Kiki Dimula: Plötzlich wurde ich hellhörig

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Kiki Dimula: Plötzlich wurde ich hellhörig

Dimula-Plötzlich wurde ich hellhörig

FINSTERNIS

Habt ihr mein Phänomen beobachtet?
Meine totale, endlich, Finsternis?

Ich besaß einen verschwiegenen Sternenhimmel
zum persönlichen Gebrauch
und während ich ihn durchquerte
schrieb ich Verse:
Kurz gesagt legte ich mein Schicksal mit Würde
aaaaazurück.

Gestern also
um Mitternacht
ohne einen sichtbaren Grund
ich, der lyrische kleine Planet, erlitt
fast eine totale Finsternis.

 

 

 

Der spielerische Mythos

Ich danke dem Herrn Präsidenten der Akademie für die illustren Worte, mit denen er mich hier empfangen hat.
Ich danke dem Akademiemitglied, Herrn Vassilios Petrakos, der mit seiner feinen Großzügigkeit meinen zerstreuten Bemühungen ein festes und wärmendes Obdach bot:

Auch bei einer schwächeren Beleuchtung in diesem Saal wäre mir leicht anzusehen, wie verlegen mich der heutige Abend macht, und damit bezeuge ich, wie groß die Ehre ist, welche die Akademie mir durch meine Aufnahme unverhofft erwiesen hat. Nichts kündigte dieses Ereignis an. Im Gegenteil; da ich eine lange Periode in ängstlichen Stimmungen lebte, habe ich voreilig prophezeit, dass nichts Unerwartetes mir rettend beistehen würde, um diese meine Stimmung anzuheben. Das hatte ich sogar in einem Vers ausgesprochen:

Mein Gott, was gibt es noch alles, das uns nicht erwartet!

Ein Vers, der gewiss über den unerforschlichen Willen Gottes und des exzentrischen Schicksals vorschnell geurteilt hat.
Und nun, anstatt durch die Verwirklichung dieser Prophezeiung bestraft zu werden, wurde ich durch ihre Widerlegung belohnt, dank des ausgesprochenen Wohlwollens, das mir die verehrten Mitglieder der Akademie erwiesen haben. Tief bewegt danke ich nochmals .

Schwer lastet die Würde eines Akademiemitglieds, die ich auf meinen Schultern zu tragen habe, und ich gestehe, mir ist ihre verwirrende Zweideutigkeit bewusst, denn ich weiß, weIch außerordentliche Fähigkeiten erforderlich sind, um ihr gebührend zu dienen.

Wer große Steine trägt, versinkt

warnt Jorgos Seferis. Ich habe vor, ehrfürchtig genug für die Größe dieser Verantwortung zu sein, die mir umso eindeutiger wird, da ich aufgerufen bin, mich auf den Stuhl berühmter Vorgänger zu setzen. Ich nenne nur Kostis Palamas, der in diesem Jahr, 60 Jahre nach seinem Tod, mit Gedenkfeiern geehrt wird.
Ich danke allen unersetzlichen Abwesenden für die Lehre, welche mir ihr Werk als Vorbild gedient hat, und ebenso allem, was mich erschaffen hat: Den Eltern, denen ich meine Geburt verdanke; meinem Mann Athos Dimulas, der mir das zweite Leben geschenkt hat – meinen Kindern, die mir den fruchtbaren Namen „Mutter“ bescherten, meinen Enkelkindern, die mich fortsetzen, indem sie diesen Namen zu „Großmutter“ verwandelten.
Ich danke auch der Hoffnung, deren Ressort die Selbsterhaltung ist und die die Einkünfte verwaltet, die ein unermessliches Kapital der ganzen Menschheit einträgt. Nur sie kann durch die Symplegaden-Felsen gehen, ohne zu zerbersten. Ich danke ihr ganz besonders, dass sie mir heute Abend bei diesem irgendwie gearteten Erstlingsversuch beisteht, vor so vielen gestrengen und anspruchsvollen Menschen zu sprechen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Begriffen entsprechen kann, die nur durch die Vermittlung der Kunst von bekannten Begriffen in unbekannte sich verwandeln lassen, um in eine freudige Überraschung zu münden.
Zudem wird meine Gelassenheit nur allzu sehr untergraben durch den Ausspruch von Cesare Pavese, es sei leichter, „etwas“ zu tun als darüber zu sprechen.
In der Tat; ich muss über dieses „Etwas“ sprechen. Denn obwohl ich seit mehr als einem halben Jahrhundert die Dichtung umkreise als ein kleiner, dennoch ihr ergebener Trabant, gestehe ich, dass diese gefühllose Zahl von Jahren noch nicht geruht hat, mir einen samtenen Teppich von Zuversicht und Wissen zum Betreten auszurollen. Es ist tröstlich, gewiss, dass nicht nur ich in dieser Hinsicht grenzenlos unwissend bin, und es sei mir erlaubt, vorzulesen, wie die Lyrikerin Wislawa Szymborska ihre Rede begann, als ihr im Jahr 1996 der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde:

Man sagt, das Schwierigste bei einer Rede sei der erste Satz. Das aber habe ich überwunden. Dennoch fühle ich, dass auch die folgenden Sätze schwierig werden, der dritte, der sechste, der zehnte. Denn ich muss über die Dichtung sprechen. Über dieses Thema habe ich selten, fast nie gesprochen, fast überhaupt nicht. Und ich habe immer das Gefühl, dass ich es nicht gut mache. Deshalb schätze ich so sehr die drei kleinen Wörter „ich weiß nicht“. Jeder Dichter, wenn er wirklich einer ist, muss sich ständig dieses „ich weiß nicht“ wiederholen. Diesen Satz versucht er mit jedem Gedicht zu beantworten. Nachdem er aber, den Schlusspunkt gesetzt hat, wird ihm bewusst, dass seine Antwort nicht endgültig und völlig unzureichend sei.

Der Dichter weiß wirklich nichts über diesen Ausfall der Normalität, wann er geschieht, wie und unter welchem der unzähligen privaten Himmelsgewölbe. Du nimmst ihn weder mit dem bloßen träumerischen Auge noch mit den schützenden Linsen der Erfahrung wahr. Du spürst ihn vielleicht durch ein beharrliches Schaudern der Stille gegen den Strich, und wenn eine gewisse Unruhe mit ihren Nägeln an deiner Türe kratzt. Du empfängst seine Signale, aber in einer so dunklen und undurchdringlichen Hülle, dass du eigentlich nie wissen kannst: Enthält er ein Geschenk oder nur puren Hohn? Trotzdem, du riskierst es und machst das Ratespiel Blind Greifen mit. Ob du verloren oder gewonnen hast? Die Auskünfte darüber sind immer geteilt. Du weißt es nicht.

