Kate Tempest: Brand New Ancients / Brandneue Klassiker

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Kate Tempest: Brand New Ancients / Brandneue Klassiker

Tempest-Brand New Ancients / Brandneue Klassiker

Früher machten wir uns mit Mythen verständlich.
Heute fehlen uns die Worte für den unendlichen Hass
auf uns selbst, auf das, was wir selbst aus uns
aaaaamachten,
für die krasse Selbstverachtung.
Wir fallen uns selbst zur Last und verstricken
uns in uns selbst und ersticken daran fast.

Und doch: Wir sind immer noch mythisch.
Wir schwanken immer noch pausenlos zwischen
aaaaaHeldentum und Elend.
Wir sind immer noch göttlich; das macht uns so schrecklich.
Nur haben wir scheinbar vergessen, wir sind viel mehr als die Summe all dessen,
was uns gehört.

Die leeren Himmel hängen
über den Bänken, wo die alten Männer hocken –
ohne Hoffnung,
ohne Freunde,
und die jungen Männer spucken;
innen sind sie zart, doch außen übermütig, und ich vermute,
hier sind unsere Helden,
hier sind unsere Legenden.

Jenes Gesicht auf der Straße, du gehst achtlos vorüber,
oder jenes Gesicht auf der Straße, das deinen Blick nicht erwidert,
oder der Mann im Supermarkt, der mit den quengelnden Kindern schimpft,
oder die Frau am Briefkasten, die mit ihrem Regenschirm kämpft,
jeder Einzelne trägt in sich eine brennende Bestimmung.
Schau noch einmal hin und trau dich, diese zu erkennen.

Millionen Charaktere,
alle mit ihrer eigenen epischen Erzählung,
sie singen, Engel sein ist schwer,
warst du nicht zuvor ein Dämon.

Der Himmel ist so perfekt, wie sonst nur gemalte sind,
doch die Luft ist so zäh, dass es uns den Atem nimmt. Dennoch
singen die Mythen hier stets von dem alten Ding –
davon, dass wir nichts brauchen außer den richtigen Platz;
dass wir nichts wissen müssen, außer was recht und was falsch ist, und
dass wir alle uns schwertun, für uns selbst zu klären,
zu welcher Seite wir gehören.

Wir alle müssen lieben
und uns geliebt fühlen
und weitermachen.

Es sind vielleicht keine Monster mehr zu bezwingen,
keine Drachenzähne mehr in die Erde zu bringen,
doch was es gibt, ist der gurgelnde
Regen in den Gullys,
was es gibt, sind die Irren und ihr Murmeln.
Was hier vor uns liegt,
ist eine brandneue Palette an Mythen:
das Gleichnis von dem Freund, der alles hätte werden können,
ehe ihn die Sucht zerstörte.

Oder das Gleichnis von dem verlorenen Vater,
der nach Jahren aus der Wüste heimkehrte.

Moral lehrt uns auch jetzt noch die Erfahrung,
die wir in den Städten sammeln, in all ihrer Wut, all ihrem Stumpfsinn und ja –
unsere Farben sind ergraut und ausgebleicht,
doch unsere Kämpfe sind nach wie vor bühnenreif,
und wir sind immer noch mythisch:
Nenne uns beim Namen.

Wir sind vollkommen dank unserer Schwächen.
Wir müssen die Hoffnung bewahren;
Wir müssen die Ruhe bewahren –
denn wenn sie die Moderne ausgraben,
entdecken sie uns: die Brandneuen Klassiker.

 

 

Kate Tempest performt Brand New Ancients beim Glastonbury Festival 2017.

 

Brand New Ancients im Film – Teil 1

 

Brand New Ancients im Film – Teil 2

 

 

Die antiken Götter von heute

leben im Südosten Londons. Sie heißen Kevin und Jane, Mary und Brian, Thomas und Clive – zwei Familien in benachbarten Häusern, Eheleute, die einander betrügen, Halbbrüder, die nichts voneinander wissen. Ihre Nöte, Hoffnungen und Enttäuschungen bringt Kate Tempest in ihrem preisgekrönten Langgedicht Brand New Ancients / Brandneue Klassiker zu Gehör. In den kleinen, prekären Leben findet sie die Kraft der alten Mythen wieder. Dem Zynismus und der Gleichgültigkeit der kapitalistischen Gesellschaft setzt sie Humanismus und Einfühlungsvermögen entgegen und die Wucht ihrer Sprache.

