Karl Riha: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Untergang der Städte Sodom und Gomorrha“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Untergang der Städte Sodom und Gomorrha“ aus Bertolt Brecht: Gedichte Bd. 9. Nachträge zu den Gedichten 1913–1956. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Untergang der Städte Sodom und Gomorrha

1
Die Stadt Sodom und die Stadt Gomorrha
Denkt ihr euch am besten ganz wie unsere Städte.
So wie unsre Stadt Berlin und unser London.
Weder prächtiger noch schmutziger, weder
Reicher, noch auch ärmer, unbewohnbar
Und doch unverlaßbar, ganz wie London
Und Berlin war Sodom und Gomorrha.

2
Ihre Sünden waren wie die unsern
Schal und schamlos. Mit der goldenen Scharre
Kratzte sich der Aussatz, und der Lorbeer
Welkte hin von der Berührung
Dieser Stirnen. Und ein Lachen
Stieg aus Gärten auf, und aus Fabriken
Stieg ein Rauch.

 

Einzelanalyse

In allen ihren Phasen – von den Augsburger Anfängen, der Münchener und Berliner Zeit über das dänische und amerikanische Exil bis in die späten Arbeiten der Ostberliner Nachkriegsjahre – enthält die Lyrik Bertolt Brechts eine große Fülle von Großstadtbezügen. Einen markanten Einschnitt innerhalb der literarischen Entwicklung vor dem Zweiten Weltkrieg, die im politisch-gesellschaftlichen Bereich durch die Hinwendung des Autors zur kämpfenden Arbeiterklasse und sein offenes marxistisches Engagement begleitet wird, bietet – nicht nur ihrer Massierung, sondern vor allem ihrer thematischen Konzeption und formalen Strukturierung nach – eine Reihe eng zusammengehöriger Gedichte, die 1930 unter dem Titel Aus dem Lesebuch für Städtebewohner als zweites Heft der Versuche veröffentlicht wurden, zum Großteil aber schon einige Jahre früher – in etwa zeitlich parallel zur Edition der Hauspostille – entstanden sind: in ihr ist die frühe Lyrik zusammengefaßt und abgeschlossen. Man trifft hier auf ein Bild der Großstadt, für das der Titel eines der frühen Dramen, an dem Brecht bereits 1921 gearbeitet hat, signifikant ist: Im Dickicht der Städte. Das Stück spielt in Chicago; die einprägsame Titel-Metapher resultiert aus der Lektüre von Rudyard Kiplings (1865–1936) Dschungelbuch und Upton Sinclairs (1878–1968) amerikanischen Romanen. Reale Großstadterfahrungen konnte der Autor zunächst in München, wo er 1917 das Medizinstudium aufnahm, dann – während eines ersten Aufenthalts dort im Jahre 1920 – auch in Berlin machen; zusammen mit Arnolt Bronnen (1895–1959) schrieb er 1924 an dem Entwurf Die zweite Sintflut:

Das gigantische Thema einer Zerstörung der babylonischen Großstadt, die sich menschenmörderisch gebärdet, fasziniert Brecht.1

Während seines Exils lernte er Prag, Stockholm, Moskau, London, Paris und New York kennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er über die Schweiz nach Ostberlin zurück und hatte hier die Ruinen des Krieges wie die ersten Anstrengungen des Wiederaufbaus vor Augen. All dies hat besonders in seiner Lyrik Spuren hinterlassen.
Was die Großstadt-Konzeption Brechts in den frühen und mittleren zwanziger Jahren angeht, kann man bei einem Vierzeiler ansetzen, der an Goethes „Ein Gleiches“ anschließt; er ist „Über die Städte“ überschrieben und greift Motive auf, die auch sonst in den Versen dieser Zeit zu finden sind:

Unter ihnen sind Gossen
In ihnen ist nichts, und über ihnen ist Rauch.
Wir waren drinnen. Wir haben nichts genossen.
Wir vergingen rasch. Und langsam vergehen sie auch
.2

Besonders das Motiv der Vergänglichkeit der ,großen Städte‘ wird an verschiedensten Orten in verschiedenster Weise variiert. So heißt es beispielsweise in „Bidis Ansicht über die großen Städte“:

1
Allenthalb sagt man es nackt:
Jetzt wachsen die Städte: zuhauf!
Und dieses Petrefakt
Hört nicht mehr auf.

2
Weil ich bekümmert bin
Daß dieser Menschheit abgeschmackt-
es Gewäsch zu lang in
Den Antennen hackt

3
Sage ich mir: den Städten ist
Sicher ein Ende gesetzt
Nach dem sie der Wind auffrißt
Und zwar: jetzt!
3

Diese absehbare Erwartung wird eng an die eigene Existenz des Dichters gebunden, jedenfalls in der Form, in der sie als amerikanisch eingefärbte Rollen-Biographie in der durch François Villon (1431 bis nach 1463) beeinflußten Ballade „Vom armen B.B.“ in Erscheinung tritt; sie bildet bekanntlich – den Augsburger Jugendfreunden gewidmet – den Beschluß der Hauspostille:

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehn mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End
.4

Das Leben in diesen Städten ist durch entleerte zwischenmenschliche Bezüge, radikale Gefühlsskepsis, die als Gleichgültigkeit und Gefühlskälte an den Tag dringt, und nüchterne Konzentration auf das Nächstliegendste gekennzeichnet. In seiner ,sachlichen‘ Haltung ist der Autor durch Katastrophen und Untergangsvisionen nicht zu irritieren; das Gedicht schließt:

Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte
In Häusern, die für unzerstörbar galten
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan
Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten).

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!
Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es.
Wir wissen, daß wir Vorläufige sind
Und nach uns wird kommen nichts Nennenswertes.

Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit
Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen
Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit.

Angesichts der von Amerika ausgehenden Weltwirtschaftskrise – mit dem Stichdatum des Börsenkrachs vom 24. Oktober 1928 – nimmt Brecht diese prospektive Perspektive auf und spricht, als habe sie sich nun eingelöst, vom „Verschollenen Ruhm der Riesenstadt New York“:

Wer erinnert sich wohl noch
An den Ruhm der Riesenstadt New York
In dem Jahrzehnt nach dem großen Krieg?
5

Die nächstfolgenden elf Textabschnitte dieses längeren Gedichts singen das Lob dieser Metropole, veranschaulichen es an den Leitbildern, die nach 1918 in alle Welt von ihr ausgegangen sind, illustrieren es an herausgegriffenen Beispielen des ,american way of life‘, um dann ironisch einzuschränken: es habe der Ruhm, der auf ein Jahrhundert kalkuliert gewesen sei, nur gerade acht Jahre gedauert! Folglich kippt die zweite Hälfte des Gedichts ganz in die Demontage dieser Prosperitäts-Euphorien um:

Welch ein Bankrott! Wie ist da
Ein großer Ruhm verschollen! Welch eine Entdeckung:
Daß ihr System des Gemeinlebens denselben
Jämmerlichen Fehler aufwies wie das
Bescheidenerer Leute!

Das Lesebuch für Städtebewohner – ein zusammenhängender Zyklus von Prosa-Gedichten mit zahlreichen Zusätzen, die ein größeres und erweitertes Konzept sichtbar werden lassen – geriert sich als eine Art Ratgeber, als eine Art Anweisungsbuch für Großstädter. Der didaktische Impuls, der formal in Anreden zum Ausdruck kommt, die an ein fiktives Gegenüber gerichtet sind, geht dabei von großstädtischem Verhalten aus, wie es auch schon in den bislang genannten Gedichten fixiert und aufgezeichnet worden war, so etwa durch folgende, hier nachzutragende Strophen in „Vom armen B.B.“:

Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze
Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch.
Ich sage: Es sind ganz besonders riechende Tiere
Und ich sage: Es macht nichts, ich bin es auch.

In meine leeren Schaukelstühle vormittags
Setze ich mir mitunter ein paar Frauen
Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen:
In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

Gegen Abend versammle ich um mich Männer
Wir reden uns da mit „Gentlemen“ an.
Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen
Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich frage nicht: Wann?