Ein Destillat von Ehrfurcht und Weisheit ist das „ich weiß nicht“, das unserer geistigen Haltung entgegenkommt, zugleich aber eine Fülle von Annäherungsversuchen an die Poesie bietet, die wie wertvolle, ihrer verschlossenen Ikone gewidmeten Votivtafeln sind.

Dichtung ist wie ein kleines Wortbündel. Ein Monolog kommt vorbei und liest es in seinem Wintergarten auf; er träumt seit Jahren davon, diese Wörter einer Kommunikation anzubieten, in die er ewig verliebt ist, aber von der ihm noch kein Zeichen der Erwiderung zukam.
Es gibt Worte mit Duft und geruchlose, so dass die einen die anderen durchtränken und das Schwierigste ausgiebig erreicht wird: ihre Synthese. Dieses Vermischen des Lyrischen mit den notwendigen Mitteln der Sprache, auch einer Prosasprache derart, wie Konstantinos Kavafis sie geheiligt hat, fällt leichter, wenn deine innere Landschaft den feinen Duft hat, dem die Erde ausdünstet, wenn sie sich an grünem Landregen satt getrunken hat.
Ein Gedicht ist „das verlängerte Zögern zwischen Klang und Sinn“, sagte Paul Valéry, und Poesie ist das Bemühen, „mit den Mitteln artikulierter Sprache das wiederzugeben, was Schreie, Tränen, Schweigen, Küsse, Stöhnen und Umarmungen im Dunkel ausdrücken. Tränen, die ihr viel mehr wisst als ich weiß…“

Dichtung ist wie ein Ausflug, weit draußen, fern von der dicht besiedelten Sprache: Du gehst ganz allein dorthin, du breitest ein großes weißes Blatt aus, befestigst es mit einem geduldigen Bleistift und wartest, ob vielleicht deine Vorbereitungen wieder jene Eidechsen-Wörter anlocken, die vorbeiflitzen und die durch ihre Fähigkeit zur Anpassung an die anderen Farben der jeweils anderen Bedeutung, wodurch sie schließlich auch entwischen. Rastlos und hastig sind die Wörter. Du wartest Stunden, Monate, selbst Jahre, ob dieser schneeweiße, ungeschriebene Leckerbissen, den du vor ihnen ausgebreitet hast, sie nicht vielleicht doch verführt.

Als ich einmal eines Abends nach Alexandrupolis fuhr, sah ich vor der Stadt, hoch oben auf den Spitzen einer Reihe von Telegrafenmasten, Storchennester. Jedes ragte hervor, zart geflochten, glänzend, wie kunstvolle Volants an Wiegen, die bereitstehen, die Neugeborenen zu begrüßen.
In der Mitte des Nestes steht der Storch reglos auf einem Bein, als hüte er in dieser asketischen Haltung mit symbolträchtigem Gleichgewicht die heilige Ausbrütung des Geheimnisvollen, das bereits von oben durch das himmlische Netz behütet wird.

Wie ein Nest der Zuflucht ist die Dichtung, gebaut auf einer scharfkantigen Höhe, damit sie der raubsüchtigen Neugier eines jeden, der ausspähen will, was sie in ihrem Inneren ausbrütet, unzugänglich bleibt. Den wirksamsten Schutz zum Verheimlichen bietet die Abstraktion. Die Kunst sorgt vor – durch Aussparen. Sie balanciert auf einem Bein. Schreibend abstrahieren wir.

Durch das Schreiben protestieren wir, vielleicht deshalb, weil bei jenem großen Urknall im Verteilen der Bruchstücke eine skandalöse Voreingenommenheit geherrscht hat. Unserer Existenz wurde das kleinste Bruchstück gegeben: das Vergängliche. Als sein notwendiges Zubehör wurde uns aber zum Glück auch die dazugehörige Illusion zugeteilt.
Durch die Illusion wird das Vergängliche zu einem wunderbaren Futurum continuum des Verbs sich wehren. Mein Beweis: Solange ich unter dem anomalen Einfluss dieser humanen grammatischen Regel stand, habe ich Augenblicke von unglaublicher Länge und fruchtbarer Torheit durchlebt. Ich stickte ausführliche Bedingungen als Aussteuer für ein mögliches Zusammenleben von Dingen, die nicht zusammenpassen: die Verbindung der Empfindsamkeit mit ihrem Vergewaltiger, die der Brot erwerbenden Widerstandsfähigkeit mit ihrem Karikaturisten, der Panik, der Liebe mit ihrer Unredlichkeit, bei jedem Selbstmord einen Zettel zu hinterlassen mit der Angabe, wir hätten sie getötet.

Mit welchen Ehrenbezeugungen werden die Werke und Tage von uns Menschen in die Vergessenheit geleitet? Auf Staatskosten? Unwahrscheinlich. Eher wird noch uns selbst diese kostspielige Melancholie zufallen, als ob der Sturz in die Vergessenheit auf ein von uns geführtes Verschwenderkonto ginge und nicht auf das der Ausschweifungen des Unabwendbaren. Im Schreiben treffen wir wenigstens Vorsorge für unsere Grabinschriften. Die kommen uns viel billiger, wenn wir sie selbst und rechtzeitig einritzen.

Tränen, die ihr viel mehr wisst als ich weiß…

Wir schreiben für ein Vielleicht. Um dieses unparteiische Wort zu ehren, das zum „Ja“ und zum „Nein“ den gleichen Abstand wahrt. Wir bewahren deshalb prophylaktisch äußerste Ruhe, damit die todmüde Ungewissheit es schafft, unter dieser schattigen Unentschiedenheit ein verstohlenes Schläfchen zu halten. Doch,

Als wüsste ich nicht, ich Unbedarfter, dass genau dort,
in der größten Stille, die schauderhaftesten Geräusche
zu hören sind

verrät uns Odysseas Elytis.