Klappentext, Suhrkamp Verlag, 2017

 

Rebellion gibt’s in ihrer Show für alle

– Jung, wild, anders: Kate Tempest ist der neue Popstar der Literaturwelt, auf den sich alle einigen können. Wieso eigentlich? Eine Frage: Darf man diese Frau auch nervig finden? –

Die Presse vergleicht Kate Tempest gern mit Shakespeare, bei jeder neuen Veröffentlichung werden die Adjektive, mit denen sie als Brückenbauerin verschiedener Kunstformen bejubelt wird, noch inflationärer benutzt als zuvor. Das geht jetzt schon seit Jahren so. Ihr Erfolg scheint nicht kurzfristig zu sein, sondern zuverlässig und unfehlbar, ihr Aufstieg etwas, bei dem man eher an Begriffe wie „harte Arbeit“ und „Durchhaltevermögen“ denkt als an rohes, gefährdetes Talent.
Aufgewachsen ist Kate Tempest in einer vom Prekariat umgebenen Mittelschichtsfamilie, Brockley, der Süden Londons, fünf Geschwister. Sie hat Sommersprossen, eine Ehefrau und eine Geliebte, heißt es, keinen Schulabschluss und mit sechzehn begonnen, in Kellerclubs vor zehn bis zwanzig Leuten zu rappen. Inzwischen ist sie 31 und wird als eines der größten Dichtertalente gepriesen, die England je hervorgebracht hat.
Als sie Ende der Neunzigerjahre zum ersten Mal mit ihren Performances an die Öffentlichkeit tritt, in einem Alter, in dem sich andere Mädchen kaum trauen, mit einem Pickel im Gesicht den Müll wegzubringen, wird Mainstream-Hip-Hop grade von Goldketten und Koks und Nutten dominiert, Eminem veröffentlicht „My name is“, Jay-Z hängt im Video zu „Big pimpin’“ mit einer Horde halb nackter Girls auf seiner Hochgeschwindigkeitsyacht herum.
Die US-Jungs feiern widerspruchslos ihren Aufstieg als Kapitalisten ab und geben an mit allem, was sie sind und besitzen, und währenddessen sieht Tempest als Teenager die Apokalypse kommen. Das, was sie schreibt, gilt als politisch, die Darstellungsform ihrer Texte spielt sich ab als irgendwas zwischen The Roots und Patti Smith. Sie produziere Lyrik für Menschen, die keine Gedichte lesen, schreibt der Guardian, sie rappe für Menschen, die keinen Hip-Hop hören.
Das Publikum bei ihren Konzerten setzt sich zusammen aus Jugendlichen und Rentnern, Kulturelite im Anzug trifft auf Hipster mit ausrasierten Quadraten im Haupthaar. Auf den ersten Blick wirkt das divers, auf den zweiten ahnt man, warum die sich dort treffen und woher die alle kommen: aus derselben sozialen Schicht, aus denselben halbwegs gesicherten Kontexten, in denen ihnen schon von klein auf beigebracht wurde, sich für Künstler zu interessieren, die das Elend in der Welt hinterfragen.
Aber bitte halbwegs widerspruchsfrei, bitte nicht zu explizit, nur so, dass es ein bisschen wehtut und nicht zur Lebensgefahr wird (wie Turbulenzen im Flugzeug, die der Pilot vorher angekündigt hat, bei denen man eine Ahnung von einem Absturz bekommt, sich aber verlassen kann, ihm nicht zum Opfer zu fallen).
Als Kate Tempest im November 2016 ihre Platte Let Them Eat Chaos in Berlin vorstellt, kommt sie auf die Bühne, in irgendwelchen Klamotten, mit irgendeiner Frisur. Sie sieht anders aus alle Frauen, die da je gestanden haben. Sie stellt sich selten ins Scheinwerferlicht, die meiste Zeit bewegt sie sich durch die Dunkelheit daneben.

