Karl Mickel: Zu Rainer Kirschs Gedicht „Sterbelager preußisch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Kirschs Gedicht „Sterbelager preußisch“ aus Rainer Kirsch: Kunst in Mark Brandenburg. –

 

 

 

 

RAINER KIRSCH

Sterbelager preußisch

Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten.
So daß, wenn du schon ahnst, daß du bald kippst,
Du immerhin vor Schluß die Zeichen übst,
Die andern ohne dich an Auskunft böten,
Was die, träg lallend, eignen Blicks nicht finden:
Der Stumpfsinn ihre Brunst. So aber bleibt
Was Stachelndes, das sie zum Blinzeln treibt:
Die Mücken, doch noch, tanzen um die Linden,
Mittage wehn, Handwerker kaufen Schnaps,
Systeme blühn und reifen zum Kollaps,
In ferner Landschaft schießt man sich um Reis,
Der Tod hebt an im Mund, sein Farb ist weiß;
Und schneller drehn sich in der Welt die Dinge,
Um die es, ginge es um noch was, ginge.

 

Der zitierbare Kern

Das Sonett dankt seine Existenz zwei Anregungen, und es enthält vier Gedichte, die einander durchdringen. Hier die Anregungen:
Erstens: Der Titel deutet auf Christian Ewald von Kleist. Kleist hatte einem Kameraden aus seinem Kreis dringlichst geraten, Sex statt Waffenruhm zu erstreben, aber der Rat war adressiert an den Toten; die außerordentliche Elegie „An Hrn. Rittmeister Adler“ ist Nekrolog. Wie Adler 1746 bei Landshut endete Kleist 1759 bei Kunersdorf. Mit dreizehn starken Kontusionen führte er sein Bataillon zum Angriff, die vierzehnte Wunde warf ihn vom Pferd. Während des Verblutens philosophierte er stoisch. Das „Sterbelager preußisch“ ist der Ort zwischen Wissen und Tun; wir können ihn auch Stalingrad nennen.
Zweitens: Vor wenigen Jahren wurde Kirsch gebeten, er möchte Petrarca-Kanzonen übertragen. Seither steht ihm petrarkistisches Denken zu Gebote. Wilhelm Heinse hat schlüssig bestimmt, was Petrarkismus sei: Wollust und Metaphysik, zu reinster Form amalgamiert. Oder, poetologisch gesagt: der unmittelbar sinnlichen Großstruktur werde mindestens eine autonome symbolische Evolution eingefabelt. Das Verfahren säkularisiert die hochscholastische Bibelexegese: die Interpretation der Mehrfachbedeutungen gleicher Wortlaute.
Das erste Gedicht im Sonett fragt, ob ein Testament oder letztes Wort sinnvoll und möglich sei
„Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten“. Was spräche für sie? „Die andern ohne dich an Auskunft böten, / Was die, träg lallend, eignen Blicks nicht finden“: Weitergabe des Wissens also.
„So aber bleibt / Was Stachelndes, das sie zum Blinzeln treibt“: Blinzeln ist visuell, was Lallen akustisch ist. Danach setzt Gedankenflucht ein; Allerweltsfloskeln bilden ihr fragmentarisches Mosaik. Mücken/Schnaps/Reis. Derart faseln die Lebenden auch, der Sterbende lallt und blinzelt wie sie.
Das zweite Gedicht im Sonett stellt das Sterben von innen vor. „So daß, wenn du schon ahnst, daß du bald kippst, / Du immerhin vor Schluß die Zeichen übst“: das Bewußtsein ist helle; der Moriturus ist privilegiert zu Segen oder Fluch; aber der Geist verliert die Schärfe, ehe er die Formel gepackt hat. Rudimentäre Bilder spuken. Mücken/Linden/Mittage/Handwerker/Schnaps. Die Sinne wirren: „Der Tod hebt an im Mund, sein Farb ist weiß“. Schmecken und Sehen fallen in eins. „Und schneller drehn sich in der Welt die Dinge“: das schwindende Subjekt registriert den letzten Eindruck.
Das dritte Gedicht im Sonett erörtert eschatologisch, inwiefern etwa der geargwöhnte Tod der Gattung im individuellen Sterben trösten könne? Tatsächlich haben ja hundertfünfzig Jahre Industrie die Biosphäre an den Rand des Kollapses gepowert. „Und schneller drehn sich in der Welt die Dinge, / Um die es, ginge es um noch was, ginge“. Der Ort zwischen Wissen und Tun ist allgemein geworden: Gemeinplatz. „Die Mücken, doch noch“. /… / „In ferner Landschaft“. Meine Sinne trüben mich nicht, der Strudel existiert objektiv, die Welt schlingt sich. „Systeme (Plural!) blühn und reifen zum Kollaps“. Sie mästen die Todeslust. Das vierte Gedicht im Sonett prüft sich selbst. „Merkbare Sätze, hör ich, sind vonnöten“. /… / „Um die es, ginge es um noch was, ginge“. Die Interjektion hör ich scheint Brecht geschuldet, jedoch Kirsch hört Kirsch. Andernorts hatte er dargetan, das gute Gedicht berge einen zitierbaren Kern; dieser sei Qualitätskriterium. Der atemraubende Zug von Vers 1 zu Vers 14 erfüllt es formell, indem er es verbal verneint. Klare Form widersteht dem Nichts, zugleich spricht sie den Bann über nichtswürdiges Dichten. Wir können nun die Verse 2 bis 13 lesen als einen polemisch-parodistischen Themenkatalog modischer Poesie.

Karl Mickelaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991

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