Ich schreibe, weil mir nur dieser kleine Hügel gegeben ist, wo die tiefen Wurzeln der Sprache, aus der ich stamme, mutig volle Segel wallen lassen. Ich spreche mit ihr, wenn sie freundlich weht, wenn sie aus ihrer Introvertiertheit und ihrer Verdrießlichkeit herauskommt. Dann erlaubt mir die Sprache, mit ihr zu spielen, die Konsonanten zu necken damit die Vokale lachen; sie lässt mich ihren vielbändigen, noch nicht erfassten Gebrauch durchblättern, ihre Truhen öffnen, die mit den blühenden Jahrhunderten ihrer Geschichte angefüllt sind. Aber sie fördert mich nicht in dem Maße, wie ich es mir wünschte. Sie lässt mich meinen Stoff wiederholen; sie will sehen, ob ich mich erinnere, dass das „Unwohl“ nicht unveränderlich ist. Ich habe das Recht, das „un“ wegzulassen, es als Anbrennholz ins Feuer zu werfen, denn nur dann ist das „Wohl“ frei, dahin zu gehen, wo es hingehört: zum allgemeinen Bedarf. Sie sagt mir noch, dass die Ähnlichkeit des Omikron zur Null keine Gewöhnungsregel darstellt. Das Omikron kann Ohnmacht und Offenbarung sein und die Null eine unbekannte, unberührte kleine Landebucht für einen allgemein benötigten neuen Anfang. Etwas, das sich die breite Notwendigkeit wünscht. Ein anderer Lehrsatz der Sprache, der mir aber nur schwer eingeht: Der lebendige Ausruf, mit dem wir ein Glück begrüßen, kann auch bei einem Schmerz passen. Wir müssen ihn dann nur als einen inzwischen verdorrten Ast mit so lautem Krachen entzweibrechen, dass es bis zum generell nötigen Mut gehört wird.
Schließlich wiederholt sie mir ganz entschieden, dass das „Ich“ nur wegen der Kürze und der Einsamkeit, denen jedes „Ich“ wie jedes „Du“ ausgeliefert ist, mit so viel Nachtdruck ausgesprochen wird. Das ist kein Stolz und schon gar nicht Egoismus. Es ist die dringende Einladung an ein Verbum, sich neben das „Ich“ zu stellen, wie z.B.: Ich werde nass. Das meint doch: Schau mich an!

Ich bin kein denkender, eher ein nachdenklicher Mensch, das heißt sowohl einer, der sich in seiner Zerstreutheit überraschen lässt, als auch einer, der in seinem Schicksalsglauben unvollkommen ist. Ich bin vielmehr ein körperlicher Geist, ein beobachtender Körper, der einfach über präzise Messinstrumente für das Augenblickliche verfügt und über einen automatischen diagnostizierenden Instinkt mit freilich überholter Technologie. Ich kann die Leiter großer Visionen nicht hinaufsteigen, ich fürchte mich sogar – ich habe das Gefühl, dass, je tiefer der Fall, desto unerträglicher die Ernüchterung sei. Ich klettere nicht höher als der Rauch, der aus dem Weihrauchfässchen einer großen, zum Beten hinführenden Not kommt. Von da oben aus vermittle ich ihre täglichen Fürbitten. Meine Beharrlichkeit, mitten in der unendlichen göttlichem Unwahrscheinlichkeit ein offenes Ohr zu suchen, ist das Motiv meines törichten Kampfes gegen vergebliche Mühen.

Ich verbreite Appelle für die unterschätzte Alltäglichkeit, damit es weniger Anlass gibt, Tränen zu vergießen.

Das Alltägliche, fürchte ich, ist ein Opfer des Vorurteils, dass die Wiederholung eine träge Gleichförmigkeit sei. Sie ist, im Gegenteil, eine unermüdliche Arbeiterin auf 24-Stunden-Basis in der schwierigen Produktion von Voraussetzungen für unseren besseren und längeren Aufenthalt im Leben. Ich unterwerfe mich der Wiederholung, ich schätze sie. Nicht, dass mich das Bedürfnis nach dem Anderen nicht quälte – zudem, wer sagt denn, dass dem Anderen die Wiederholung abgehe? Ich stimme also Cesare Pavese zu: „dass alles eine Wiederholung ist. Sogar das erste Mal ist eine Wiederholung“.
Ich besinge sie. Und in der Tat; mir wird es überhaupt nicht langweilig, jeden Morgen mit meinen Augen die gleiche, nie alternde schillernde Haut des Morgens zu berühren; mit den Augen die weißen Wolken, fotografieren, die, ähnlich den Bauern, einen immer blaueren Himmel beackern; und ich versiege nicht, indem ich die ganz und gar gleichen Träume liebe: die gestrigen und die vorjährigen und die vom Jahr davor, die mir genau das gleiche Kopfkissen morgens aufschütteln. Auch hat die immer wiederkehrende Monotonie meiner kompletten Zikadenzucht, die ich mitten im Winter heimlich unterhalte, keineswegs den Eindruck ihres Gesangs geschmälert, mit dem sie den Verlust mancher Sommer begleiten.

Sogar das erste Mal ist eine Wiederholung. „Auch wenn alles schon geschrieben wurde, muss es doch von Anfang an neu geschrieben werden. Aber wie:? An der Unterseite werden die Narben zu sehen sein“, sagte Eleni Ahrweiler.
Ich erwähne das, weil wirklich unter jedem Satz, den ich von Anfang an neu zu schreiben versuche, die Narben klar zu er kennen sind. Ich mache mir Sorgen, ob vielleicht nur die von mir benutzte Schreibweise daran schuld ist; vielleicht habe ich sie von einer herumstreunenden verfälschten Methode erworben, und ihr fehlen die großartigen Bestandteile, die Sophokles der Zeit zugebilligt hat:

Stets bringt der langen, ungezählten Zeit Verlauf
hervor Verborgenes und verhüllt Erscheinendes.

Die Zeit: lang, ungezählt und ein großer Zauberkünstler. Beeindruckend bleibt ihr Zaubertrick, wenn sie ihren ständigen Mitarbeiter, den Verfall, in eine Holzkiste einsperrt. Überzeugend sägt sie ihn von oben bis unten durch; du wartest, du betest, ihn in zwei Stücke zertrennt zu sehen. Er kommt dennoch unversehrt aus der Kiste. Er verbeugt sich lächelnd, ihm wird gewaltig applaudiert. Man könnte sagen, das Leben sei ein unermüdlicher und begeisterter Applaus zu all dem, was es zersägt, was es verschleißt.