Je tiefer sie im Halbschatten verschwindet, desto mehr will man sie sehen. Sie bittet das Publikum, sämtliche elektronische Geräte abzuschalten, mit dem berechtigten Argument, dass wir hier sonst keinen „gemeinsamen Moment“ würden teilen können. Das Publikum applaudiert, teils aus Rührung, teils wohl auch deshalb, weil es so die eigentlich fürs Wochenende geplante zweistündige Isolationstherapie in einem Waldstück ohne Handyempfang schon jetzt abarbeiten kann.
Dann schreit Kate Tempest so mitreißend „Europe is Lost“, den Refrain eines ihrer Haupthits, den sie Monate vor dem Brexit geschrieben hat, dass man Gänsehaut kriegt. Der Abend wird zu einem Madonnakonzert, das in eine christliche Erweckungszeremonie ausartet, und hat eher was mit Trancezuständen in einer Kathedrale zu tun als mit Bier aus Plastikbechern in irgendeiner Konzerthalle.
Die Mitgerissenheit, die absolute Euphorie über ihre Bühnenpräsenz, mit der sie 1.500 Menschen das Gefühl gibt, etwas wirklich Großes mitzukriegen, wechselt sich ab mit dem Zweifel an dem, was sie da eigentlich die ganze Zeit erzählt. Das ist alles unterhaltsam, toll formuliert oder wie man das nennen will, setzt sich aber aus leeren Bestandsaufnahmen von einem Elend zusammen, über das wir alle ganz genau Bescheid wissen, das aus einer vermeintlich objektiven Perspektive einfach noch mal wiederholt wird.
Missstände werden zu etwas gemacht, auf das man sich verlassen kann. Es scheint, als würde sie alles, gegen das man sich risikofrei und einstimmig richten kann (Vereinzelungstendenz, Krieg, Armut, Pornosucht von Elfjährigen, Ignoranz der herrschenden Klasse, Artensterben usw.) benutzen als Grundlage für das, was sie wirklich gut kann: ein Superstar sein, von der Bühne aus Leute hypnotisieren.

Kate Tempest ist keine politische Figur, sondern ein Popstar. Fast jeder ihrer Texte und Auftritte läuft auf die Aussage hinaus, dass die Welt schlecht ist, ein „kreativer Prozess“ jedoch einen Konzertsaal mit „Liebe“ füllen kann.
Vergleichbare Inhalte findet man auch bei Taylor Swift, da aber immerhin nur zwischen den Zeilen. Vielleicht ist Kate Tempest eine Taylor Swift für Leute mit Anspruch – was heißt Anspruch, für Leute, die sich nur unterhalten lassen können, solange ihnen dabei versichert wird, dass sie sich nicht nur toller Musik, sondern gleichzeitig auch noch einem gewissen Maß an Bildung und politischem Bewusstsein aussetzen. Das ist per se nichts Schlechtes. Und absolut nichts, worauf Kate Tempest selbst einen Einfluss hat. Trotzdem nervt das. Ein bisschen zumindest.
Es nervt vor allem dann, wenn ihre Gedanken, unabhängig von ihr selbst und ihren Auftritten, einfach so, als reiner Text funktionieren müssen. Innerhalb von sechs Jahren veröffentlicht Kate Tempest zwei Alben, drei Theaterstücke, einen Roman und ein sehr langes Gedicht: Brand New Ancients, eine Verlagerung antiker Mythen in das heutige London, für das sie 2012 mit dem Ted Hughes Award ausgezeichnet wird.
Ein Jahr später geht sie mit Brand New Ancients zusammen mit ein paar Musikern auf Tour. Schlagzeug, Violine, Cello, Tuba. Die 75-minütige Performance muss irre gut gewesen und über die Biederkeit hinausgegangen sein, die man modernem spoken word theatre unterstellt: überschwängliche Kritiker, Zusatzkonzerte, massenhaft euphorisierte Besucher.
Jetzt, fünf Jahre später, wird Brand New Ancients von Suhrkamp veröffentlicht. Reiner Text. Eine Seite Deutsch, eine Seite Englisch, 105 insgesamt. Der Untertitel lautet „this poem is written to be read aloud“ – auf Deutsch klingt das leider direkt nach Kinderkanal, selbst die Groß- und Kleinschreibung nervt: 