All dies wird nun im Sinne einer umfassenderen Vermittlung von Erfahrung – mit dem Anspruch der Unterweisung, der Belehrung – erweitert, kodifiziert und aus dem bloßen Bericht in den provokativen Imperativ gehoben. Gegenüber der bislang dominierenden Charakterisierung des Großstädters durch Gefühlsleere und Gefühlskälte kommt nun verschärfend hinzu, daß Anonymität, Verfremdung, Egoismus, Brutalität, Prostitution, Einsicht in die Nichtigkeit des einzelnen Individuums etc. scheinbar uneingeschränkt zu positiven Werten, zu Tugenden erklärt werden. Jeweils am Schluß der Gedichte finden sich jedoch Notierungen wie „Das wurde mir gelehrt“, „Das hast du schon sagen hören“, „Das habe ich schon Leute sagen hören“ etc., die deutlich machen, daß es sich ja eigentlich um den Transport von Maßregeln, um referierte Äußerungen handelt. Der Verfasser deckt sich also nur bedingt mit den Überzeugungen, die er so dezidiert äußert; das gibt auch dem Leser die Möglichkeit einer distanzierteren Betrachtung!
Das achte Gedicht im Zyklus erklärt den Verzicht auf Träume, auf Hoffnungen zum Gebot der Stunde; Kontrakte werden nicht eingehalten, man muß lernen, daß man fertiggemacht wird:

Denkt nur nicht nach, was ihr zu sagen habt:
Ihr werdet nicht gefragt.
Die Esser sind vollzählig
Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch.
6

Aber offensichtlich hatte Brecht vor, diese negative und deprimierende Aussicht auch zu attackieren; abweichend von den vorhergehenden Texten schließt er hier jedenfalls mit „Aber das soll euch / Nicht entmutigen!“ ab. Und im Umkreis des Lesebuchs ist auch ein Gedicht wie das folgende entstanden, das die Negativität der Großstadt dadurch beleuchtet, daß es – und wohl nicht nur ironisch gemeint – die schöne Utopie einer anderen, einer veränderten Stadt entwirft:

Die Städte sind für dich gebaut. Sie erwarten dich freudig.
Die Türen der Häuser sind weit geöffnet. Das Essen
Steht schon auf dem Tisch.

Da die Städte sehr groß sind
Gibt es für die, welche nicht wissen, was gespielt wird, Pläne
Angefertigt von denen, die sich auskennen
Aus denen leicht zu ersehen ist, wie man auf dem schnellsten Wege
Zum Ziel kommt.

Da man eure Wünsche nicht genauer kannte
Erwartet man natürlich noch eure Verbesserungsvorschläge.
Hier und dort
Ist etwas vielleicht noch nicht ganz nach eurem Geschmack
Aber das wird schleunigst geändert
Ohne daß ihr euch einen Fuß ausreißen müßt.

Kurz: ihr kommt
In die besten Hände. Alles ist seit langem vorbereitet.
Ihr Braucht nur zu kommen
.7

Mit dem Entwicklungsgang seiner – bis zu diesem Punkt angedeuteten – Großstadtlyrik hat Brecht Positionen gesetzt, auf die er in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, aus jeweils aktueller Situation heraus, zurückgreifen konnte. Das eingangs zitierte Gedicht vom „Untergang der Städte Sodom und Gomorrha“ beispielsweise, in dem sich die frühen, expressionistisch vermittelten Motive von der Vergänglichkeit und Vernichtung der großen Städte rekapitulieren, ist 1935 – also im dänischen Exil – entstanden: der ,Blick zurück‘ auf die nun unerreichbare, von Nationalsozialisten beherrschte und indoktrinierte Stadt mag an dieser Wiederaufnahme mitgewirkt haben. Hatte den Expressionisten der Vergleich mit den großen – verworfenen – Städten der alten Geschichte dazu gedient, eine eigene Aura des Untergangs zu erzeugen, so argumentiert Brecht gerade umgekehrt: er entwertet die Bibel-Paradigmata Sodom und Gomorrha als Mittel einer mythologisch-pathetischen Katastrophen-Stilisierung, indem er ihre Sünden-Signaturen mit den Symptomen der Gegenwarts-Stadt New York ineinssetzt. – Als „große Babel“, die ,Freiheit‘, ,Gerechtigkeit‘ und ,Wohlstand‘ tönt, aber mit dem ,Krieg‘ niederkommt, erscheint dem Dichter 1938 die Herrschaft der Nationalsozialisten: als eine wie Sodom und Gomorrha vom Feuer heimgesuchte Stadt imaginiert er die Geburtsstadt Augsburg während des amerikanischen Exils. Aber auch der Fluchtort Los Angeles, in dessen Nähe er ab Juli 1941 lebt, ruft in ihm keine Assoziationen an ,Engel‘ und ,Paradies‘ wach, sondern findet ihn „Nachdenkend über die Hölle“:

Auch die Häuser in der Hölle sind nicht alle häßlich.
Aber die Sorge, auf die Straße geworfen zu werden
Verzehrt die Bewohner der Villen nicht weniger als
Die Bewohner der Baracken
.8

In der Exil-Situation rekapituliert und erneuert sich auch der stärker auf die Verhaltensweisen der Großstädter abhebende Gedichttypus des Lesebuchs für Städtebewohner. „Angesichts der Zustände in dieser Stadt“ – gemeint ist wiederum Los Angeles – und mit Bezug auf die dem Emigranten abgeforderten Papiere – „Registration Certification“ und „Notice of Classification“ – entwirft er für sich selbst folgendes Handlungs- und Verhaltensschema:

Wenn ich eintrete, sage ich meinen Namen und zeige
Die Papiere, die ihn belegen mit Stempeln, die
Nicht gefälscht sein können.
Wenn ich etwas sage, führe ich Zeugen an, für deren Glaubwürdigkeit
Ich Belege habe.
Wenn ich schweige, gebe ich meinem Gesicht
Einen Ausdruck der Leere, damit man sieht:
Ich denke nicht nach.
So
Erlaube ich niemandem, mir zu glauben. Jedes Vertrauen
Lehne ich ab.

Dies tue ich, weil ich weiß: der Zustand dieser Stadt
Macht zu glauben unmöglich
.9

Diese und verwandte Texte, die sich im Anschluß an die zitierten aufführen ließen, sind für die Kontinuität und Wandlungsfähigkeit der im lyrischen Werk Brechts angeschlagenen Großstadtmotive aufschlußreich; im Moment der Reprise liegt jedoch – trotz der Tendenz zur Aktualisierung – auch eine ästhetische Grenze. Deshalb ist der Hinweis darauf wichtig, daß es in eben diesen Exil- und späten Kriegsjahren doch den Versuch zu verzeichnen gibt, den neuen amerikanischen Großstadterfahrungen über die angedeuteten ,Übertragungen‘ hinaus auch in einem neuen thematischen Zugriff und in neuer Form gerecht zu werden. Das in den Jahren 1943/44 niedergeschriebene, in sieben relativ autonome Abschnitte gegliederte Gedicht „Städtische Landschaft“ zeichnet sich jedenfalls nicht nur durch eine größere Nähe zur aktuellen amerikanischen Szenerie aus – der Autor nutzt die Hinweise auf kalifornische Goldsuche und Ölförderung für die bildliche Artikulation seiner nach wie vor kritischen Haltung der Großstadt gegenüber –, sondern überrascht auch durch einige gestische Novitäten. So zum Beispiel die Wahl einer satirisch eingesetzten hohen Stillage, die ironische Distanz verrät, gleich im ersten Abschnitt:

Triefend vom Öl des Zuspruchs und des Trostes
Der euch frisch hält, etwas flachgedrückt
Mit Bügelfalten, ihr Buchhalter, euch
Suche ich auf, der Städte
Gepriesenen Inhalt!
10

Zwischen symbolträchtige Arrangements – „Aus dem Gossenwasser / Wird noch Gold gewaschen“ oder „Die Stadt schläft. (…) / (…) Gurgelnd / Liegt sie in der Gosse, heimgesucht / Von unzüchtigen Träumen und / Nahrungssorgen“ – nisten sich impressionistische, leichter befrachtete Augenblicksbilder ein, wie man sie in einem zufälligen Blick aus einem Fenster erhascht:

Im Hinterhof hängt Wäsche; eines Weibes
Rosa Hose, der Wind
Fährt hinein.