Die Zeit als Tröster: Wenn sie fortgeht, hinterlässt sie uns ihre Telefonnummer. Es antwortet immer nur ihre Stenotypistin: Die Erinnerung. Nie sie selbst.

Die Erinnerung: eine unscheinbare Psychotherapeutin. Sie heilt durch Hypnose alles Vollendete und jeden Verlust von der Krankheit des Unwiderruflichen und bewirkt dadurch etwas Erstaunliches: die erhoffte Wiederkunft. Die Erinnerung ist auch eine Katakombe; darin werden unerfüllte Wünsche aufbewahrt, und sie gleichen

schönen Körpern Toter, die nicht alt geworden.

Dort unten fand sich auch die Ikone mit dem verwitterten Gesicht der Sehnsucht, und es wird behauptet, wenn man daran glaube, würde man wie durch ein Wunder verbittert.
Mag Marc Aurel auch sagen: „Alles ist vergänglich, sowohl der Erinnernde als auch das, woran man sich erinnert“. Ich beharre darauf, mich zu erinnern, weil ich gewissenhaft bin. Ich möchte ein ehrenvoll anerkannter Fälscher der Dauer werden.

Alles ist vergänglich. Vergessen also. Die Muse unserer Schuldgefühle. Ein Geschöpf von krimineller Habgier. Es plant gezielt den schnellen Tod der Erinnerung, und deren insgeheim gemachten Ersparnisse zu rauben und sie an den mittellosen Trost weiterzugeben. Das Argument des Vergessens in Bezug auf das tolle Ansehen, das es auf sich konzentriert, ist daß dadurch ein Heilmittel zubereitet wird, welches den Kummer kuriert. Das heißt also genau das gleiche Heilmittel, wofür auch das Nichtsein wirbt.

Der natürliche Raum des Gedichts ist asketisch, er bietet ihm nicht den Luxus einer unbegrenzten Seitenzahl, über den die Prosa verfügt. Im Gedicht werden zwei große Kontrahenten brutal zusammengepresst, nämlich die erwünschte Ordnung der Dinge und ihre unerwünschte aber natürliche Unordnung, um beide in die Zelle des Gedichts zu zwingen. Diese Gefangenen kann man nicht trennen, denn jeder trägt auch sein Gegenteil in sich. Die Liebe trägt ihr Anzweifeln; das Unsagbare klebt wie Austern am Pfahl der Zunge der Enthüllungen; meine Wahrheit ist an ihr Aufopfern gebunden – wie könnte sonst deine Wahrheit einen günstigen Fahrtwind bekommen? Und dem Eros liegen direkt auf der Brust die Beruhigungsmittel, die der Tod zu bieten hat; der hochmütigen Ergebenheit liegt direkt auf der Brust jenes „O weh!“, das ihr so oft entfährt und sie öffentlich diskreditiert. Damit alles zusammen Platz in der Zelle hat, dürfen sie nur wenig sprechen, nur andeutungsweise. Aber es kommt nichts in dieses Gefängnis, um dort sein Leben zu beginnen oder zu beenden, ohne dass es die äußersten Grenzen des Ertragbaren erreicht hat. Dennoch baumeln die „Grenzen“ der Situationen, auch wenn diese sich zusammen nehmen und alles verschweigen wollen, wie Fransen aus dem Gedicht. Unausweichlich müssen sie niedergemetzelt werden, das ist die traurige Pflicht des Dichters. Zerstören muss er die Fülle der Emotionen, die er so sehr liebt, und sich ihnen verschließen. Er muss es tun, bevor der Rabe, die Ästhetik, der schon seine Kreise zieht, zustößt und das ganze Gedicht zu verschlingen droht.

Ich werde oft gefragt, warum ich Worte und Begriffe personifiziere oder verkörpere, und ob es aus der Inspiration geschieht.
Um sie zu kontrollieren, antworte ich. Denn sie tragen meistens einen Judas als „Futter“. Oft lieferte mich ihre hinterlistige Vieldeutigkeit durch einen Kuss der Fehldeutung aus. Ich personifiziere sie aber auch aus einem anderen Grund: um ihre Verwandlung zu erreichen, sie zum ersten Leser zu machen und zugleich zum verantwortlichen Richter über alles, was sie zwar so hinschreiben, ich jedoch unterschreiben muss.

Nun, was die Inspiration betrifft: auch über sie weiß ich nichts. Ich wittere sie nur: in der Eskalation meiner Hartnäckigkeit eine unüberwindliche Schwierigkeit zu bezwingen; in der Art, wie ein uralter Vers, ein seit Jahren in einer Schublade eingesperrter Pechvogel, – die ist ein Konzentrationslager für alle Misserfolge – wie er mit eigener Kraft ausbricht und hervorkommt, um, wie durch ein Wunder, die Hindernisse wegzuräumen. Vielleicht ist es die Inspiration, die ihn zum Retter erkoren hat. Ich habe sie wahrscheinlich so erfahren: plötzlich wurde ich hellhörig für das Flüstern eines inneren Auftrags trotz ohrenbetäubenden Lärms von draußen. Ein fast höhnischer Auftrag, da er mir nie klar macht, was ich errichten soll: einen Zufluchtsort für unheilbare Träume, eine Kirche für neu bekehrte Reuegefühle oder eine Herberge für herumirrende Engel? Im Dienst dieser Unklarheit stehend werde ich zu einem Handwerker, der von Panik gepackt wird, der Tonnen unförmigen Materials vom einen Ende eines weißen Blatts zum anderen hin und wieder zurückträgt. Ich baue, ich reiße nieder, und das immer wieder; Niederlagen häufen sich, bis ich irgendwann erschöpft von der vergeblichen Mühe – aus Versehen oder aus Zorn – ein Fenster an der Stelle einer Tür schleudere. Und es ist verrückt: oft nützt etwas diese rasende Bewegung. Als wäre diese Raserei die Inspiration. Viele behaupten, es gäbe gar keine Inspiration, und andere, dass der freie Vers sie ignoriert.