Brandneue Klassiker – Dieses Gedicht wurde zum laut Lesen geschrieben

Konkret geht es um Götter in der Jetztzeit, das Mythologische im Kleinbürgerlichen. Literaturprofessoren sind überzeugt davon, dass sich Tempest beim Schreiben an der Odyssee orientiert haben muss, sie selbst gab in einem Interview zu, dass sie Homer nie zu Ende gelesen hat, freut sich aber trotzdem über den Vergleich, völlig zu Recht.
Wie in ihrem Roman, wie auf ihren Platten, hangelt sie sich an den Schicksalen vermeintlicher Durchschnittsbürger entlang, in diesem epischen Gedicht an zwei Londoner Familien und deren Söhnen, die aufgrund einer nie aufgedeckten Affäre ihrer Eltern Halbbrüder sind, das aber nicht wissen.
Der eine wird Grafikdesigner und vernachlässigt seine Freundin, der andere wird ein Brutalo, der Leute schlägt, auch Frauen, vorrangig deshalb, weil er im Teenageralter mal von einem Mädchen, das er scharf fand, abgewiesen wurde. Solche Sachen. 

Richtig von Falsch zu trennen, ist schwer,
wenn die Moral fehlt,
wenn das Recht fehlt;
wenn bei allem nur der Profit zählt.

So klingt das.
Oder auch so: 

Heute haben wir Pin-ups, unnahbar, glänzend, entrückt,
und Werbung, die mit der Hand auf dem Herz lügt,
während wir lächelnd zu ihr aufschauen.

Aber ich will nicht, dass ein Mann des Volkes spricht.
Ich will, dass die Leute für sich selber sprechen.
Und lieben. Und friedlich sind. Oder wenn nicht,
dann hemmungslos und flammend vor Wut

Das Langgedicht muss man lesen wie das Libretto einer Oper – es fehlt die Musik, es fehlt der Kontext. Wenn man Brand New Ancients auf der Bühne gesehen oder zumindest eine Idee davon hat, wie Kate Tempest auf der Bühne funktioniert, kann man den Kontext unter Umständen heraufbeschwören und mitlesen. Wenn nicht, kriegt man nur beigebracht, dass Castingshows schlimm sind, es Ehen gibt, die nicht so toll laufen, und daraus Kinder hervorgehen, die Probleme haben.

Helene Hegemann, Die Welt, 12.6.2017

„Denn die Götter sind in uns“

– Die tragische Geschichte zweier benachbarter Familien erzählt Kate Tempest in Brand New Ancients. Die Eastend Boys und Girls, das sind ihre Götter. Die Lyrikerin setzt ihnen in ihrem Langgedicht ein Denkmal – das ist genauso schlicht wie ergreifend. –

Mythen 3.0 – Kate Tempest entdeckt Pandora, Medea, Dionysos und Co. im London von heute. Die Eastend Boys und Girls, das sind ihre Götter, ihre Brand New Ancients. Ihnen setzt die 31-Jährige ein Denkmal:

Die Götter sind alle hier.
Denn die Götter sind in uns.

Brand New Ancients ist ein Song – früher hätte man es Ballade genannt, der die Geschichte zweier benachbarter Familien und ihrer Kinder erzählt. Einfache Menschen in bescheidenen Verhältnissen, die zwei von ihnen zu eng geworden sind.
Der Ausbruchsversuch ist eine Affäre, die Jane ausgerechnet mit Nachbar Brian beginnt. Aus dieser „Brand New Pandora“ schlüpft das Baby Tommy. Und während der ebenso arg- wie ahnungslose „Vater“ Kevin es hingebungsvoll großzieht, geben sich Brian und seine Ehefrau Mary, die „Brand New Medea“, dem Suff hin. Der gemeinsame Sohn Clive wird vernachlässigt und bekommt den Frust seiner Eltern in Form von Schlägen zu spüren.
Stoff für eine antike Tragödie mit modernen Protagonisten. Clive gerät auf die schiefe Bahn. Tommy, sein Halbbruder, macht dagegen Karriere, verliert darüber aber seine Freundin Glory aus dem Blick. – Später kommt es zum Showdown in einer Kneipe: Clive versucht mit einem Kumpel, Glory zu vergewaltigen. Die aber wehrt sich tapfer, bis schließlich Tommy eintrifft:

er stand wie angewurzelt,
unbemerkt und nutzlos,
während Glory heller brannte als jede Tochter des Zeus,
der Kampf in ihren Augen entflammte auch ihn.