Und das Ganze schließt mit einer differenzierten, in die Tiefe ihrer gesellschaftlichen Struktur vordringenden Momentaufnahme der Stadt, repräsentativ für den Zustand der ganzen Nation, eingespannt in den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland:

Die neuen Völker der Stadt, schlafen
Erschöpft.
Von ihren Lastern und den Lastern der anderen.
Die Werkzeuge
Liegen bereit für die morgige Arbeit. Durch die leeren Straßen
Hallen die Schritte der Wächter.
Auf einem Feld weit weg
Erheben sich schwer
Die Bombenplane.

Aussichten für die Einlösung der sozialistischen Utopie neuer Städte und Großstädte eröffnen sich für Brecht nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1948 mit den Wiederaufbauanstrengungen der Deutschen Demokratischen Republik. Während er im Westen Deutschlands – so die satirische, durch Percy Bysshe Shelley (1792–1822) beeinflußte Groß-Ballade „Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“, ihr Schauplatz ist München, apostrophiert als „Hauptstadt der Bewegung / Stadt der deutschen Grabsteinlegung“ – unter neuen Parolen die Restauration der alten Kräfte meint am Werke zu sehen,11 setzt er sich am erneuten – nun sozialistischen – Berliner Wohnort für die Eigenbestimmung und Eigenverantwortlichkeit der arbeitenden Bevölkerung beim Neubau der Städte und des Staates ein. Während in „Als die Stadt nun tot lag“ noch die Trümmerperspektive überwiegt – „Als die Stadt nun tot lag, ging dein einer Sohn / Große Mutter du, in den Schutt zurück12 –, schaltet er sich mit dem „Aufbaulied“ in die allgemein aufkeimende Appell-Literatur ein:

Jeder sitzt mal gerne unterm Dache
Drum ist aufbaun gar kein schlechter Rat.
Aber es muß sein in eigner Sache
Und so baun wir erst ’nen neuen Staat.
aaFort mit den Trümmern
aaUnd was Neues hingebaut!
aaUm uns selber müssen wir uns selber kümmern
aaUnd heraus gegen uns, wer sich traut!
13

Dem Vorrang des Staates gegenüber, abgeleitet aus der Forderung nach der Festigung des Sozialismus in Deutschland, muß die Kritik am realen Aufbau der Großstadt, wie dann in den fünfziger Jahren in Ostberlin ansatzhaft sichtbar wird, zunächst zurücktreten. Sie kommt daher erst relativ spät zum Ausbruch, äußert sich aber unmißverständlich –:

Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden
Ich bin nicht hingefahren.
Das gehört in die Statistik, dachte ich
Nicht in die Geschichte.

Was sind schon Städte, gebaut
Ohne die Weisheit des Volkes?
14

„Große Zeit, vertan“: das kleine – skeptische – Gedicht ist erstgedruckt nach dem Tod des Dichters in der ersten vollständigen Ausgabe der 1953 entstandenen Buckower Elegien. Von daher ist es eng mit jenem außerhalb und abseits des Ostberliner Zentrums liegenden Landhaus-Wohnort verbunden, an den sich Brecht aus seiner stressigen Theaterarbeit zurückzog. Die allgemeine Aussage des Textes erhält durch diese Symbolik des abgeschiednen Ortes ihre konkrete, auf die aktuelle, durch den Arbeiter-Aufstand vom 17. Juni 1953 geprägte Situation der DDR, durch die sich Brecht in seiner ganzen Existenz verfremdet sieht: daß das Gedicht in ihr nicht aufgeht, sondern einen fruchtbaren kritischen Überschuß enthält, unterstreicht die herausragende literarische Bedeutung seines Autors für die deutsche Literaturgeschichte und die Geschichte der deutschen Großstadtlyrik gerade auch noch in dieser späten – spätesten – Werkphase.

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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