Nach T.S. Eliot ist kein Vers frei, wenn er seine Arbeit „richtig“ machen will. Ja! nur, dass dieses richtig – sei es in gebundenen oder freien Versen – sich unerlöst im Kampf um sein Selbstverständnis daniederliegt, hilflos zwischen zwei nebulösen Diagnosen, der subjektiven und der objektiven.

Der freie Vers, viel mehr die zeitgenössische Lyrik, birgt in sich das ganze Gen der traditionellen. Er hat nur neben ihren Merkmalen auch eigene hinzugenommen und einige ganz spezielle, um seine Eigenständigkeit zu beanspruchen. Dieses RütteIn an der Gleichförmigkeit, das Ersetzen des geradezu obligatorischen Reims durch einen ebenso vorbildlichen Rhythmus war unvermeidlich….

In einer Welt, die sich so rasend schnell und fast dramatisch ändert, in der sich nichts, weder das Wasser noch die Luft noch die Nahrung, das Heim, das Meer, die Liebe ihrer erbärmlichen Veränderung entziehen konnte, so dass wir mit unserem alten Verhalten all das weder zu erkennen noch damit umzugehen vermögen, musste auch die Dichtung etwas Radikales tun. Sie musste es tun, um ihr erlösendes Eingreifen der Schnelllebigkeit, dem mangelnden Rhythmus, dem Sturz des Schönen anzupassen, Werte, die sich ergaben und als Gegenleistung ein Dach der Sehnsucht danach erhaschten. Die Sehnsucht danach wach zu halten.
Wenig anstelle vom Viel scheint schließlich, seit Urbeginn der Welt, die ständige Forderung der Lyrik gewesen zu sein. Wie sonst würde sie es schaffen, das Universum zu einem Mikrokosmos umzugestalten, der den Dichter vierundzwanzig Stunden lang umgibt und sein Zimmer heißt – Kostis Palamas nannte es Zelle −, ein Arbeitsraum also mit Türen, die Kafka als einen verschlossenen empfand? Diese Isolation verlieh vielleicht dem Gedicht die Gabe, das Sein unmittelbarer zu vertreten.
Auf jeden Fall ist es die Absicht unserer zeitgenössischen Dichtung, die schon zu altern beginnt, da ja neue, abstraktere, noch eigentümlichere Formen erscheinen, dem Geerbten einen kleinen Stein hinzuzufügen, indem sie den spezifischen Eintrag für ihre eigene Epoche erstellt und den Stammbaum der Träume ergänzt mit den Träumen, welche die zeitgenössische Dichtung selbst erschaffen und tragen.
Andererseits bleibt die Tradition bestehen; sie ist die Lokomotive, der große Zug, dem immer wieder ein frisch gestrichener Sonderwagen angehängt wird. Ein Wagon voll mit neuen, drängenden Sorgen der Menschheit und mit dem immer gleichen Ziel: ihre authentische Darstellung.

Es wird oft die dringende Frage gestellt, ob die Poesie in unserer Zeit einen Nutzen hat.
Ich glaube, dass sie genau so viel hilft wie die Kerze, die wir anzünden beim Betreten einer verlassenen Kapelle, aus der alle Heiligen geflohen sind. Sie nützt denjenigen, die sie lieben; denn sie finden in ihr Schnipsel zerrissener Fotos der eigenen Seele. Mehr und besser nützt sie jenen, die an ihren Zauber glauben. Diejenigen, die den Finger in die Nägelmale ihrer Verständlichkeit nicht legen wollen, um an sie zu glauben. Sie nützt auf übernatürliche Weise demjenigen, der sie ausübt und das nur während der Dauer der Übung, denn nur dann entführt sie ihn aus seinem Körper und stabilisiert ihn so in der Schwebe, so dass er, wie im Operationssaal, den momentanen Tod seiner Nichtigkeit verfolgen kann. Sie nützt vor allem der Sprache. Die Poesie sammelt sie aus den großen Fässern der Hast ein und füllt sie ehrfürchtig in ein winziges Weihwasserfläschchen ab. Nur einen Schluck, gerade so viel, wie die Substanz zum Trinken braucht. Und letztendlich nützt die Poesie so viel wie ein schmerzlindernder Tropfen in einem Ozean der Trauer. Das ist nicht wenig.

Vor vielen Jahren haben Schüler mich gefragt, was der Anlass für ein Gedicht sei, und wie man ihn erkenne und empfange.
Indem man der Imagination gehorcht, antwortete ich. Um es ihnen konkreter darzustellen, brachte ich ein Beispiel: lch wandere, wie wir alle, durch eine große Wüste. Wenn ich glaube, ich hörte einen Vogel zwitschern, obwohl mir die Vernunft sagt ich irre, fühle ich mich verpflichtet, für diesen Vogel einen Baum bereitzuhalten.

Ich habe hier dieses Beispiel wiederholt, nicht um die Wiederholung zu ehren, sondern um mich zu verantworten, darf ich den Kindern ein Rezept von idyllischer Vereinfachung dessen geboten habe, was man Empfängnis und Jagd auf einen poetischen Gedanken nennt – als wäre unserem jeweiligen Weg durch die Wüste immer der Segen fruchtbarer Illusionen beschert, und als ob die selbst gemachten Bäume irgendein „singendes“ Ergebnis auf ihre Äste locken könnten.

Heute kann ich den inzwischen erwachsenen und abgehärteten Kindern von damals – nach dem Zeugnis meiner persönlichen, wahrheitsliebenden Erfahrung zumindest – ehrlich gestehen, dass diese von uns aufgestellten Leimruten, die das vage Flattern einer Anregung einfangen sollen, selten mit so malerischer Eleganz und fast nie mit so geringem Arbeitsaufwand angefertigt sind. Und das, weil so selten ein anregendes Erlebnis freiwillig herankommt, um eine Rippe aus seinen Rippen anzubieten, so dass ein Schöpfungsblitz mit leichter Hand eine Fälschung als Gefährtin des realen Erlebnisses erschaffen und ihr den Atem der Übertreibung einhauchen könnte. In solchem Glücksfall vermuten wir, dass Gott vielleicht für kurze Zeit den Schlüssel seiner Zuständigkeit seinem Lehrling, der Inspiration, übergab.

