Karl Riha: Zu Gerhard Rühms Gedicht „die ersten menschen sind auf dem mond“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Gerhard Rühms Gedicht „die ersten menschen sind auf dem mond“ aus Gerhard Rühm: Gesammelte Gedichte und visuelle Texte. 

 

 

 

 

GERHARD RÜHM

montag, 21.7.1969
die ersten menschen sind auf dem mond

am sónntag, dém dem zwánzigsténsten júli
neunnéunzehnhúndertnéunundséchzig, úm
um éinundzwánzig úhr uhr áchtzehn úm
sind sínd die béidendén améri- júli

kaníschen ástronáuten néil neil júli
neil ármstrong únd und édwin áldrin úm
an bórd bord íhres ráumraumschíffes úm
um „ádler“ áuf dem mónd gelándet júli. 

in dér gebórgenhéitheit ihrer lánde-
dekápsel lágen étwa nóch fuenf stúnden
vor íhnen bís bis síe als érste lánde

bewóhner dés planéten érde stúnden-
den ihren fúss auf éinen frémden lánde-
de hímmelskóerper sétzen sóllten stúnden.

 

Apollo 11: zeit-sonette als zeitungs-sonette 

Der hier abgedruckte Text eröffnet einen Zyklus von vierzehn dokumentarischen sonetten, die zwischen dem 21. Juli und 3. August 1969 entstanden sind und exakt auf Zeitungsmeldungen zurückgehen, die eben während dieser vierzehn Tage in diversen Presseorganen erschienen sind. Der Strophik der Gedichtform ,Sonett‘ folgend (zwei Quartette kombiniert mit zwei Terzetten), gliedert sich dieser Zyklus in vier Themenbereiche: Die ersten vier Sonette gelten der amerikanischen Mondlandung als herausragendem Hauptereignis (die ersten menschen sind auf dem mond, das raumschiff auf dem rueckflug zur erde, erschuetterungen auf dem mond, heute landet apollo), vier weitere folgen zu unterschiedlichen politischen Nachrichten (verluste in vietnam, kein ende der kaempfe [im ägyptisch-israelischen Krieg], „parasiten“ festgenommen [in der Tschechoslowakei], krawall bis mitternacht [in West-Berlin]); daran schließen sich entsprechend den nachgeordneten Ressorts der Zeitung – je drei Sonette zu Kulturnachrichten (publikumsjubel um die „meistersinger“, rilke-gefaehrtin gestorben, neues brotmuseum) und Lokales (ein „nicht“ fehlte [in einem Bericht über eine Ärzte-Tagung auf Sylt], arbeiter fand den tod, das jahr zweitausend im visier… [Vorausschau auf ein internationales Symposium]) an. Ein Inhaltsverzeichnis, das sich aus den jeweiligen Überschriften der vierzehn Sonette zusammensetzt, bildet das resuemee, das fünfzehnte, das sogenannte Meistersonett.
Die Zeitungsnachricht, die dem ersten Sonett zugrunde liegt, entnahm Rühm der Berliner Nacht-Depesche vom Montag, dem 21. Juli 1969. Es handelt sich dabei um eine dpa-Meldung aus Houston; sie hat – überschrieben mit dem Zeithinweis „Gestern, 21.18 Uhr!“ und der groß aufgemachten Schlagzeile „Die ersten Menschen sind auf dem Mond“ – folgenden Wortlaut: 

Die Menschheit hat den ersten Griff nach den Sternen getan. Am Sonntag, dem 20. Juli 1969, um 21.18 Uhr (MEZ) sind die beiden amerikanischen Astronauten Neil Armstrong (38) und Edwin Aldrin (39) an Bord ihres Raumschiffes „Adler“ auf dem Mond gelandet.
In der Geborgenheit ihrer Landekapsel lagen noch etwa fünf Stunden vor ihnen, bis sie als erste Bewohner des Planeten Erde ihren Fuß auf einen fremden Himmelskörper setzen sollten. Mit einer mehrstündigen Schlaf- und Essenspause und einer letzten Überprüfung der technischen Aggregate bereiten sie sich auf den historischen Moment vor.
„Thanks a lot“ – „Danke schön“ –, das waren die ersten Worte die ein Mensch vom Mond an die Erde richtete. Aus der tödlichen Einöde eines fremden und unbekannten Gestirns funkte sie Apollo-Kommandant Neil Armstrong gestern abend wenige Sekunden nach der Landung auf dem Mond zu seinem 380.000 Kilometer entfernten Heimatplaneten. Der knappe Gruß galt den Menschen im Bodenkontrollzentrum Houston. (Lesen Sie bitte weiter auf Seite 3.)
 