Diese dramatische Nacht heilt Tommy von seiner Hybris. Er findet mit Glory zum gemeinsamen Glück zurück, während Clive in der Versenkung verschwindet. Moral von der Geschicht’:

Die Götter werden Götter, wenn sie nur zu lieben wagen.

Brand New Ancients ist dazu gedacht, laut gelesen zu werden. Diesen Hinweis hat Kate Tempest ihrem Langgedicht vorangestellt. Es ist ein wichtiger Hinweis. Denn wer erlebt, wie die Autorin voller Inbrunst und Empathie ihre „spoken word performances“ zum Besten gibt, wer hört, wie Tempest ihrem Pseudonym alle Ehre macht und in einem Wortsturm mit Tempiwechseln, Synkopen und Reimen die Texte kraftvoll nach vorn peitscht, der überhört gern, dass Brand New Ancients viele Klischees bedient.
Leider geht diese Energie in der spröden Übersetzung von Johanna Wange fast völlig verloren:

the gods are in the office blocks
the gods are at their desks
the gods are sick of always giving
more and getting less

die Götter sind in Bürokomplexen
die Götter sitzen am Schreibtisch
die Götter wollen nicht immer mehr geben und
weniger kriegen

Seit Brand New Ancients ist die Rapperin Kate Tempest auch als Lyrikerin anerkannt. Als bislang jüngste Autorin hat sie dafür den Ted Hughes Award erhalten, den Lyrikpreis der britischen Poetry Society. Die Erfolgsformel ist die eines guten Poetry-Slam-Textes: Brand New Ancients ist schlicht. Und ergreifend.

André Hatting, Deutschlandfunk Kultur, 19.6.2017

Trotz aktuellem Hype ein unvorstellbares Talent

Ein absolut überwältigendes (Lese)Erlebnis.
Von einer poetischen Kraft, Unverbrauchtheit und Wucht, die mir altem Lesehasen nach abertausenden gelesenen Seiten nicht mehr möglich schien.
Tempests Blick auf den Menschen macht dieses Büchlein einzigartig: zuversichtlich, achtsam und verständnisvoll, gleichzeitig absolut frei von Gefühlsdusel und die oft grausame Realität nicht leugnend. Es geht also auch thematisch ordentlich zur Sache in diesem Langgedicht (die bevorzugte literarische Form von Tempest, die auch auf Bühnen als Rapperin und Spoken Word Artistin in Erscheinung tritt.)
Mehr Inhalt wird allerdings nicht verraten – die ca 60 Seiten reiner Text (ohne die eher mässige deutsche Übersetzung auf jeweils der anderen Doppelseite) sind flott gelesen. Und keine Angst, hier wird nicht altbacken gereimt a la Hölderlin und Co, Tempests Sprache ist modern, eigentlich Prosa, allerdings stark rhythmisiert, dadurch fast jeder Satz ungemein dicht und eindringlich. Und ein Fall für den Textmarker ;-).
Der Text ist somit sicher nichts für Menschen mit einem klassischen Lyrikbegriff im Hinterkopf: hier gibt es kein salbungsvolles Wortgeklingel, keine erbauliche Atmosphäre, keine verstechnischen Kunststückchen. Formal sind die Brandneuen Klassiker sowieso nicht mehr klar einer Gattung zuzuordnen: lyrische Unmittelbarkeit und Konzentration mischen sich mit „epischem“ Plot und diese story wiederum wird mit chorusartigen oder an Regieanweisungen („Focus, now“) erinnernden Passagen durchsetzt.
Klingt sicher sehr kitschig, aber: für mich spricht hier eine Art moderne Seherin von einem anderen, besseren Stern zu den Menschen gesandt, um uns wachzurufen zu unseren unbegrenzten, besseren Möglichkeiten.
Folgerichtig – Spoileralarm – sind mit den brandneuen Klassikern auch wir heutige „normale“ Menschen gemeint, denn:

unsere Farben sind ergraut und ausgebleicht,
doch unsere Kämpfe sind nach wie vor bühnenreif,
und wir sind immer noch mythisch.