Meistens machen wir uns zu Entführern schlichter, unschuldiger, gelegentlicher Anzeichen und nehmen ihnen mit Gewalt ihre lebenswichtige Nützlichkeit. Verschanzt in ihrem Asyl versucht dann die Imagination, ihre unsichtbare Spritze zur Blutentnahme in die Wirklichkeit einzustechen, um das Blut in irgendeinen ihrer blutarmen Einfälle zu übertragen. Diese Mischung wird zum „Erdichten“ befördert, das sie in siedende Willkürakte, diese so verschiedenen Blutgruppen, hineingießt. Die Imagination experimentiert damit, deren Unverträglichkeit zu bezwingen. Vielleicht mache ich das besser klar an einem Beispiel, wie eins meiner Erlebnisse zum Versuchskaninchen wurde:

Ich war neulich in einem zum Bersten vollen Saal. Ein Vortrag ging zu Ende. Der Andrang der Gratulanten um den Redner führte zu den bekannten Wellen von Ungeduld, die den Stau verstärken. Ich bleibe lange eingeklemmt an der gleichen Stelle. Plötzlich fühle ich, wie eine Hand über mein Gesicht fährt und die Schattenspur eines Streichelns, flüchtiger als ein Sekundenbruchteil, hinterlässt. Das rührt mich. Verwirrt wende ich mich um, um die Hand meinerseits zu berühren, aber da ist sie fort. Ich schaue in die Gesichter um mich herum; in keinem vermute ich solch eine verstohlene Zärtlichkeit. Sicher war die Berührung, die mir zuteil wurde, eine arglose Verirrung im Gedränge.
Doch, ich will das Offensichtliche übersehen; wie verrückt rede ich mir ein, dass diese Geste zu mir geschickt und für mich bestimmt war. Wie eine singende Mitteilung des Tastsinns an die Haut, dass etwas verloren gegangen sei und gesucht werde.
Ein Streicheln, auch wenn du es mitten in der Wüste der Deutungen bekommst, machst du dir voller Freude zu eigen, obwohl sein rechtmäßiger Besitzer aller Wahrscheinlichkeil nach der Zufall ist. Dennoch, nichts schließt aus, dass der Zufall eine Tarnung des Schicksals sei.

Tagelang hielt ich in mir dieses Gefühl der momentanen Berührung jener Hand lebendig. Ich bewahrte es, ich nährte es mit manchen zwar faden, aber beharrlich wiederholten Versen:

Welch verwirrtes Bruchstück einer Sekunde
hat mich in der sündhaften Kürze des „Wieder“ verstrickt.

Nur diese Zeilen wieder und immer wieder. Als könnte nur so der Geist die Antwort hören.

Unter all den wertlosen Uhren in meiner Wohnung mag ich besonders eine, weil sich viel zusammendrängt auf ihrem schlampig für die Touristen zusammen gepinselten Rahmen: ein Himmel über Meereswogen, Muscheln, Möwen und Windmühlen, diese Mondruderer. Etwa so wie das Gepäck eines Sommers, der abzutreten vergaß.
Da ich gerne meine neuen Fortschritte im Abschiednehmen mit dieser Uhr messe, machte mich eines Abends etwas stutzig. Es fehlte etwas. Aber wo? Ich hielt die Uhr an mein Ohr, ganz deutlich waren die kleinen Stöckelabsätze der Stunde mit ihrem Klappern auf dem Weg über das Pflaster der stoischem Ruhe zu hören. Ich sah jedoch nicht jenen feinen Staub, der zitternd aufsteigt, wenn der Minutenzeiger hinkend den Steinklotz der Zeit in kleine Krümel spaltet, damit der Transport uns leichter fällt.
Ja, der Minutenzeiger fehlte. Und sogleich, mit der gleichen verrückten Bestimmtheit, mit der ich ausgeschlossen hatte, dass das Streicheln meines Gesichts durch jene Hand ein harmloses Versehen gewesen sei, mit der gleichen paranoiden Sicherheit schloss ich aus, dass das Verschwinden des, Minutenzeigers auf einen einfachen Schaden zurückging; wahrscheinlich war doch die Uhr einmal heruntergefallen und man hat es mir nicht mitgeteilt. Die Fiktionierung des Ereignisses wurde bestimmt dadurch erleichtert, dass die Leiche dieses Zeigers geheimnisvollerweise und trotz meiner Suchaktion nicht zu finden war, festgeklemmt in irgendeiner Ritze des Müll tragenden runden Rahmens.

Zwei Fälle vom Verschwinden also, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Die ich jedoch ausgenützt habe, nur weil ich sie wahrnahm. Skrupellos ist die Erdichtung; sie zwang die Beiden, betteln zu gehen. Um ihnen Erbarmen zu schenken, dichtete sie ihnen eine tiefe metaphysische Beziehung an: als würden beide Fälle einander ewig suchen; als wäre der verschwundene Minutenzeiger die Inkarnation der verlorenen Zeit von Liebkosungen, und ihr Phantom wäre jene fleischlose Hand, die mich suchend in einem Sekundenbruchteil berührt hatte.
Ich holte diese in tadellosem Zustand aus ihrem leeren Grab und setzte sie anstelle des verschwundenen Minutenzeigers ein.

Obwohl es unmöglich ist, eine defekte Wirklichkeit so zu reparieren, dass sie mit einem erdichteten Ersatzteil wieder funktioniert, fühle ich mich verpflichtet, einen Schrei anzufertigen.
Und ich warte, dass die Dichtung mir anwertrauen möge jene Mittel der artikulierten Sprache, mit denen sie zu schildern strebt, was Tränen, Schweigen, Stöhnen, Liebkosungen, Schreie im Dunkel auszudrücken versuchen.

Und so lange ich auf das Erscheinen der Zeichen warte, die vielleicht zu spät oder auch nie kommen werden,

„lege du als notwendige Alternative
nur einfach die Hand auf meine Schulter
ganz natürlich, in Arbeitskleidung soll sie sein
wie ein Handwerker, so
als repariere sie ein altes Versäumnis,
dass es wie neu wird“, das ließ dir
der spielerische Mythos verkünden.

So dass wir es mit allerletzter Anstrengung vielleicht schaffen, meinetwegen auf der Warteliste, bei dem höchstem Gedanken Platons anzukommen, der sagt, ein Dichter müsse, wenn er ein solcher sein wolle, mythische Fabeln dichten und dürfe sich nicht in nüchternen Reden ergehen.

Festrede von Kiki Dimula aus Anlass ihrer Ernennung zum Mitglied der Athener Akademie am 11. November 2003.

