelaire in Der Maler des modernen Lebens schreibt, abgerungen. Anders als Benjamin meint, kann deshalb nicht die Rede davon sein, daß der Künstler dem Schrecken oder dem Schock ausgeliefert sei und sie pariere, „woher sie kommen möchten“. Primär ist der Schock nicht das dem Künstler begegnende, sondern das produzierte Empfinden des Schönen, das sich im Zuge der willentlichen und energievollen Überschreitung zum plötzlichen Wahrnehmungsschrecken steigert.
Es hat also etwas Befremdliches, wenn das Prosagedicht sich mit seinem Titel als Schuld- oder Sündenbekenntnis präsentiert. Denn erstens widerlegt jene Gesetzmäßigkeit der Niederlage, die im letzten Satz des Textes als stetige Wiederholung statuiert wird, die Annahme der Bußfertigkeit des Künstlers. Das Studium des Schönen wiederholt sich als Herausforderung der Natur und hinsichtlich des Ewigkeitsanspruches als Niederlage des Artisten. Gebeichtet wird − zweitens − nicht die Niederlage der Kunst, sondern eingestanden wird vielmehr die Unmöglichkeit der utopischen oder erlösenden Funktion von Kunst. Das Böse, das die Natur verkörpert, kann die Schöpfung des Artisten nicht in zeitlicher Dauer aufheben. Das „Confiteor“ ist also kein Reue-, sondern ein Sündenbekenntnis in Form einer Anklageschrift: Der künstlerische Schöpfungsakt wird der göttlichen Schöpfungsgeschichte konfrontiert. Innerhalb der von Gott geschaffenen Ordnung der bösen Natur offenbart der Artist sein Bekenntnis: Es besteht in der gescheiterten Revolte gegen das Böse.

Karin Westerwelle, Merkur, Heft 533, August 1993

1 Antwort : Karin Westerwelle: Zu Charles Baudelaires Gedicht „Das Confiteor des Artisten“”

  1. Ulrike Mellert sagt:

    Ist ‚Confiteor‘ nicht auch Glaubensbekenntnis, der Urgrund des eigenen Selbstverständnisses (des Künstlers)? Und: warum ist die Natur Rivalin? Vielleicht stellt sie ja in ihrer gestalterischen Kraft, nicht im Böse sein, den Künstler immer wieder vor einen Vergleich und einen Konkurrenzkampf. Um selbst noch schöpferisch sein zu können, muss er sich abgrenzen von dem Sog, dem er sich doch nicht wird entziehen können. Ist vielleicht U h Neid ein Thema.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00