Wie ein erster mißglückter Formulierungsanlauf zeigt, der verworfen wurde, versuchte der Autor bei seiner Versifizierung zunächst vom wirklichen Einsatz der Zeitungsmeldung, ihrem ersten formulierten Satz, auszugehen: 

die menschheit hat den ersten griff
nach nach den sternenen getan. am sonntag,
dem zwanzigstensten juli neunzehn- sonntag
hunhundertneunundsechzig, um um griff

Der zweite Anlauf verschob den lyrischen Einsatz auf den zweiten Satz der dpa-Meldung, kam aber – während das erste Quartett auf Anhieb glückte und sich schon fast mit dem der dritten, der Endfassung deckte – im zweiten Quartett mit den Altersangaben der Astronauten ins Stolpern, erreichte in den Terzetten keinen günstigen Reim und fand zum Ende hin keinen akzeptablen Abschluß: 

am sonntag, dem dem zwanzigstensten juli
neunneunzehnhundertneunundsechzig, um
um einundzwanzig uhr uhr achtzehn um
sind sind die beiden amameri- juli

kanischen astronauten neil neil juli
neil armstrong, achtunddreissig, um
und edwin aldrin, neununddreissig, um
an bord bord ihres raumraumschiffes juli

„adadler“ auf dem mond gelandet.
in der geborgenheitheit ihrer lande-
kapsel lagen etwa noch fünf landet

det stunden vor vor ihnen ihnen lande
bis sie als erste bebewohner landet
des des planeten erde ihren…