Nachwort

Kiki Dimula gilt als die bedeutendste lebende Dichterin Griechenlands. In ihrem beachtlichen Werk zeichnet sie sich aus und unterscheidet sich von den anderen Lyrikerinnen durch ihre abstrakte Thematik als auch durch ihre völlig unkonventionelle Schreibweise. Die Welt der Lyrikerin Kiki Dimula ist die Spannung zwischen dem Seienden und dem Nicht-Seienden, die eine tragische Dimension beinhaltet, jedoch bar jeder Heroik. Diese Spannung drückt sich in ihren Themen aus: Werden und Vergehen, Zeit, Verschleiß und Verlust. Auch ihr anarchischer Umgang mit der Sprache zeigt diesen Konflikt: Sie hat vor keiner Regel Respekt, bedient sich oft gewöhnlicher Ausdrücke und kann gleichzeitig sarkastisch, grotesk und zärtlich sein.

Kiki Dimmla spricht „Wörter“. Fragmente des Ganzen. Einzelteile der Summe. Mit den Wörtern, der Grammatik und der Syntax geht sie gänzlich unorthodox um. Das ist übrigens das Novum in der griechischen Lyrik. Kein Dichter vor ihr hat so etwas gewagt. Sie substantiviert Verben, Adverbien und Adjektive, das konkrete wird ein abstrakter Begriff. Es wimmelt in ihren Gedichten von Amphisemien und Neologismen. Wie eine Zauberin schöpft sie ganz unerwartete neue Wortbildungen aus dem Schatz ihrer Sprache heraus. Mit ihren eigenwilligen Wortassoziationen nimmt sie die Wirklichkeit auseinander und baut sie neu auf.
Im Gedichtt „Eine Version der Schöpfung“ bietet sie eine neue Schöpfungsgeschichte an, deren Merkmale Vergehen, Täuschung und Verfall sind. Welchen Platz nimmt der Mensch im erschaffenen Tag ein?

Im Anfang war das Gestern. Kaum
hatte das scharfsinnige Gespür
den erschaffenen Tag gesehen, schrie es
weh, wie klein du doch bist. Du genügst
nicht einmal der Einsamkeit eines einzigen Wesens.

Sie fragt sich: Wo bleibt das versprochene Paradies und wo die Ewigkeit?

Und es wurde die Täuschung.
Verkleidet als Paradies.

Und weiter:

Zur Miss Welt wurde die Ewigkeit.
In Abwesenheit.

Ihre von Anfang an elliptische Schreibweise wird weiter entwickelt; Anlass dazu ist der Verlust ihres Lebenspartners, des Dichters Athos Dimulas.
In ihren Gedichtbänden Lebe wohl niemals und Die Jugend des Vergessens räumt sie dem Erinnern einen besonderen Platz ein. Die Realität ist ihr ein Trugbild, eine Szenerie des Nichts. Die Zeit raubt, was wirklich erschien: Ach der verwitwete Augenblick, immer wieder. Als Werkzeug gegen die Vergänglichkeit der Zeit, als Instrument, ihr Vergehen aufzuhalten, dient ihr die Fotografie, das immer wiederkehrende Symbol in ihren Gedichten. Das Gedächtnis hat ein Mittel gegen das Vergehen. Die Erinnerung, die in einer Fotografie festgehalten ist: und ihr innewohnt. Immer wieder nimmt sie Bezug auf Fotografien auch als Abbilder des Lebens. Fotografien führen ein eigenes Leben.
Wie Lebewesen brauchen sie Luft und Wasser: Wenigstens das Wasser sollst du wechseln bei meinen Fotos, oder: Ich, öffne die Fenster der Fotografie, um sie zu lüften. Das Lebendige ist also das Abbild des Lebens, eine Ewigkeit aus Papier.
„In der Leere, zwischen dem Sein und Nichtsein, balanciert sie auf einem Seil, das der Sprache. Denn das was es gibt, das Etwas, ist Täuschung. Kiki Dimula wird von dem Sein beherrscht und sie beherrscht die Sprache. Vier Themen ihrer Lyrik, die Liebe (das Sein), die Angst (vor dem Nichtsein), das Erinnern (das Nichtsein wird zum Sein) und die Nacht (das Sein wird zum Nichts) kommen zum Ausdruck in den folgenden Versen: und deine Hand existiert nur in der viereckigen Nacht der Fotografie“, schreibt der Kritiker Nikos Dimou.
Ihre Gedanken kreisen um die Frage der Existenz des Menschen innerhalb der Zeit. Diese Frage beantwortet sie, indem sie das Erinnern als den Raum bestimmt, wo sich die Erfahrungen sammeln, als den Ort, in dem ihre Sprache eine Substanz bekommt.
Sie verwandelt das Vergangene, das zum „Jetzt“ der Erinnerung wird, in die Wirklichkeit des Wortes. Dem Verlust, der Vergänglichkeit, dem Tod schließlich setzt sie das Erinnern entgegen. Sie versucht in der Erinnerung einen Platz des Lebens, der Dauer und der Erneuerung zu schaffen: Um ein wenig Hoffnung / um ein wenig Erneuerung – erinnere ich mich.
Die Erinnerung wird personifiziert. Sie ist die Stenotypistin der Zeit, die Ereignisse unseres Lebens festhält.
Sie ist weiterhin eine heimliche Psychotherapeutin, eine Katakombe, in der unsere unerfüllten Wünsche aufbewahrt werden.
Sie macht die Wörter verantwortlich für die Ereignisse, das Geschehen. Die Wörter sind schuld. Sie haben die Zustände ermutigt, dass sie mit der Zeit anfingen zu geschehen.
Ein anderes, wichtiges Thema in der Lyrik von Kiki Dimula, ist das der Wiederholung. Evangelos Konstantinou schreibt darüber: Wie die altgriechischen Denker, vor allem die Pythagoräer, will sie dieser ewigen Wiederkehr einen Sinn geben. Die ewige Wiederkehr gewinnt durch die Brille der Poesie dieses Etwas von dem die Dichterin sehr oft spricht. In der ewigen Wiederholung entdeckt sie den kostbaren Augenblick einer poetischen Idee.
In ihrem Gedicht „Ich vergebe dir wieder“ wird auch die Wiederholung personifiziert als Ladenbesitzerin. Tatsächlich, nur aus diesem Laden der Wiederholung, der Tag und Nacht geöffnet ist, kauft die Illusion Artikel der Unsterblichkeit ein. Die Illusion also hilft ihr durchzuhalten. Die Kraft findet sie in der Imagination.
Die Lyrikerin Kiki Dimula ist ständig durch ihre einzigartigen Sprachmittel und ihre erfundenen poetischen Techniken bemüht, das Etwas einzufangen und in Dichtung zu verwandeln, denn Dichtung ist für sie ein schmerzlindernder Tropfen im Ozean der Trauer.

