Ko Un: Die Sterne über dem Land der Väter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ko Un: Die Sterne über dem Land der Väter

Ko Un-Die Sterne über dem Land der Väter

STERNE ÜBER DEM LAND DER VÄTER

Solange ich über mir einen Stern sehe, bin ich jung.
Inmitten der Dunkelheit
funkelnd leuchtende Brust meiner Kinder,
meine Brust:
das mitternächtliche, lichtjahrhundertealte Land
aaaaaunserer Väter.
Heute, wenn auch von Wunden übersät
aaaaazusammenbrechend,
sind es die Jungen: sie sind der Wahrheit am nächsten.
O ihr Menschen alle auf der Erde, seid jung!
In langer Nacht, mit beiden Augen, beiden tränengefüllt:
das Land der Väter
ist die zwischen den Sternen und mir unendlich fließende Freude.
Solange ich über mir die Sterne sehe, bin ich jung.
Und ich brauche mich dessen nicht zu schämen.
Laß uns einen heißen Stern über dem Land der Väter nehmen,
daß wir mit ihm die Tage deiner Kinder, meiner Kinder schaffen!
Ja, sie endet, diese Schönheit,
und wie immer ist es der Morgen, der aus ihrem Ende geboren wird.
Ist es der Morgen, an dem sich, vom Frühlicht erzitternd,
das Land der Väter heute und hier umarmend vereint.

 

Lesung Ko Un und Elisabeth Borchers aus Die Sterne über dem Land der Väter im Holzhausenschlösschen am 14.10.1996. Einführung von Siegfried Unseld.

 

 

Zu den Gedichten

Ein Gedicht ist ein Gedicht. Doch was ihm an Eindruck, Empfindung, Gedanke, auch Inspiration zugrunde liegt, ist von Fall zu Fall ebenso verschieden, wie es das ausformulierte lyrische Korpus, das Sprachgewand und der Rhythmus sind, über die allein der Leser oder Hörer den Zugang zu suchen und, wenn er Glück hat, zu finden vermag. Danach beginnt die Interpretation. Und ein wahrhaftes Gedicht, das ist seine unbeendbar-unendliche Interpretation.
Für Gedichte aus fremden Sprachen, aus anders gegründeten, anders gewachsenen Kulturen gilt das in doppeltem Maße. In der Schwierigkeit des Begreifens liegt da zugleich aber die Chance eines Verstehens darüber hinaus.
So erwa argumentierte ich vor mir selber die nach einigem Zögern gegebene Zusage, an einem Projekt mitzuarbeiten, dessen Ergebnis der vorliegende Band darstellt. Woon-Jung Chei, die den Kontakt zu ihrem Landsmann Ko Un aufgenommen hatte, sandte mir Stück für Stück ihrer wörtlichen Übertragung nach dem koreanischen Original; ich, der Japanologe, übersetzte nach einer japanischen Fassung, erstellt von dem an einer Universität nahe Ösaka lehrenden Koreaner Kim Hak-Hyon, und dann wurde eine jede Zeile diskutiert, wurde um größte Genauigkeit bei dennoch gewährleisteter Lesbarkeit gerungen.

