Klaus Jeziorkowski: Zu Ernst Jandls Gedicht „bibliothek“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „bibliothek“ aus Ernst Jandl: die bearbeitung der mütze. 

 

 

 

 

ERNST JANDL

bibliothek

die vielen buchstaben
die nicht aus ihren wörtern können

die vielen wörter
die nicht aus ihren sätzen können

die vielen Sätze
die nicht aus ihren texten können

die vielen texte
die nicht aus ihren büchern können

die vielen bücher
mit dem vielen staub darauf

die gute putzfrau
mit dem Staubwedel

 

Zu Ernst Jandls Gedicht „bibliothek“

Der Name Jandl und der Begriff ,konkrete Poesie‘ sind zuweilen wie Synonyme gebraucht worden. In der Tat rechtfertigen viele seiner Gedichte diese Gleichsetzung, sofern man unter konkreter Poesie das Arbeiten und Spielen mit der Sprache als Material versteht, mit Lauten, Buchstaben, Silben, Wörtern, Wortverbindungen und grammatischen Strukturen, jedenfalls nicht das sonst übliche Operieren mit Bedeutungen, die hier beim Spiel mit der Sprachmaterie erst als sekundärer, neuer Effekt sich freilich unerwartet wieder einstellen können.
Jandls Gedicht „bibliothek“ – nach den bei ihm später beliebt werdenden exakten Datumsangaben am „20.9.77“ entstanden und dann in die bearbeitung der mütze eingefügt – führt eine neue drastische Variante von Konkretheit vor, in relativ konventionellen Formen des Redens.
Die Bibliothek als Gefängnis des in ihr Gespeicherten – das ist das leise klagende Lamento dieser zwölf Zeilen. Die Buchstaben sind in den Wörtern gefangen, die Wörter in den Sätzen, die Sätze in den Texten, die Texte in den Büchern. Wir können nach der achten Zeile das Gedicht in der Linie seiner eigenen Konsequenz selber weiterdichten, was viele Jandlsche Texte zulassen und wohl auch provozieren, damit eine sonst seltene neue Qualität eröffnend: 