Dadi Sideri-Speck, Nachwort

 

Kiki Dimula

gilt als die bedeutendste lebende Dichterin Griechenlands. In ihrem höchstbeachtlichen Werk zeichnet sie sich durch ihre abstrakte Thematik sowie durch ihre völlig unkonventionelle Schreibweise aus. Die Welt von Kiki Dimula ist die Spannung zwischen dem Seienden und dem Nicht-Seienden. Diese Spannung drückt sich in ihren Themen aus: Werden und Vergehen, Zeit, Verschleiß und Verlust. Auch ihr anarchischer Umgang mit der Sprache zeigt diesen Konflikt: sie hat vor keiner Regel Respekt, bedient sich oft ungewöhnlicher Ausdrücke und kann gleichzeitig sarkastisch, grotesk und zärtlich sein.

Romiosini Verlag, Klappentext, 2008

 

Kiki Dimula – erste Preisträgerin

bei der Verleihung des Prix Européen de Littérature

in Strassburg 2010 am 13. März

Vorliegende Werke Gedichte und der spielerische Mythos und περασα/erlebt lassen vier stützende Säulen erkennen, das Spielerische, die immer wiederkehrende Erinnerung, das „hellhörig werden“ und das „vom Sein zum Nichtsein“.
Wie die Dichterin selbst sagt, sucht sie im Anfang stets nach Inspiration, bewegt dabei große Last hin und her, plötzlich kommt die Inspiration unverhofft wie ein leises Flüstern, sie bekommt einen unklaren innerlichen Auftrag zu mühevoller Vollendung erteilt. Plötzlich durch Versehen oder Zorn, kommt die eigentliche Eingebung. Das ganze wird „spielerisch“, Mühelosigkeit einer schweren Aktion, wie es die Ostasiaten ausdrücken.
Eine noch schönere Version solcher Inspiration finden wir in ihrem Grußwort bei der Verleihung des Europäischen Literaturpreises in Strassburg im März 2010: „Unzählige Male bin ich mit meiner Widersprüchlichkeit konfrontiert worden, als eine Dichterin zu gelten und gleichzeitig, immer wenn ich gefragt wurde, was Dichtung sei, mal zu sagen, ich weiß es nicht, und ein andermal Definitionen zu gebrauchen, indem ich einfach schöne Worte erfinde.
Ich erwähne hier eine solche Begriffsbestimmung, die ich selbst improvisiert und Abiturienten erzählt habe, als sie mich fragten, was Dichtung sei: Du gehst ziellos inmitten der Wüste. Plötzlich hörst du an einem undefinierbaren Ort einen Vogel singen. Wenngleich es schier unmöglich erscheint, dass ein Vogel mitten in der Wüste am Himmel hängt und singt, fühlst du dich gezwungen, da du ihn gehört hast oder dir vorstellst, ihn gehört zu haben – das ist dasselbe – ihm einen Baum zu schaffen. Das ist Dichtung“.
Und in der Tat, Kiki Dimula spielt mit ihren Versen, ist unkonventionell, quasi „regellos“, zeigt mitunter eine geistige Verwandtschaft mit Jannis Ritsos auf, und zwar in ihrem Gedicht „Ekstase“, welches einem seiner Gedichte in seinem Werk „Traum eines Sommermittags“ ähnelt. Spielerisch lässt sie auch Erinnerungen wieder aufleben, so wie in „Laufbahn“ und in „Manche Nächte“. Für die Dichterin sind Erinnerungen sicher immer gegenwärtig. So als sie bei einem Zicklein im Backofen plötzlich das Vorangegangene deutlich spürt.
Um es mal etwas krass auszudrücken: Zwei Zenmeister Japans sahen einen Schwarm Wildgänse vorüberziehen, da fragte der erste: „wo sind die Wildgänse geblieben?“ „Sie sind weggeflogen, Herr!“, gab der zweite zur Antwort. Da gab ihm der erste einen Nasenstüber: „Sie sind immer hier gewesen!“ Und der zweite erwachte!
So wird auch Kiki Dimula Erinnerung empfunden haben.
Vom Seienden zum Nichtseienden: Durch das Spielen der Dichterin auf dem Weg wird der Leser stets mit scheinbar Regellosen konfrontiert, zum Beispiel in dem Gedicht „Eine andere Version der Schöpfung“.

Zur Miss Welt wurde die Ewigkeit gewählt
sie erschien nicht

Oder

Nichts
Nur eine Nacht ohne Ende
Und der erste dipodische Schluchzer wurde gehört
Der Apfel hatte ihn gebissen

Ein Weiser aus dem Osten sagte: „Es ist die Fahne, die den Wind bewegt“. Und so ist die Sprache der Mystik, wie sie z.B. im Mittelalter Meister Ekkehard spricht.
Das scheinbar Regellose mag sicher zum Nichtsein, eben zu dem „Nichts“ führen, was Zenbuddhisten für ein sehr lebendiges Nichts haltenden Urgrund allen Seins und… eben Nichtseins.
Das aber mögen die Leser auch selbst herausfinden, beim Betrachten der Verse meditierend, wobei Ihnen die Übersetzung und das Nachwort von Dadi Sideri eine unschätzbare Hilfe sind. Allerdings zum schnellen Überfliegen sind Kiki Dimulas Verse nicht geeignet. Da sie regelloses Spielen in sich bergen, muss der Leser sich tastend einfühlen, was ihm bei einer gewissen „Hellhörigkeit“ dann auch spielerisch mühelos gelingt.
Das Buch erlebt enthält einen Teil der Gedichte aus plötzlich wurde ich hellhörig auf griechisch und deutsch. Für Kenner der griechischen Sprache eine Möglichkeit zu weiterer Vertiefung.

Jens Beucker

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00