Karl Riha: Zu Walter Mehrings Gedicht „Die Reklame bemächtigt sich des Lebens…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Walter Mehrings Gedicht „Die Reklame bemächtigt sich des Lebens…“ aus Walter Mehring: Die Gedichte, Lieder und Chansons. –

 

 

 

 

WALTER MEHRING

Die Reklame bemächtigt sich des Lebens…

Am Ausgang abends vor den anatomischen Kabinetts
Die Straßen segeln mit Riesengasometer
The flying brothers
5% Stromersparnis
Sous les ponts de Paris
Und Fischerin du kleine
Plakate bunter Wimpeln
Piekaß beim Zauberkönig
Der Mann ohne Nasenknorpel
Schielt nach der Dame ohne Unterleib
Und das Fräulein lächelt
In „Steiners Paradiesbett“
Haushoch
Hanewaker
Im Jägerhut mit Gemsbart
Holdrioh, auf da Alm gibt’s ka Sünd
Nur kondensierte Alpenmilch
Das Geheimnis des üppigen Busens
Orient blutrot elektrisches Licht
Verboten gewesen
Babel-Berlin
Die Hölle heizt mit Kaiserbriketts
Gummiartikel! Apotheke zum goldenen Schwan
Leda vom Wannseelido!
Geprüfte Masseuse
Bei Rückenmarksdarre feudal mit sieben Zacken
Das Grafenliebchen! Vergißmeinnichtbibliothek
Band 25, die Sprache der Blumen
Im Strafgesetzbuch Verführung Minderjähriger
Stolz zieht das Schiff
Hamburg-Amerika-Linie
Der alte Trapper blickt hoch
Sternenhimmel im Wintergarten
Auf dem Drahtseil über die Brüstung des Backbords
Schon ist Nic Carter auf der Spur
Dieser Mann kennt ihr Schicksal
Die Kunst zu fesseln
Der gelbe Tod
Und die Schuld der Juden am Weltkrieg!
Darum werbt für die Freikorps!
Der Trompeter von Säckingen bläst Alarm!
Aus Butzenscheiben zur Silberhochzeit
Sein blondes Lieb im Arm
Von Belgiens öffentlichen Häusern
Ergreifendes Schicksal
Nachts tausendfach
Im Siriusglanz Manoli linksrum
Die Porzellanfuhre
Schwarzverhangen
Mit Dralles Birkenwasser
Den Töchtern des Erfinders
Jack the Ripper kutschiert
Nur echt mit dem Totenkopf
Durch die Tiefen der Weltstadt!

 

Einzelanalyse

Nach Sturm-expressionistischen Erstveröffentlichungen schon in den Jahren 1915/16 gehört Walter Mehring mit seinen frühen literarischen Arbeiten in den engeren Berliner Dadaisten-Zirkel zu Ende des Ersten Weltkriegs und Beginn der Weimarer Republik. Er mitunterzeichnete einige der späteren manifestösen Verlautbarungen und gehörte zu den Mitarbeitern des Dada Almanachs, den 1920 Richard Huelsenbeck (1892–1974) „im Auftrag des Zentralamtes der deutschen Dada-Bewegung“ herausgab. Der erste der drei dort abgedruckten Beiträge ist „berlin simultan“ überschrieben; er ist dem Almanach-Editor gewidmet und deklariert sich im Untertitel als „erstes Original-dada-couplet“. In einer Fußnote ist festgehalten, daß der Text schon im Vorjahr in der vom Berliner Kaemmerer-Verlag herausgebrachten ersten Buchpublikation des Autors – Das politische Chanson – zu lesen war; deren zweite Auflage war zwischenzeitlich von der Zensur verboten worden. „Die Reklame bemächtigt sich des Lebens…“ stellt sowohl von der thematischen Orientierung wie vom Form-Prinzip her ein direktes Parallelstück zu diesem Dada-Chanson dar.
Das ,simultanistische Prinzip‘, auf das Mehring mit dem Titel seines Gedichts – „berlin simultan“ – verweist, war bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch die italienischen Futuristen propagiert worden. In ihrer Sicht hatte es eine ausgesprochen moderne, an den Entwicklungsmöglichkeiten der Technik orientierte und damit auch großstädtische Erlebnisdimension; Umberto Boccioni (1882–1916) gab 1914 folgende Definition:

Die Simultaneität ist für uns die lyrische Exaltation, die bildnerische Sichtbarmachung eines neuen Absoluten: der Geschwindigkeit; eines neuen, herrlichen Schauspiels: des modernen Lebens; eines neuen Fiebers: der wissenschaftlichen Entdeckung (…). Simultaneität ist der Zustand, in dem die verschiedensten Elemente, die den Dynamismus bilden, in Erscheinung treten. Sie ist also das Ergebnis jener großen Ursache, des universellen Dynamismus. Sie ist der lyrische Ausdruck der modernen Lebensauffassung, die auf Schnelligkeit und Gleichzeitigkeit von Wissen und Mitteilung beruht.1

Unter Beibehaltung des Terminus verändert sich sein Verständnis bei den Dadaisten doch recht erheblich. Ihnen geht es – gegen die futuristische Fortschrittsgläubigkeit, die der Anschauungsunterricht des Ersten Weltkriegs radikal gestört hat – mehr um die Gleichzeitigkeit des Disparaten und Widersprüchlichen, um das Nebeneinander der entgegengesetzten Bilder und Situationen; deshalb ihr Hang zur satirischen Photomontage und Collage. Einschlägig heißt es im Dadaistischen Manifest von 1918:

Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegensten Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.

Und zur Illustration:

Das SIMULTANISTISCHE Gedicht / lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke.2Dada Almanach, hrsg. von Richard Huelsenbeck, Berlin 1920, S. 36ff.

Teils abhängig, teils unabhängig vom italienischen Futurismus war es aber auch schon im deutschen Frühexpressionismus zwischen 1910 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu dichterischen Konzeptionen gekommen, die ebenfalls stark ,simultanistisch‘ ausgerichtet waren. Das bedeutendste Textbeispiel ist Jakob van Hoddis’ „Weltende“:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken
.3

Johannes R. Becher erinnerte sich zu späterem Zeitpunkt an die Entstehung dieses Gedichts und auch an seine Wirkung auf die junge Dichtergeneration, und beides sah er, ohne daß die Verse dies selbst ohne weiteres hergeben, ausdrücklich im Zusammenhang mit der damaligen Berliner Großstadtatmosphäre: „Ein neues Weltgefühl schien uns ergriffen zu haben, das Gefühl von der Gleichzeitigkeit des Geschehens. (…) Jakob van Hoddis aber dozierte uns, während wir Nächte hindurch die Stadt von einem Ende bis zum anderen durchstreiften (wir waren nämlich Peripathetiker), daß schon bei Homer dieses Gefühl der Gleichzeitigkeit vorgebildet sei“ und „Immer neue Schönheiten entdeckten wir in diesen acht Zeilen, wir sangen sie, wir summten sie, wir murmelten sie, wir pfiffen sie vor uns hin, wir gingen mit diesen acht Zeilen auf den Lippen in die Kirchen und wir saßen, sie vor uns hinflüsternd, mit ihnen beim Radrennen. Wir riefen sie uns gegenseitig über die Straße hinweg zu wie Losungen, wir saßen mit diesen acht Zeilen beieinander, frierend und hungernd, und sprachen sie gegenseitig vor uns hin, und Hunger und Kälte waren nicht mehr“.4
Durch die „liest man“-Parenthese zum Ende der ersten Strophe weist van Hoddis das ganze grotesk-grimassierende Weltuntergangs-Katastrophen-Geschehen als wildes Konglomerat von Zeitungsmeldungen aus. Hier knüpft Mehring – radikalisiert durch noch weitergehende Montage-Experimente der Dadaisten, auch sie häufig unter Benutzung von Zeitungs- und Zeitschriftenmaterialien – unmittelbar an. Daß sich die Reklame des Lebens bemächtigt, wie es der Gedichttitel formuliert, oder längst schon bemächtigt hat, setzt Mehring ja dadurch in Szene, daß er den ganzen Textzusammenhang – als handle es sich um aneinandergereihte Zitate – mehr oder weniger ausschließlich vom Durcheinander der Werbung her konstituiert, wie es sich in den Annoncenseiten der Zeitungen, auf Litfaßsäulen oder an Häuserwänden präsentiert. Nur der Einsatz des Gedichts – „Am Anfang abends vor den anatomischen Kabinetts“ – hat noch situativen, erlebnishaften Charakter, dann schließt sich die Zitatenkette an und erzeugt aus sich heraus die unterschiedlichsten Abläufe und Kontraste, dadurch variiert, daß der Autor die Zitate nicht nur hart gegenschneidet – so: „Nur kondensierte Alpenmilch / Das Geheimnis des üppigen Busens“ – oder „Gummiartikel! Apotheke zum goldenen Schwan / Leda vom Wannseelido! Geprüfte Masseuse“ –, sondern auf überraschende Zusammenhänge hin auch grammatikalisch zuordnet:

Der Mann ohne Nasenknorpel
Schielt nach der Dame ohne Unterleib
Und das Fräulein lächelt
In „Steiners Paradiesbett“.

Die Attraktionen des Panoptikums, „Steiners Paradiesbett“, „Hanewaker“ – eine Schnapsmarke –, „Kaiserbriketts“, Zirkus- und Variete-Sensationen – „The flying brothers“ –, Schlagertitel und Anspielung auf einen erotischen Taschenartikel – „Pischerin, du kleine“ –, politische Schmähungen und Parolen schließlich – „die Schuld der Juden am Weltkrieg“, „werbt für die Freikorps“…: das ganze Montage- und Collagematerial läßt sich, als wirklich aktuell beigebracht, in den Zeitungen und Zeitschriften der Zeit nachweisen. Mehring macht also den Versuch, über solche eingefangenen Zitate, die man gerade in Berlin, wirklich das Straßenbild bestimmend, überall öffentlich plakatiert sehen konnte, die Stadt selbst zum Sprechen zu bringen. Ähnlich wie Alfred Döblin, der über zehn Jahre später noch einmal denselben Versuch für den Roman unternahm, bleibt er aber nicht an der Oberfläche des Dokumentierten stehen, sondern dringt mit Hilfe dieser zitierend-collagierenden Schreibmethode in tiefere Schichten seines Sujets vor, kommt auch zu Deutungen. Er erreicht dies, indem er zum Beispiel den von den Expressionisten strapazierten Vergleich mit den großen verworfenen Städten der Vergangenheit aufgreift und aktualisiert:

Babel-Berlin
Die Hölle heizt mit Kaiserbriketts

Oder der Krimiheld Nic Carter und der Massenmörder Jack the Ripper werden aus ihrer bloßen Namens-Nennung herausgeholt und – in Verfolgung des Verbrechens bzw. beim Versuch, sich eben dieser Verfolgung zu entziehen – zu acteurs erhoben:

Schon ist Nic Carter auf der Spur
Dieser Mann kennt ihr Schicksal
Die Kunst zu fesseln

(…)
Jack the Ripper kutschiert
Nur echt mit dem Totenkopf
Durch die Tiefen der Weltstadt!

Der Autor weicht hier vom einfachen Zitat und der einfachen Zitat-Montage ab und tendiert stärker zu Eigenformulierungen. Die intendierte Imagination entfernt sich aber nicht aus dem Bannkreis der Zitat-Partikel, sie treibt sie in ihrer simultanistischen Kombinierbarkeit nur um so frappierender hervor. Man vergleiche dazu im übrigen verwandte Texte Mehrings, etwa sein ebenfalls im Umkreis der Berliner Dada-Bewegung entstandenes Chanson „Hoppla“, bei dem der Großstadtverweis nicht erst am Schluß, sondern gleich in den Eingangszeilen zu finden ist:

Der Mann mit dem Straußenmagen
und: ALI, das Kopfstehwunder
auf fliegendem Holländer
robben durchs Steinmeer der Weltstadt.
Auf DUNLOP-Reifen siegt die
REMINGTON mit zehnfachem Durchschlag.
5

Solche Kontrafakturen, Ineinsnahmen und Überspiegelungen, wie sie „Die Reklame bemächtigt sich des Lebens…“ kennzeichnen, verraten ein sensibles Gespür für die Chaotik der Zeit und ihre gewaltsamen Komponenten. Dadalike identifiziert sich der Autor mit ihnen – und setzt sich damit satirisch auf Distanz. In dieser charakteristischen Doppelung spricht er jedenfalls 1919 in seiner Eröffnungs-Conferénce zum Kabarett Schall und Rauch die Zeitverhältnisse unmittelbar nach Beendigung des Ersten Weltkriegs an und umreißt damit den weiteren zeit- und gesellschaftskritischen Horizont seiner damaligen Lyrik:

Antikem Brauchtum gemäß folge nunmehr dem heroischen Kladderadatsch einer miserablen Geschichtstragödie das schadenfröhliche Satyrspiel – dem Größenwahnwitz der Schmieren-Cäsaren der Spott, den ihnen das Vaterland schuldet! Dem Versegerassel der ,Festedrauf‘-, der ,Gottstrafeengland‘-Barden die Moritat und der Gassenhauer! An Motiven – an smauvais sujets. mangelt es nicht, an: Ausschweifungen in allen Preislagen jeder Geschmacklosigkeit-Hochstapeleien in Sach- und Ewigkeitswerten – Pöbel-und-Hurra-Sozialismus, Raub- und Fememord; Landsknechttum im Solde jeder Demagogie; der ganze Troß der apokalyptischen Phrasenreiterei sind so an der Tagesordnung wie im finstersten Mittelalter! In diesen Belangen ist unsere Aktualität nicht phantasieärmer, als es die ,120 journées de Sodome et Gomorrha‘ des Louis Alphonse Donatien, Marquis de Sade, gewesen.6

Die wilde – simultanistische – Gestik des Großstadtgedichts scheint auf die Dada-Zeit begrenzt; auch das liegt mit im Zug dieses Conférence-Statements! In der Tat sind fast alle Texte Mehrings, die sich nach Thematik und Struktur unmittelbar mit „berlin-simultan“ und „Die Reklame bemächtigt sich des Lebens…“ vergleichen lassen, eng auf die Jahre 1919/20 zu datieren, auch wenn einige erst später veröffentlicht worden sind. Andererseits hat sich dieser Ursprung in der insgesamt satirisch-kabarettistisch geprägten Lyrik des Autors nie ganz verloren; im Gegenteil: er ist seiner Rhythmik verpflichtet geblieben und hat sie dann auch auf andere Städte – Paris, im Exil New York, nach dem Zweiten Weltkrieg Venedig u.a.m. – zu übertragen versucht. Und: was für den einzelnen Autor gilt, gilt auch allgemeiner für die Literaturgeschichte! Die spezifisch dadaistisch-simultanistische Tonlage des Großstadtgedichts erwies sich, da an die bestimmte historische Situation um 1918/19 gebunden, als unwiederholbar. Gleichzeitig aber handelte es sich ja um eine literarische Entdeckung, die wirklich in die Tiefe großstädtischer Lebenswirklichkeit vordrang und sich daher auch unter veränderten Vorzeichen stets erneut einstellte, mit oder ohne ausdrücklichen Rekurs auf Dada. Es hat daher – sowohl in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren wie nach 1945 – immer wieder Autoren gegeben, die in dieser Weise auf Großstadtwirklichkeit reagierten und sich so dem Thema näherten. Ein herausgegriffenes Beispiel der jüngeren deutschen Literatur ist Walter Höllerers (geb. 1922) „Ffm. Hbf.“ von 1969, ein Gedicht, das in all seiner Unverwechselbarkeit mit Mehrings hier herangezogenen Poems doch dies gemeinsam hat, daß hier wie dort der lyrische Impuls durch den Wirrwarr des Gleichzeitigen ausgelöst wird, den der Großstadtort feilbietet, und auf dieser Basis zu einer imaginativen – hier besonders sprachspielerischen – Verarbeitung weitergeleitet wird; was für den Dichter der zwanziger Jahre das Panoptikum als Poetik-Signal, ist hier freilich die flimmernde Leinwand, das Bahnhofskino, kurz ,Aki‘ (Aktualitäten-Kino) genannt; die letzten Verse in Höllerers Text, die darauf Bezug nehmen, lauten:

ein Hoch der Weltraummedizin
ein quicker Borstenpinguin
im Frack durchs Pulvermagazin
absäbeln schwäbeln abgewetzt
den Bettkattun ans Licht gesetzt
Braunschweigergrün und Moschusbraun
das Kalbshirn hinterm Schwellenzaun
Normalgewind im Kimono
Auskunftsbüro fürs Sperrkonto
in Aktualitätenschau
Belkanto Bantu Überbau
.

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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