die vielen bücher
die nicht aus ihren bibliotheken können

die vielen bibliotheken
die nicht aus ihren häusern können

die vielen häuser
die nicht aus ihren städten können

und so weiter ad infinitum bis zu einem kosmologischen Modell der Schöpfung als Gefängnis. Wir lassen uns genügen an Jandls ersten acht Zeilen, die dieses Gedankenmobile in Gang setzen und zugleich exemplarisch auf einen Bereich begrenzen, in dem Gefängnis, Gefangen-, Befangen- und Verhaftetsein besonders schwerwiegend und lähmend sind: den der Literatur, der Künste, den Bereich des ,Geistes‘, um es pathetisch zu formulieren.
Jandl setzt sein leises Lamento nach der achten Zeile fort in einer Art traurig-komischer Grabmalsvision: „die vielen bücher / mit dem vielen staub darauf“ – der Staub als ein weiterer Gefängnisring, so leicht wie allgegenwärtig. Und dann gibt es noch die brave Hüterin des Grabmals, „die gute putzfrau / mit dem staubwedel“, wie die Todesgöttin mit der Fackel, die zwar den Staub aufstört an der Oberfläche aber sonst der Grabes- und Gefängnisruhe der Bücher, Texte, Sätze, Wörter und Buchstaben nicht wehren kann, es auch nicht will. Sie ist dazu nicht da. Sie ist die äußere Gefängnispatrouille, auch dazu da, daß das Gefängnis oder Mausoleum von außen nicht schäbig aussehe, wohl aber eines bleibe. Sie hat mit dem, „wie’s da drinnen aussieht“, auf ihre harmlose Weise nichts zu tun. Deshalb heißt sie „gut“, in leichter Ironie, so wie man wohl sagt: Die gute Anna hat’s noch immer nicht begriffen; wird’s aber schon richten.
Konkret wird das Gedicht darin, daß es die Bibliothek als zwiebelschalenkonzentrisches Gefängnis sieht, in dem ganz innen die Buchstaben eingesperrt sind, darum herum die Wörter, dann die Sätze, Texte und Bücher. Ein wahrhaft verrückter Blick auf eine Bibliothek, die wir gewohnt sind als eine Chance zur Information, Erfahrung, Kenntnis- und Erlebniserweiterung zu begreifen und zu nutzen, sozusagen durch Benutzung zu öffnen, indem wir einen Band herausnehmen und so eine Lücke, einen Einstieg, ein Tor in die Bücherreihe auftun. Dann wären wir drin in der Bibliothek, die dann vielleicht auch kein Gefängnis mehr zu sein brauchte, weil wir durch das Tor das Eingesperrte herausließen, zu Sinn und Kontext und Zusammenhang befreiten, das Tote zum Leben erweckten.
Jandl sieht nach Art der Konkreten hier eingesperrte Sprachmaterie aus Texten, Sätzen, Wörtern, Buchstaben, Dinge, die das, was in dieser Bibliothek eingesperrt ist, zunächst als Zeichenhaufen, nicht als strukturiertes Bedeutungssystem erscheinen lassen. Semiotik statt Semantik. Hier wird die Nähe der konkreten Poesie zur Perspektive der Linguistik ahnbar, die eine Zeichen- und Wörterwelt relativ separat der Welt der Sachen und Bedeutungen gegenübersieht.
Das physische Eingesperrtsein von Sprach- und Literatureinheiten und von Zeichen in Gehäusen ist eh schon ein komisch konkret registriertes Faktum. Die Bibliothek als Gefängnis und Friedhof – wer von uns hätte dieses Gefühl, vor einer riesigen Gräberanlage zu stehen, noch nicht gehabt angesichts endloser Büchermagazine – wird ganz konkret materialisiert, mit der leicht komischen Haltung der sanften Wehklage des Sprechenden und vor diesem Gefängnis Stehenden, der eigentlich doch nur zuzugreifen brauchte, um an einem Band dieses Gefängnis aufzubrechen, der nur ein Grab zu öffnen brauchte, auf daß aus diesem Friedhof die Toten zum Leben erstünden. Es ist die Lähmung vor dem schlichten Faktum einer scheinbar sinnvollen Insassen- oder Totenordnung, die ihn, den Klagenden, noch weniger daran rühren läßt als die Putzfrau mit ihrem Wedel, die von dem Drinnen keine Ahnung hat und sich deshalb am Draußen wenigstens unbelasteter vergreifen kann.
