Karl Riha: Zu Erich Kästners Gedicht „Die Zeit fährt Auto“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Kästners Gedicht „Die Zeit führt Auto“ aus Erich Kästner: Gesammelte Schriften. Bd. 1, Gedichte. –

 

 

 

 

ERICH KÄSTNER

Die Zeit fährt Auto

Die Städte wachsen. Und die Kurse steigen.
Wenn jemand Geld hat, hat er auch Kredit.
Die Konten reden. Die Bilanzen schweigen.
Die Menschen sperren aus. Die Menschen streiken.
Der Globus dreht sich. Und wir drehn uns mit.

Die Zeit fährt Auto. Doch kein Mensch kann lenken.
Das Leben fliegt wie ein Gehöft vorbei.
Minister sprechen oft vom Steuersenken.
Wer weiß, ob sie im Ernste daran denken?
Der Globus dreht sich und geht nicht entzwei.

Die Käufer kaufen. Und die Händler werben.
Das Geld kursiert, als sei das seine Pflicht.
Fabriken wachsen. Und Fabriken sterben.
Was gestern war, geht heute schon in Scherben.
Der Globus dreht sich. Doch man sieht es nicht.

 

Einzelanalyse

In einem Aufsatz, der 1931 in der Zeitschrift Die Gesellschaft erschienen ist, hat Walter Benjamin das literarische Werk Erich Kästners unter das einprägsame Stichwort Linke Melancholie gestellt.1 Als ein etwas abseitigerer Beleg ließe sich ein Gedicht wie „Des Vetters Eckfenster“ anführen, das auf die gleichnamige – späte – Erzählung E.T.A. Hoffmanns (1776–1822) Bezug nimmt; ihm sind denn auch diese Verse per Untertitel gewidmet. Der lyrische Text referiert den wesentlichen Inhalt der Erzählung und interpretiert ihn wie folgt:

Er sitzt im Erker hoch im Haus
und weiß nicht, wem er gleicht.
Er wollte nicht so hoch hinaus
und hat es doch erreicht.

Er glaubt an keine Wiederkehr.
(Auch nicht als Schmetterling.)
Sein Haus hat keine Türen mehr,
seit er nach oben ging.

Er liebt das späte Abendrot,
das hinterm Kirchturm brennt.
Er liebt das Leben und den Tod
und das, was beide trennt.

Das Fenster zeigt ihm Bild auf Bild
und rahmt die Bilder ein.
Er sitzt davor und lächelt mild
und mag nicht traurig sein.

Er lächelt, weil ihr glücklich seid.
Nur manchmal flüstert er:
„Ach mündet dieser Strom der Zeit
denn nirgendwo ins Meer?“

Er hat dem Schicksal längst verziehn,
obwohl es ihn vergaß.
Beneidet ihn! Verachtet ihn!
Das ist für ihn kein Maß
.2

Das Gedicht seinerseits kann in die Nähe von Arbeiten gerückt werden, die Benjamin in den späteren dreißiger Jahren beschäftigt haben. In „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“ und „Über einige Motive bei Baudelaire“ – Teile der groß angelegten Studie „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“ – erinnert er an diese letzte Novelle des Romantikers und setzt sie – ihrem zentralen Motiv des zurückgezogenen, aus seinem Dachfenster in die Stadt hinunterblickenden Beobachters nach – in Kontrast zu jenen englischen und französischen Autoren der Zeit, die sich für ihre Großstadtschilderungen – als Flaneurs – in das bunt-grelle Straßenleben von London und Paris stürzen konnten:

Wie befangen geht der Blick dessen über die Menge hin, der in seinem Hauswesen installiert ist. (…) In dem Unterschied der Beobachtungsposten steckt der Unterschied zwischen Berlin und London. Auf der einen Seite der Privatier; er sitzt im Erker wie in einer Rangloge; wenn er auf dem Markt sich deutlicher umsehen will, so hat er einen Operngucker zur Hand. Auf der anderen Seite der Konsument, der namenlose (…). Auf der einen Seite ein Vielerlei kleiner Genrebilder, die insgesamt ein Album von kolorierten Stichen bilden, auf der anderen Seite ein Aufriß, der einen großen Radierer zu inspirieren imstande wäre; eine unabsehbare Menge, in welcher keiner dem andern ganz deutlich und keiner dem andern ganz durchschaubar ist.3