Die ausführlicher referierte Genese des Sonetts zeigt, daß sich Rühm einerseits seiner Vorlage nahezu total ausliefert, andererseits aber sehr wohl die Auswahl lenkt und Aussparungen vornimmt, wo dies aus formalen Gründen notwendig erscheint. Denn: verblüffend für einen Anhänger der experimentellen Poesie, die ursprünglich allen fixen Formen traditioneller Lyrik den Kampf angesagt hatte, wird ja in Strophenbau, Reim und Metrik die klassische Form des Sonetts nicht nur in keiner Weise angetastet, sondern peinlichst gewahrt, wie speziell auch der mündliche Vortrag durch den Autor mit Hilfe eines „unnachgiebig taktierenden metronoms […] zu strikt metrischer artikulation“ unterstreicht.
„natürlich stimmen die zeitungsmeldungen“, merkt Rühm in poetologischer Hinsicht an, „nicht mit dem versmass und der anzahl der versfüsse eines klassischen sonetts überein, sie müssen also mit gewalt in diese strenge form gepresst werden, da ich an dem wortlaut nichts verändern wollte, mußte ich die gegebene form durch entsprechende wiederholungen von vor-, beziehungsweise endsilben ausfüllen – dadurch ergeben sich, nebenbei, auch wortwitze wie zum beispiel baybay(byebye)-reuth. statt der reimwörter, die ja sonst hätten dazuerfunden werden müssen, wird an den nötigen stellen das zu reimende wort einfach wiederholt, was im semantischen verlauf des textes einen weiteren irritationsfaktor schafft. der reiz des unternehmens liegt ja vor allem darin, dass die sachliche zeitungsnachricht durch die klassische sonettform (an die man eine bestimmte inhaltserwartung knüpft), und die klassische sonettform wiederum durch den nüchtern aktuellen inhalt verfremdet wird“ (zit. aus einem Brief des Autors).
Es handelt sich also um einen doppelten und wechselseitigen Akt der sprachlichen und poetologischen Verfremdung: ins Prokrustesbett der ,strengen Form‘ gespannt, verliert der Zeitungsartikel seine naiv-nachrichtliche Unschuld; die hochartifizielle Form profaniert sich, indem sie sich dem Allergewöhnlichsten – der Zeitung – hingibt. Daran ändert das eigentliche Thema – ein wirklich hervorstechendes Jahrhundertereignis, wie es die Mondlandung nun einmal ist – wenig. Nun hat man aber dem Sonett, speziell in seiner Ableitung aus Petrarca, immer schon ein antagonistisches Verhältnis von Stoff und Form nachgesagt, zentriert etwa auf die Bändigung wilder, abgründiger Leidenschaften durch artistische Zucht. Gerade einer solchen Steigerung der Form in eine eigene ,innere Dimension‘ widerspricht jedoch deren Veräußerlichung bzw. äußerlich bleibende Handhabung durch Rühm. Strophisches Prinzip, alternierendes Metrum und Reim treten ja als Instrumente einer ganz und gar rücksichtslosen Zuchtmeisterin auf, die sich den Zeitungstext unterwirft und rigoros gefügig macht. Bei diesem Geschäft verliert sie jene Eleganz, die ihr aus ihren Ursprüngen heraus eigen ist und innerhalb der Geschichte der Lyrik einen ganz besonderen Glanz verlieh. In der deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende sind Stefan George und Rainer Maria Rilke, aber auch expressionistische Dichter wie Georg Heym zu nennen. Ihnen gegenüber handelt es sich eindeutig um eine Zurücknahme der hochgezogenen Stilisierungstendenz, einen Akt der Trivialisierung beziehungsweise Banalisierung der Form: daß er nicht auf das Ausspielen ungewohnter Sujets beschränkt bleibt – wie es in stärkerem Maße für Ludwig Rubiners Kriminalsonette oder, neuerdings, für die Fußball-Sonette Ror Wolfs gilt –, sondern sich in der Form selber ereignet, zeichnet Rühms dokumentarische sonette in besonderer Weise aus.
Die Irritation der Erwartungshaltung, die man der Gattung ,als solcher‘ entgegenbringt, entspricht ihrerseits dem irritierenden Abweichen von der gewohnten Sprache, die durch das Zeitungszitat vorgegeben ist – eben mit Hilfe des veräußerlichten Zwangs der Gattung. Will man, wie es in der deutschen Lyrik seit dem Buch von der Deutschen Poeterey das Martin Opitz geltendes Gesetz ist, an den natürlichen Betonungen der Worte festhalten, läßt sich das Gleichmaß der Hebungen und Senkungen nur durch Silben- und Wortwiederholungen in den vorgegebenen – metrisch ganz ungehobelten – Text hineinzwingen. Dasselbe gilt für die Erfüllung des Reims und der durch ihn gewährleisteten Strophik. Statt das angesprochene Ereignis aufzunehmen und einer eigenschöpferischen, eigensprachlichen, am lyrischen Wohlklang orientierten Gestaltung zu unterziehen, werden die Reimworte reichlich zufällig dem fortlaufenden Prosatext extrapoliert und dann – wie sie das mechanische Verfahren auswirft – dem nachfolgenden Text als willkürliche Einschübe und automatische Wiederholungen einmontiert. Die einzelnen Reimworte stellen deshalb, gemessen am korrekten grammatikalischen Ablauf der Sätze, anti-grammatikalische Störfaktoren dar; ihr Herausfallen aus der grammatikalischen Ordnung und ihre Isolation gegen den jeweiligen Kontext, in den sie – versetzt – zu stehen kommen, parodieren die intendierte Reimfunktion und den aus ihr abgeleiteten Reimzwang.
Grammatikalische Dekomposition des ausschnitthaft zitierten Zeitungstextes mit Hilfe der bewußt gewählten Gattungsform und Rekomposition dieser Gattungsform mit Hilfe des dekomponierten Textmaterials sind also reziproke, in sich verschränkte und sich gegenseitig bedingende Vorgänge. Die Orientierung an der Gattungsnorm ,Sonett‘ gibt der Irritation der Sprachstruktur die Richtung vor und verhindert, daß es zu einer blinden Destruktion, einer wirklichen Sprachanarchie kommt; umgekehrt raubt die spezifische Erfüllung der Norm auf Kosten der gewohnten sprachlichen Ordnung dem vorliegenden dichterischen Versuch den Charakter einer ernsthaften Gattungsrestauration und siedelt ihn im Bezirk des Kreativ-Spielerischen an. Die Vor- und Endsilbenwiederholungen (auch zu finden in Kinder-Verwirrsprachen etc.) stützen dieses spielerische Moment im unmittelbar artikulatorischen Bereich, die durch den Reimzwang begründeten Wortwiederholungen, der Nachricht ihre vorwärtsdrängende Dynamik raubend und eine Art rückwärtsdrehende Kreiselbewegung verursachend, im semantischen Bereich und die ,innere Leere‘ der Form – ein hohles Gebilde, das sich nicht füllt – im Bereich der Gattungsbestimmung.
Wie aber steht es mit der „dokumentarischen“ Intention des Textes, auf die wir doch durch den Zyklus-Titel besonders aufmerksam gemacht werden? Will „dokumentarisch“ in diesem Zusammenhang lediglich so viel heißen, daß die poetische Produktion des Sonetten-Rings entschieden auf Tagesereignisse abgestellt ist: Rühms dichterische Tätigkeit reduziert sich ja, wie wir sahen, auf eine Auswahl von Nachrichten, Meldungen etc., wie sie über vierzehn Tage von den Zeitungen (neben der Berliner Nacht-Depesche sind es Die Welt, Die Welt am Sonntag, das Sylter Tageblatt und die ebenfalls in Berlin erscheinenden Zeitungen Der Abend, Der Tagesspiegel und Telegraf) angeliefert wurden. Wie steht aber das einzelne Sonett zum jeweiligen Ereignis, das es „dokumentiert“? Bezieht sich der Autor überhaupt aufs ,Ereignis‘ selber – oder nicht doch nur auf seine Verarbeitung zum Presseartikel, seine Brechung in die Sprache der Zeitung? Fehlt aber dann nicht gerade das satirische Moment, wie es seit Karl Kraus mit der sprachkritischen „Dokumentation“ der „Journaille“, dem enthüllenden Zitieren und Bloßstellen der Zeitungssprache, so tief verbunden ist? Kennen nicht gerade auch die konkrete Poesie und die ihr verwandten avantgardistischen Literaturrichtungen, aus denen Rühm herkommt, das Prinzip der satirischen Montage von Zeitungsphrasen und ihr collagierendes Auseinandernehmen und Wiederzusammenfügen?
Rühm selbst verweist im oben zitierten Autor-Statement lediglich auf „wortwitze“, die er am Beispiel von „baybay(byebye)-reuth“, also am Prinzip der Silbenverdopplung mit dem Trend zur überraschenden Klangassoziation belegt. Zur Armierung einer durchgehenden satirischen Stoßrichtung und zum organisierten Aufbau einer satirischen Grobstruktur reichen freilich solche Mikroelemente nicht aus. Die einzelnen dokumentarischen sonette kommen denn auch gar nicht mit sensationellen Entlarvungen daher, markieren keine besonders kruden Formulierungsdefekte etc., sondern genügen sich damit, die reproduzierte Textvorlage der Zeitung durch ihre ,Sonettierung‘ in Distanz zu sich selbst zu bringen, Abstand zu schaffen durch irritierende Reproduktion und damit einen höheren Grad von Aufmerksamkeit zu erzeugen, als er normalerweise für die ,flüchtige Zeitungslektüre‘ angesetzt werden kann. Die satirische Energie, die sich im Einzel-Sonett zwar andeutet, aber nicht verbraucht, hat Rühm jedoch für das fünfzehnte Sonett, das sogenannte Meistersonett, aufgespart. Der Erklärung des Autors nach handelt es sich lediglich um ein aus den Titelzeilen der einzelnen Sonett-Nummern gebildetes Inhaltsverzeichnis, seiner tieferen poetischen Anlage nach aber um den Aufbau eines satirischen Rasters, auf das – wirklich abschließend – alle Einzeltexte bezogen werden können: 