Der Rekurs auf Jandls gesamtes Werk liegt nahe: wer wüßte nicht, daß er einer unserer weitreichendsten Buchstaben- und Wortbefreier war und ist, ein ungeheuer weit wirkender Loslasser von Sätzen und Texten, der uns bewußt gemacht hat, wie sehr aller bisherige konventionelle Sprachgebrauch Gefängnis war für die ungeheuren Möglichkeiten, die im eigentlich offenen Arsenal und Magazin Sprache liegen. Eine Bibliothek, für uns konventionellerweise der Inbegriff des sinnvoll und systematisch Geordneten, ein Phänomen, das die Welt als geordnetes System anschaubar werden läßt, ist für einen so Operierenden wie Jandl Gefängnis, Friedhof all der anderen in der Sprache liegenden Möglichkeiten, die er quer durch sein Gesamtwerk vor uns ausbreitet.
Wäre jenes Wort nicht durch Verfestigung so korrumpiert und sozusagen schon wieder in ,Netzwerken‘ als System etabliert, so wäre von den alternativen Möglichkeiten zum üblichen Sprachgebrauch zu reden, von Alternativen, die der Sprechende im Gedicht in der Bibliothek gefangen und begraben sieht. Jandls Werk ist Beleg dafür, daß – die Aussagen seines Gedichts ins Positive gewendet – bei ihm die Buchstaben aus ihren Wörtern heraus können, die Wörter aus ihren Sätzen, die Sätze aus ihren Texten und die Texte aus ihren Büchern. Der übliche Sprachgebrauch, dokumentiert in der Bibliothek und der „bibliothek“, ist Gefängniszelle und Sarg der ungezählten anderen Möglichkeiten außerhalb des etablierten Sprachsystems, das nur die eine Möglichkeit als die einzige suggeriert: die des Gefängnisses und des Friedhofs.
Das Gedicht ist, gegen seinen Strich und doch in der Linie seiner eigenen Konsequenz gelesen, eine Jandlsche Poetik, die Poetik Jandls: die Buchstaben, Wörter, Sätze und Texte sind zu befreien und loszulassen aus der Diktatur der angeblich einzigen Möglichkeit, die das System Sprache uns suggeriert. „bibliothek“ ist die Poetik der konkreten Poesie, formuliert ex negative in konventioneller Rede: Gegenüber dem Gefängnis, dem Terror des nur scheinbar alternativlosen Systems ist Poesie Befreiung, Eröffnung einer fast unbegrenzten Vielzahl von Alternativen innerhalb der „Wörterwelt“, wie Lichtenberg das Reich der vom Bedeutungssystem freien Sprache genannt hat. Schon Lichtenberg meinte, es gelte innerhalb dieser Wörterwelt neue, bislang ungeahnte Verbindungen, Schneisen und Kanäle zwischen Sprachphänomenen zu schaffen, die im herkömmlichen System nie zueinanderkämen, als unvereinbar und antipodisch gälten. Die phonetische Assonanz zweier Wörter und die von ihr mobilisierte Assoziation schüfen ganz neue Gedankenverbindungen, die auch im Reich der Bedeutungen und Sachen neue, bislang ungeahnte Zusammenhänge eröffneten. Joyce, der Surrealismus, Arno Schmidt haben mit solchen Möglichkeiten operiert, die in der Bibliothek zwar enthalten, durch ihre Ordnung aber gefangengehalten werden. Bibliotheken und das in ihnen dokumentierte System der Sprachen und Bedeutungen sind dazu da, geöffnet zu werden, um die Myriaden von unterdrückten anderen Möglichkeiten herauszulassen und freizusetzen. Dies zu tun ist Jandls poetische Praxis – und Theorie.
Wichtige theoretische Überlegungen dazu hat Jandl in seinem Buch Die schöne Kunst des Schreibens 1976 publiziert. Dort spricht er unter anderem davon, daß es konventionellerweise zwei Arten von Grammatiken und Wörterbüchern gebe, normative und deskriptive – wobei zumindest die normativen dem gefängnisartigen System der „bibliothek“ entsprächen.