Sich mit dem Eckfenster-Vetter Hoffmanns lyrisch identifizierend, dokumentiert Kästner sein eigenes Verhältnis zur Großstadt. Es ist ein distanziertes, die Realität in Ausschnitten erfassendes Verhältnis, weltanschaulich pessimistisch und desillusionistisch gestimmt, was fortgesetztes Fragen nach dem Sinn des Lebens, erfüllter Existenz etc. nicht hindert. Gerade im Erfassen solch signifikanter ,Ausschnitte‘ der großstädtischen Wirklichkeit – ihrer Erlebnis- und Gefühlswirklichkeit vor allem – liegt denn auch Kästners Stärke als Autor und Lyriker. Dabei geht er von seiner eigenen Generationsproblematik als „Jahrgang 1899“ aus: so der Titel jener lyrischen Ich-Biographie, mit der er seinen ersten Gedichtband von 1928 – Herz auf Taille – eröffnet. „Ein Großstadtlyriker mit eigenem Gesicht… Hans Natonek: Hier spricht einer, der repräsentativ ist für seine Generation. Jahrgang 1899. Lyrik unserer Zeit kann gar nicht anders aussehen“, heißt es auf dem Umschlag.4 Gemeint ist der durch Weltkrieg, gescheiterte Revolution, Inflation, Wirtschaftskrise bestimmte Lebenshorizont, der auch die ,privaten Daten‘ determiniert:

Wir haben die Frauen zu Bett gebracht,
als die Männer in Frankreich standen.
Wir hatten uns das viel schöner gedacht.
Wir waren nur Konfirmanden.

Dann holte man uns zum Militär,
bloß so als Kanonenfutter.
In der Schule wurden die Bänke leer,
zu Hause weinte die Mutter.

Dann gab es ein bißchen Revolution
und schneite Kartoffelflocken;
Dann kamen die Frauen, wie früher schon,
und dann kamen die Gonokokken.

Inzwischen verlor der Alte sein Geld,
da wurden wir Nachtstudenten.
Bei Tag waren wir bureau-angestellt
und rechneten mit Prozenten
.5

Der Autor gewinnt aus den ,wir‘-Formulierungen, in denen das Ganze gehalten ist, keinen Rückhalt, keine Stärke. Es handelt sich also bei dieser ,kollektiven‘ Redeweise lediglich um einen Sprach-Nenner für individuelle Ernüchterung, das tägliche Erlebnis des desolaten Zustands der Welt; aus ihnen erwachsen freilich auch eine eigene Scharfsicht, ein eigener Trotz und eine eigene Spottlust. „Da pfeift einer, im Sturm, bei Windstärke 11 ein Liedchen“, hat Kurt Tucholsky 1930 bei Erscheinen des Gedichtbandes Ein Mann gibt Auskunft angemerkt.6 Mit „Kurzgefaßter Lebenslauf“ nimmt dieses dritte Lyrikbuch des Autors die Thematik von Jahrgang 1899 auf; das Weltkriegserlebnis und seine Nachwirkungen in der Nachkriegsära finden darin folgende Gestalt:

Dann gab es Weltkrieg, statt der großen Ferien.
Ich trieb es mit der Fußartillerie.
Dem Globus lief das Blut aus den Arterien.
Ich lebte weiter. Fragen Sie nicht, wie.

Bis dann die Inflation und Leipzig kamen;
mit Kant und Gotisch, Börse und Büro,
mit Kunst und Politik und jungen Damen.
Und sonntags regnete es sowieso.

Nun bin ich zirka 31 Jahre
und habe eine kleine Versfabrik.
Ach, an den Schläfen blühn schon graue Haare,
und meine Freunde werden langsam dick.

Ich setze mich sehr gerne zwischen Stühle.
Ich säge an dem Ast, auf dem wir sitzen.
Ich gehe durch die Gärten der Gefühle,
die tot sind, und bepflanze sie mit Witzen
.7