die érsten ménschen sínd sind áuf dem mónd.
das ráumschiff áuf dem rúeckflug zúr zur érde.
erschúetterúngen áuf dem mónd mond érde.
heuhéute lándetdét apóllo mónd. 

verlúste ín vietnám vietnámnam mónd,
kein énde dér der káempfe káempfe érde.
„papárasíten“ féstgenómmen érde.
krawáll krawáll bis mítternáchtnacht mónd.

publíkumsjúbel úm die „méistersínger“.
rilrílkeké-gefáehrtintín gestórben.
neunéues brótmuséum „méistersínger“. 

ein „nícht“ nicht féhlte féhlte féhlt gestórben.
arbéiter fánd den tód tod „méistersínger“.
das jáhr zweitáusend im visíer gestórben. 

Der Vorgang des Querlesens durch die Gedichte des Sonett-Zyklus ähnelt dem des Querlesens über die Spalten und Schlagzeilen der Titelseite einer Zeitung hinweg bzw. diagonal durch die Ressorts einer ganzen Zeitung. Es kommt aber im angeschlagenen satirischen Verfahren zu keiner bloß additiven Auflistung, sondern – wieder mit Hilfe der instrumentell eingesetzten Sonettform – zu Verschränkungen der Themata untereinander und entsprechenden Interpolationen: so wechseln z.B. die der spektakulären Mondlandung abgewonnenen Reimworte „mond“ und „erde“ in den Vietnamkrieg, den Sinaikrieg, die Dissidentenverfolgung im Ostblock und die Berliner Studentenrevolte hinüber. Solche Verschiebungen fordern zu Vergleichen und Folgerungen heraus. Generell entsteht als satirisches Muster jene Einheit des Heterogensten und Widersprüchlichsten, wie sie das Medium ,Zeitung‘ als exaktes Abbild unserer zeitgenössischen zivilisatorischen Realität kennzeichnet.

Karl Riha, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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