Die Sterne über dem Land der Väter ist die wörtliche Übersetzung von Chogukui Byol Titel einer 1993 in Seoul publizierten Gedichtsammlung, die wir für die deutsche Ausgabe leicht gekürzt haben. Daß wir gerade sie auswählten, hat mit ihrer Position innerhalb der Biographie dieses südkoreanischen Dichters zu tun. Sie erschien im zweiten Sommer, nachdem Ko Un, den man 1980 als angeblichen „Rädelsführer“ beim Aufstand von Kwangju zu lebenslanger Haft verurteilt hatte, anläßlich einer Amnestie wieder freigekommen war. In einem kurzen Nachwort zur Originalausgabe erklärt er, abgesehen von einigen wenigen aus vorangegangenen Bänden übernommenen Texten habe er „den größten Teil dieser Gedichtsammlung in den beiden letzten Monaten geschrieben“. Selbst wenn das wörtlich nicht ganz zutreffen sollte, haben wir hier doch so etwas wie die Zwischensumme vor uns, die der damals Fünfzigjährige zog, um aus ihr Klarheit zu gewinnen über den nächsten Wegabschnitt.
Erinnertes und aus Empfindungen Imaginiertes, Durchblicke rückwärts bis in seine frühen Wanderjahre, in die Zeit der ersten Auflehnung gegen die Militärregimes und wie selbstverständlich darin eingebettet die Utopie oder besser Hoffnung, es werde der Tag des „Festes“ kommen, der Wiedervereinigung des so lange in Süd und Nord zerstückten „Landes der Väter“ – Ko Un zwingt dem Leser, auch dem der deutschen Übersetzung, in der Tat keine Gesamtkonzeption eines formal wie thematisch irgendwie „geplanten“ Werkes auf; eher läßt er ihn mit an seinem Schreibtisch sitzen, während er, der Dichter, all jene Anlässe spontan und mit einem ebensolchen Sprachgestus in Lyrik verwandelt. Daß dieser Koreaner weltweit zu den großen Engagierten gehört, ist das eine; wichtiger erscheint mir seine Begabung, Botschaften völlig aus dem Persönlichen zu vermitteln. Wo immer er „ich“ sagt, überzeugt er mit einer solchen Wahrhaftigkeit, daß man seine ähnlich große Begabung, in ein anderes (Erzähler-)Ich zu schlüpfen, leicht übersieht.
Entsprechendes gilt auch für die verschiedenen Einflüsse, denen er bis zu diesem Band ausgesetzt war; sie sind, könnte man sagen, gleichsam in ihm „versickert“, aufgesogen von einer spürbar heftigen, so gar nicht intellektualistischen Vitalität. Obwohl sein Einsatz für Demokratisierung und für Volksliteratur ganz offensichtlich auch von „linken“ Argumenten ausging, wird Ko Un in den Gedichten, selbst bei einiger Emphase, doch niemals agitatorisch; noch nicht einmal eine paradigmatische Absicht ist zu erkennen. Die da geschunden sind, ob vom Schicksal oder von den Verhältnissen, sie haben seine buchstäblich mitleidende Sympathie; und es darf als sicher gelten, daß hierin die in seinem buddhistischen Jahrzehnt erfahrene Weltsicht fortwirkt. Verantwortung ist dann Bereitschaft, für den anderen dazusein.
Die einzige Linie, an die sich ein nicht unbedeutender Teil der Gedichte in diesem Band anbinden läßt, beginnt im Süden der koreanischen Halbinsel, genauer: in der Haftanstalt, in der Zelle, in der der „Lebenslängliche“ einsaß. Von dort aus – nach der Amnestie schießt die Linie einem Vektor vergleichbar über die Schnellstraße in Richtung auf die Zentralprovinz mit Seoul als dem äußeren Hauptschauplatz, den sie umkreist, um sich währenddem in eine Spirale zu verwandeln, die ihrerseits ein neues Zentrum sucht und in einiger Entfernung südlich von Seoul auch findet.
Hier im Inneren der Spirale, in einem mit kleinen Dörfern besetzten fruchtbaren Landstrich im Kreis Ansong am Hanchon-Fluß, schuf sich Ko Un, seit Mai 1983 verheiratet und bald mit einer Tochter gesegnet, seinen endgültigen Lebensmittelpunkt. Rund ein Fünftel aller Gedichte im vorliegenden Band hat Szenen, Anblicke, Erlebnisse aus dieser Gegend zum Inhalt oder Anlaß: Hinweise auf des Dichters Alltag, nicht mehr und nicht weniger.
Mir selber war nach Beendigung der Übersetzungsarbeit, als hätte ich seine Landschaft mit eigenen Füßen abgeschritten, hätte, ein Dorfgebürtiger wie er, mit den Bauern rechts und links über das Vieh und über die Ernte geredet und wäre an einem kalten Morgen den Hanchon-Damm entlanggelaufen.
Die Sterne über dem Land der Väter folgt als dritter bei uns übersetzter Einzelband eines koreanischen Lyrikers auf Kim Chi-Ha, Die gelbe Erde (edition suhrkamp, 1983), und So Chong-Ju, Granatapfelblüte (Bouvier, 1988). Gegen den acht Jahre jüngeren kämpferischen Rigoristen Kim und den achtzehn Jahre älteren So, den Altmeister unter den Modernen, behauptet Ko Un einen durchaus eigenen Standpunkt. Es ist zu wünschen, daß der deutsche Leser von den Werken dieser drei Autoren ausgehend mehr und Genaueres über die facettenreiche Lyrikwelt Koreas erfährt.