Aus dieser – auf diese Weise gesellschaftlich vermittelten – Ich-Perspektive öffnet sich für Kästner das ,Bilder‘-Spektrum seiner Großstadt-Lyrik. Er hat dabei in besonderem Maß die ,kleine Welt‘ der ,kleinen Leute‘ im Auge und beleuchtet facettenreich die Lebenswirklichkeit des großstädtischen Kleinbürgertums. In ihr mischen sich entfremdete Arbeit und weitgehend paralysierte Privatsphäre zu einer markanten Einheit: die kleinen Katastrophen des Alltags wechseln mit kleinen Freuden der Freizeit und irritieren sich gegenseitig, der Zwang zur Subordination in der Berufs-,Tretmühle‘ zieht Resignation hinter sich her; die Aufschwünge, die sich nach Feierabend und übers Wochenende nehmen lassen, sind seltsam gebremst. „Möblierte Melancholie“ – Räsonnements übers Wohnen in Untermiete –, „Traurigkeit, die jeder kennt“ – „Es ist, als ob die Seele unwohl wäre“ – oder „Elegie nach allen Seiten“ – Herbststimmung in der Stadt, im realen wie im übertragenen Sinn – sind bezeichnende Gedichttitel. Kästner interessiert sich nicht so sehr für das hektische Zentrum der Großstadt, die Mitte des Verkehrs, den Knotenpunkt allen Trubels, sondern – vor allem – für die Randzonen der Stadt, die Seiten- und Vorstadtstraßen, für die Leere der nächtlichen Stadt und das plötzliche Bewußtwerden der Ich-Isolation des Großstädters. Das „Nächtliche Rezept für Städter“ lautet deshalb:

Man nehme irgendeinen Autobus.
Es kann nicht schaden, einmal umzusteigen.
Wohin, ist gleich. Das wird sich dann schon zeigen.
Doch man beachte, daß es Nacht sein muß.

In einer Gegend, die man niemals sah
(das ist entscheidend für dergleichen Fälle),
verlasse man den Autobus und stelle
sich in die Finsternis. Und warte da
.8

Anders als Tucholsky, der ihn nur abwertend benutzt, akzeptiert Kästner den Terminus ,Gebrauchslyrik‘ und nimmt ihn für seine eigenen Verse in Anspruch. Nach der „Prosaischen Zwischenbemerkung“, eingeschoben unter die Gedichte des Lyrikbandes Lärm im Spiegel, beweist der Terminus als solcher – allein schon durch seine Erfindung –, wie wenig wirkliche Lyrik es in der jüngsten Vergangenheit gegeben hat:

Denn sonst wäre es jetzt überflüssig, auf ihre Gebrauchsfähigkeit wörtlich hinzudeuten. (…) Es gibt wieder Lyriker, die wie natürliche Menschen empfinden und die Empfindungen (und Ansichten und Wünsche) in Stellvertretung ausdrücken. Und weil sie nicht nur für sich selber und um ihrer Sechseroriginalität willen schreiben, finden sie inneren Anschluß. (…) Die Lyriker haben wieder einen Zweck. Ihre Beschäftigung ist wieder ein Beruf. Sie sind wahrscheinlich nicht so notwendig wie Bäcker und Zahnärzte; aber nur, weil Magenknurren und Zahnreißen deutlicher Abhilfe fordern als nichtkörperliche Verstimmungen. Trotzdem dürfen die Gebrauchspoeten ein bißchen froh sein: sie rangieren unmittelbar nach den Handwerkern.9

Tatsächlich ist eine Vielzahl von Kästners Gedichten vor der Buchveröffentlichung zunächst in Zeitschriften und Zeitungen erschienen oder hat sich per Vortrag ihr Publikum in den literarischen Kabaretts der Zeit gesucht. Das bestätigt ihre vom Autor behauptete gebrauchsmäßige Form und liefert – von daher – ein zusätzliches Argument für ihren großstädtischen Charakter. Und grundsätzlich handelt es sich – schon allein aus den Zwängen des Massenmediums Zeitung heraus – um keinen elitären Literaturtrend, der sich hier Bahn bricht, sondern um eine breitere Literaturbewegung, die aus sich heraus parallele Erscheinung zeitigt. So hat man Mascha Kaléko (1907–1975), deren erste Gedichte um 1930 in der Vossischen Zeitung und im Berliner Tageblatt erschienen – 1933 bzw. 1934 folgten die Gedichtbände Lyrisches Stenogrammheft und Kleines Lesebuch für Große –, einen ,weiblichen Ringelnatz‘ oder eben ein weibliches Pendant zu Erich Kästner genannt. Völlig zu Recht, denn ihre Verse zeigen nicht nur ähnliche thematische Grundzüge, sondern stimmen auch in Textstruktur und lyrischer Geste weitgehend mit ihrem ,Vorbild‘ überein. Als Beispiel das Seiten- oder Spiegelstück zu „Jahrgang 1899“:

Im letzten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
– Ich war schon zwölf, als ich noch immer dachte,
Daß, wenn die Kriege aus sind, Friede sei.

Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich – zwecks Bildung – bald entfernten;
Doch was wir auf der hohen Schule lernten,
Ein Wort wie „Abbau“ haben wir nicht gehabt.

Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau –
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro
.10

Andere Titel, die den Vergleich stützen: „Melancholie eines Alleinstehenden“, „Großstadtliebe, „Heimwärts nach Ladenschluß“, „Spät nachts“, „Tratsch im Treppenhaus,“ Verse zu aktuellen sozialen Nöten, die sich in die Träume schleichen und den Schlaf stören, zur konkreten Situation von Kassen-Patienten und Arbeitslosen. –
Nun das einleitend abgedruckte Gedicht Kästners: „Die Zeit fährt Auto!“. Es stellt ja nun gerade kein solches ,Ausschnitt‘-Bild der großen Stadt und des großstädtischen Lebens, sondern den Versuch einer Totale dar, mit der überdies das Anwachsen der Städte in einen größeren Rahmen gestellt wird. Mit der Titelformulierung ist das rasante Tempo der Zeit angesprochen; sie wird zu Beginn der zweiten Strophe aufgenommen, und hier korresporidieren mit ihr in den Strophen eins und drei: „Die Städte wachsen“ und „Die Käufer kaufen“. Innerhalb der einzelnen Strophen wird jedoch diese Bewegung, die in Formulierungen wie „Und die Kurse steigen“, „Und die Händler werben“ bzw. „Wenn jemand Geld hat, hat er auch Kredit“ und „Das Geld kursiert, als sei das seine Pflicht“ aufgenommen ist und sich als Dynamik der Finanzen präzisiert, ins Widersprüchliche und Chaotische gebrochen. Innerhalb einzelner Zeilen kommt es zu scharf herausgearbeiteten Gegensätzen wie: „Die Menschen sperren aus. Die Menschen streiken“ oder „Fabriken wachsen. Und Fabriken sterben“. Und in der Mittelstrophe wird dieser Widerspruch an die Bewegung der Zeit selbst – und ihr komprimiertes poetisches Bild, das dem Ganzen den Titel liefert – zurückgebunden:

Die Zeit fährt Auto. Doch kein Mensch kann lenken

Die Chaotik ist also allgemein, und zu ihrer Illustration kann der zeitgenössische Leser jene wilden Zick-Zack-Fahrten von Autos abrufen, wie sie in jenen Jahren eine atemberaubende Attraktion der Kinoleinwand waren.
Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Schlußzeilen der drei Strophen. Sie sprechen – parallel und im Kontrast zur ,Dynamik‘, die das Wachsen der Städte und Fabriken, das Steigen der Aktienkurse, die Expansion des Handels etc. bestimmt – die Drehbewegung der Erde um ihre eigene Achse an und leiten daraus refrainartige Resümees ab. Dabei wechseln bei stereotypem Auftakt – „Der Globus dreht sich“ – die Gesichtspunkte, springen um und geben in der fortschreitenden Variation des Zeilenschlusses unterschiedlichen Assoziationen Raum; in sie ist der Leser schon allein dadurch hineingezogen, daß er im ,wir‘ und ,man‘ der Formulierungen mitangesprochen ist. Mit „Der Globus dreht sich. Und wir drehn uns mit“ hebt Kästner auf das Involviertsein in den allgemeinen Lebens- und Gesellschaftsprozeß ab. Der einzelne ist hilflos determiniert und zu keinen Veränderungen von sich aus in der Lage. „Der Globus dreht sich und geht nicht entzwei“ verweist auf die Stabilität dieser Negativverhältnisse, unterminiert sie aber: denn natürlich erscheinen Weltzerstörung und Weltuntergang trotz ihrer verbalen Negation – oder gerade wegen ihr – als mögliche, ja geradezu als notwendige Konsequenz dieses Weltlaufs. Mit der Schlußzeile schließlich – „Der Globus dreht sich. Doch man sieht es nicht“ – ist angedeutet, daß all dies gar nicht ins allgemeine Bewußtsein dringt, sich verschleiert, der offenen Wahrnehmung entzieht. Der einzelne kann das gesellschaftliche Schicksal, dem er unterworfen ist, verdrängen; es affiziert aber, wie sich an zahlreichen Gedichten Kästners zeigen läßt, das individuelle Unterbewußtsein und macht sich in Ausbrüchen einer geheimnisvoll-gespenstischen Tristesse bemerkbar. Das bindet diesen Typ des allgemeineren Großstadtgedichts an die Hauptmasse jener Texte im lyrischen Werk des Dichters zurück, die stärker von einer einzelnen Situation ausgehen oder einen bestimmten sozialen Typus zu skizzieren suchen.

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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