Um aber endlich zur gemeinten Art von Autonomie zu gelangen […] bedarf es der Vorstellung noch von einer dritten Art von Grammatik, einer ,projektiven‘ Grammatik, und einer dritten Art von Wörterbuch, eines ,projektiven‘ Wörterbuchs, die alles an Sprache enthalten, was es daran und darin noch nicht gibt. (S. 37f.)

Das wären die aus der „bibliothek“ losgelassenen Buchstaben, Wörter, Sätze und Texte. Wir alle, meint Jandl, „arbeiten, durch unser Reden und Schreiben, an diesen beiden vorauseilenden Büchern unentwegt mit“ (S. 38)! „Es grenzt ans Wunderbare, etwas, das es jetzt noch nicht gibt, im Druck vor sich zu haben, es ist kaum zu begreifen“ (S. 39), jene andere, vom alten System befreite Sprache vor sich zu haben.
Poesie richtet sich nach Jandl gegen Gewöhnung. „In der Poesie brauchen wir alles, woran wir uns nicht gewöhnt haben, in der Kunst überhaupt, aber zu allermeist in der Poesie, die auf ein Material angewiesen ist, das von allen unausgesetzt, und mit vollständiger Gewöhnung daran, dazu verwendet wird, alles außer Poesie daraus zu machen. Das Material ist dasselbe, aber die Gewöhnung daran muß aufhören, alle Gewöhnung daran muß aufhören, wo Poesie beginnen soll“ (S. 67), das heißt, es müssen Bereitschaft und Fähigkeit dasein, das Material der Sprache auch anders einzusetzen, als das geltende normative System es zuzulassen scheint. Jandls Summa der Befreiung von Sprache aus dem Gefängnis des Gewohnten:

In der Poesie, um es noch einmal zu sagen, brauchen wir alles, woran wir uns nicht gewöhnt haben […]. Alles, woran wir uns vollständig gewöhnt haben, läßt kein Beginnen mehr zu, läßt nicht zu, daß wir irgend etwas damit anfangen. (S. 82)