In ihrer Heimat wird Tempest schon mit gerade mal 30 als das größte Talent seit Shakespeare abgefeiert – natürlich ist das ziemlich hoch gegriffen. Aber sie bitte auch nicht mit den süßlich-klebrigen Lebe-dein-Leben-Gedichtchen des deutschen Szenestars Julia Engelmann zu vergleichen. Hier spricht/schreibt nämlich ein echtes und zweifellos grandioses Talent. Und eine große Humanistin.
Bei Tempests Liveperformances sollen sich die Zuschauer reihenweise in den Armen liegen und mitunter vor Ergriffenheit weinen.
Am besten so einen Liveact der Autorin auf YouTube (im englischen Original) selbst ansehen – beeindruckend!

amazotrix, amazon.de, 23.7.2017

erschütternd und heftig

Man könnte ja glauben, die Lyrik, wenn es denn eine ist, bei Kate Tempest, bin ich mir da gar nicht so sicher, hätte im Moment Aufwind in der deutschen Literatur und Bücherwelt. Jan Wagner erhält den Büchner Preis, Julia Engelmann steht vor ausverkauften Hallen und Bob Dylan erhält den Literatur-Nobelpreis. Lyrik ist wieder in? Wohl kaum. Das grösste Talent seit Shakespeare? Wohl kaum. Ich empfinde diesen Text, der zweisprachig abgebildet ist nicht als wirkliche Lyrik. Ein Endlostext in dem man sich verlieren kann. Und sonst? Tempest will wachrütteln und erschüttern, sie zeigt uns die Heftigkeit des Lebens mit all seinen menschlichen Abgründen, die es nur geben kann. Wir lesen die englische Variante anders als die ins Deutsche übersetzte und man wird Unterschiede feststellen, die wohl von jedem Leser, individuell unterschiedlich erlebt werden dürfte. Doch sind wir einfach im Englischen näher im Puls, der Autorin!
Und live? Wer sich Ausschnitte der Performance-Künstlerin auf YouTube ansieht, bekommt Gänsehaut – ich zumindest! Und so werde ich den Eindruck nicht los, dass dieser Text oder überhaupt Texte von Kate Tempest in live anders transportiert und deswegen auch anders – nämlich besser beim Leser ankommen. Man mache den Versuch selbst und sehe selbst. Man könnte auch sagen, dass live die beste Variante, dann die Englische (wenn man es denn auch englisch versteht, was eher anspruchsvoll sein dürfte / obwohl ich relativ gut englisch verstehe, ist es eine echte Herausforderung, alles zu verstehen! / Dictionary daneben legen oder online-wörterbuch bereit halten!) und am Schluss die Deutsche Variante ist, was der deutschen Übersetzung nicht zuträglich ist. Vielleicht muss man Lyrik, wirklich in live in sich aufnehmen, was natürlich für ein Hörbuch sprechen würde, in diesem Fall für ein englisches Hörbuch, von der Künstlerin selbst besprochen. Das wäre nach meiner Einschätzung sozusagen die beste Version, ihrer Wort und Sprachgewalt-Kunst. Die Englische Hörbuchversion gibt es, die von Kate Tempest selbst besprochen wurde, in eine Hörprobe kann man reinhören, siehe hier: Brand New Ancients. Mich persönlich haben allerdings die Texte nur teilweise erreicht und berührt, den Hype um Kate Tempest kann ich nicht wirklich nachvollziehen.

A. Zanker, amazon.de, 2.8.2017

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Marko Dinić: Ein Fall fürs Vergessen
fixpoetry.com, 3.8.2017

Mario Osterland: Everyday epics / Alltägliche Epen
signaturen-magazin.de

Timo Brandt: The language of languishing love
signaturen-magazin.de

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Facebook
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Kate Tempest: NPR Music Tiny Desk Concert.

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