Wir alle wissen, daß die Freisetzung des anderen und Neuen schon innerhalb des herrschenden Sprachsystems nötig ist, weil ein sich betonierendes System, das keine Veränderung, keine Umgruppierung des sprachlichen Bestandes mehr zuläßt, tot ist. Ein Beispiel dafür war in den letzten Jahren der terrorartig eindimensionale Gebrauch der Formel „freiheitlich demokratische Grundordnung“ bis hin zu ihrer perversen formelhaften Verkürzung FDGO. Der Versuch, keine Wort- und keine Denkalternativen hier zuzulassen, hat nicht nur diese Wortverbindung kaputtgemacht, sondern beinahe auch die mit ihr bezeichnete Sache. Es müssen, zum Besten einer guten Sache, wohl immer neue Möglichkeiten des Anders-darüber-Redens, des anderen Sprach- und Wortgebrauchs eröffnet und offengehalten werden, weil sonst in der Tat Sprachgefängnisse und -friedhöfe entstehen wie in totalitär reglementierten Gemeinschaften. Wäre dieses Gedicht so vielleicht auch lesbar als Modell und Metapher auf den Sprachterror totalitärer Gesellschaften? Noch deren perverser Sauberkeitsfanatismus wäre dann anschaubar in der „guten putzfrau mit dem staubwedel“.
So wie dieses Gedicht konzentrische Ringe des Gefangenseins vorführt, ist es auch in konzentrischen Ringen erweiterter Bedeutungen interpretierbar. Ich hatte darauf verwiesen, wie dieses Poem nach der achten Zeile ausbaufähig und erweiterbar wird zu einem kosmologischen Modell. Das gilt auch für den Befund des Jandlschen Textes „bibliothek“, so wie er im Buche steht. Die Bibliothek wird in ihm zum Paradigma für das System, für Systeme überhaupt und ihren gefangenhaltenden und ertötenden Terror. Systeme lassen Denk- und Lebensalternativen nicht zu.
Es gibt in der europäischen Denktradition demgegenüber eine renommierte Gegenbewegung des offenen, nicht- und antisystematischen Denkens, das sich sehr oft in Aphorismen artikuliert. Bacon, Pascal, Lichtenberg, die romantischen Fragmentisten, Nietzsche sind die renommierten Kronzeugen für Glanz und Möglichkeiten solchen Denkens, das im Sinne des Jandl-Gedichts immer wieder an den einsargenden Ordnungen rüttelt und daran zweifelt, ob die gängigen Kontextordnungen wirklich alternativlos sind. Ein solches offenes Denken ist offen dafür, daß gewisse unbezweifelbare Verbindungen zwischen Einzelelementen sich wieder lösen und diese Elemente andere Relationen und Konstellationen eingehen können, daß also Buchstaben, Wörter, Sätze, Texte aus ihren sonst nicht bezweifelten System-Bindungen ,herauskönnen‘ noch ohne Garantie und Rückversicherung, was sie in ihrer neuen Freiheit anrichten werden. Sie werden mobil und frei für offene Versuchsanordnungen, fürs Experiment, was in der Tat dem Verfahren konkreter Poesie entspricht.
Jandls Gedicht ist also auch lesbar als ein Gedicht der Trauer und der Klage über Systeme, die als nicht-veränderbar gelten, und des listigen Zweifels an solcher behaupteten Nichtveränderbarkeit. Darin bekommen der Staub auf den Büchern und „die gute putzfrau / mit dem staubwedel“ ihr komisches und kosmisches Aussehen, daß sie zu Gefängniswärtern und Grabhütern solcher nur angemaßten Unveränderbarkeitsdoktrin und Rührmichnichtan-Dogmen werden. „Der Staub auf den Systemen“ ist ein sehr weitreichender kritischer Befund gegenüber unseren betonierten Bastionen des Denkens und Verhaltens, und die „gute putzfrau“ erhält so mit ihrem Wedel den lächerlichen Anstrich eines senil ohnmächtigen Weltregenten, der seine unbewegliche Schöpfung nur noch abstaubt, aber ihre Elemente nicht mehr bewegt. „Die vielen Gedanken und Dinge, die nicht aus ihren Systemen können“ – so schreiben wir Jandls Text hier fort. Das Gedicht ist Klage über das Nichtbewegtwerden dessen, was ist, und latent Ermunterung dazu, das Bewegen doch zu probieren, so wie es Jandl in seinem Werk mit den Elementen der Sprache tut. Wir sind für das Weiterbewegtwerden der Schöpfung verantwortlich.
So sind diese zwölf Zeilen in relativ konventionellen Redeformen die Darstellung der Denkmöglichkeiten des konkreten Verfahrens, ein Stück äußerlich konventioneller Poesie über die heimlich-unheimliche Kühnheit der konkreten. Auch darüber, daß die konkrete Poesie in ihren wirklich großen Konsequenzen Alternativverhalten und Systemsprengung und -veränderung ist. Das hauptsächlich politisch oder gesellschaftlich zu verstehen wäre viel zu kurzschlüssig und eingeengt. Diese großen Aspekte konkreter Poesie aber zu übersehen oder zu unterschlagen wäre töricht oder eben dem Vogel Strauß ähnlich.
Es sollte sich niemand über solche weitreichenden Befunde hinwegtäuschen lassen durch die einfache Redeform dieser zwölf Zeilen. Es wird im reduziertesten Umgangsidiom gesprochen in durchweg fragmentarischen Sätzen, die nicht im Hauptsatz, sondern bestenfalls im Nebensatz überhaupt ein Verb zulassen und dann nur eines der rudimentärsten Art. Darin ist dieses Gedicht schon fast vielen anderen in diesem Gedichtband Jandls nahe, in denen in gebrochenem Deutsch, in einer Art Gastarbeiteridiom geradebrecht wird. Die ungeheure Spannung zwischen der einfachsten, scheinbar hilflosen Art der Diktion und den Konsequenzen dessen, was beobachtet und gesagt wird, läßt dieses Gedicht bis zum Äußersten mit Energie und Potenz aufgeladen erscheinen – ein sehr gewinnendes Gegenstück zu manchem Stück todernster Tiefsinnspoesie, das mit den äußersten Worten und Verzweiflungslauten rudert, um die Heillosigkeit unserer Welt sozusagen ins Bild zu prügeln.
Ich deutete eben die Stellung des „bibliothek“-Gedichtes im Kontext innerhalb der bearbeitung der mütze an. Bei der auf den Tag genauen Datierung, die jedem Gedicht mitgegeben ist, läßt sich feststellen, daß viele der räumlich und zeitlich dem „bibliothek“-Text benachbarten Gedichte einen ähnlich klagenden, müden und resignativen Duktus haben, der sich dann im späteren Gedichtband der gelbe hund noch intensivierte. Mir scheint daraus zu entnehmen, daß das, was sich wie in „bibliothek“ auf den ersten Blick als freundlicher Spieltext mit einfachsten Worten und scheinbar undramatischem Sujet darstellt, für den Autor mit erheblichem Ernst und Gewicht, mit tiefgehender Trauer aufgeladen ist, ihm also keine nur leichte und einfache Sache ist. Auch aus dieser Beobachtung ziehe ich noch einmal den Schluß, daß eine so ins Generelle ausgeweitete Interpretation, wie ich sie vorher zu skizzieren versucht habe, ihre Berechtigung hat. Jandls Spiel mit den denkbaren Alternativen verfestigter Systeme, des sprachlichen und der mit ihm verknüpften anderen, hat sich in seinen letzten Gedichtbänden zunehmend als ein Spiel um Kopf und Kragen erwiesen, als eine Existenzfrage auf der Folie von Verzweiflung. Um so gewichtiger und ernster erscheint mir die Klage über die gefangenen und nur oberflächlich abgestaubten Buchstaben, Wörter, Sätze, Texte und Bücher. Um so glaubhafter und elementarer wird der Wunsch, daß es möglich wäre, sie herauszulassen und ganz neu zu schauen. Denn so etwas wäre, wie Jandls Werk zeigt, der Akt einer neuen Schöpfung, eingelöste Kreativität. 

1

Klaus Jeziorkowski, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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