Siegfried Schaarschmidt, Nachwort, Februar 1996

Zu Ko Un

Der koreanische Lyriker und Erzähler Ko Un, eigentlich Ko Un-Tae, wird am 1. August 1933 als erster von drei Söhnen einer kleinbürgerlichen Familie in der Provinz Chollabukdo geboren. Früh übt er sich beim Dorfgelehrten in chinesischer Schrift, ein Nachbarsknecht bringt ihm die koreanische Schrift Hangul bei. Er liest klassische koreanische Literatur und Liebesromane.
Ab 1943 besucht er die Grundschule von Mi-Ryong in Chollabukdo. Man gibt ihm unter der japanischen Besatzung den japanischen Namen Takabayahi Torasuke. Als er 1945 auf die Frage des Schuldirektors nach seinem Berufswunsch erklärt, er wäre gern Kaiser des koreanischen Reiches, wird er streng bestraft. Nach Kriegsende wird er Mitglied einer Schülergruppe, die den Schuldirektor wegen Kollaboration mit den Japanern zu vertreiben versucht. Er bemüht sich um Aufnahme ins Lehrerseminar, scheitert jedoch trotz guter Leistung, da sein Name auf einer schwarzen Liste des Chollabukdo-Lehrerverbands steht. 1947 schließt er die Kunsan-Mittelschule als Jahrgangsbester ab. Danach schwindet sein Interesse an der immer noch stark japanisch beeinflußten Schule.
Er beginnt zu malen. 1949 stößt er auf einen Gedichtband von Han Ha-Un (1919–1975) und beschließt, selbst Dichter zu werden. Im Koreakrieg gerät er in eine erste innere Krise. 1951 wird er Lagerarbeiter bei der US-Marine; er unternimmt mehrere Selbstmordversuche. Später wird er Lehrer für Koreanisch und Kunst am Privatgymnasium eines Verwandten.
Als er dem buddhistischen Mönch Hye-Cho begegnet, folgt er diesem in den Tempel; er erhält den Mönchsnamen Il-Cho, was soviel bedeutet wie „In einer Sekunde überwinden“. 1957 geht er mit seinem Tempel-Meister Hyo-Bong nach Seoul. In der neugegründeten Buddhistischen Zeitung (Bulgyo Shinmun) schreibt er regelmäßig, veröffentlicht auch Gedichte. 1958 folgen erste Gedichtveröffentlichungen in literarischen Zeitschriften. Er schließt erste Bekanntschaften mit anderen Schriftstellern.
Ein erster Gedichtband Feuerfalter (Bulnabi) wird 1959 beim Brand der Druckerei vernichtet. Ko Un zieht sich zu Meditationsübungen in den berühmten koreanischen Zentempel Haeinsa zurück. 1960 erscheint sein Gedichtband Nirwana, Empfindungen zur Tag- und Nachtgleiche (Piankamsong), im Jahr darauf sein erster Roman Die frühe Kirschblüte (Pianru), auch veröffentlicht er die Bände Das Auslegen des Prajnaparamita-Sutra (Banyasimkyonghaui) und Der Weg des Buddhismus (Bulgyo ui Gil). Enttäuscht von der Verfassung des buddhistischen Lebens im Land, kehrt Ko Un 1962 in die Welt zurück.
Nach einer Zeit auf der Insel Cheju, wo er u.a. eine Bibliothek sowie für kurze Zeit eine schulgeldfreie Schule betreibt, kehrt er 1967 nach Seoul zurück. Anfang der siebziger Jahre beginnt sich Ko Un nach einem abermaligen Selbstmordversuch politisch zu engagieren. Dieses Engagement drückt sich einerseits im Protest gegen die Verfolgung Intellektueller wie Kim Chi-Ha aus und andererseits in der Forderung nach einer demokratischen Staatsreform. 1974 ist Ko Un Mitbegründer des Verbands koreanischer Schriftsteller für die Verwirklichung der Freiheit (Chayusilchon Muninhyobuihoe); er übernimmt den Vorsitz. Sein Auftreten als Sprecher der Demokratiebewegung bringt ihm wiederholte Verhaftungen ein; 1975 wird er nach Verkündung des Ausnahmezustandes unter Hausarrest gestellt. Diese Erfahrungen prägen seine zahlreichen Buchpublikationen; immer wieder Lyrik und zunehmend Essays. Seit 1974, dem Jahr, in dem er seine Frau Lee San-Hwa kennenlernt, ist er Träger des höchsten koreanischen Literaturpreises Schriftstellerpreis für die koreanische Literatur (Hangukmunhakchagkasan) .
1978 zeigt Ko Un als Vizepräsident des koreanischen Menschenrechtskomitees wachsendes Interesse an der Arbeiterbewegung. Im folgenden Jahr gründet er die Zeitschrift Praxis & Literatur (Silchonmunhak). Er beteiligt sich an der Demonstration gegen den Besuch des US-Präsidenten Jimmy Carter, wird verhaftet und dabei so gefoltert, daß er auf einem Ohr taub wird. Im August desselben Jahres organisiert er einen Arbeiterstreik, was auch in dem Band Sterne über dem Land der Väter in dem Gedicht „Kim Kyong-Suk“ seinen Ausdruck findet. Kim Kyong-Suk (1958–1979) war eine der führenden Arbeiterinnen, die mit Ko Un gemeinsam den Streik organisierte und bei Auseinandersetzungen mit der Polizei ums Leben kam.
Im Mai 1980 wird Ko Un nach dem Volksaufstand von Kwangju als dessen angeblicher Rädelsführer wieder inhaftiert; das Militärgericht verurteilt ihn im Juli zu lebenslänglicher Haft. Zunächst sitzt er im Gefängnis von Daegu in Einzelhaft, dann wird er wegen seines Ohrenleidens nach Seoul zur Operation gebracht. 1982 erfolgt im Zuge einer Amnestie seine Freilassung. 1983 heiratet er Lee San-Hwa, die eben aus England zurückgekehrt und als Anglistikprofessorin an der Chungang-Universität tätig ist. 1985 wird ihnen eine Tochter namens Ko Cha-Ryong geboren.
1987 erfolgt die Gründung des Schriftstellerverbands für Volksliteratur (Minchokmunhak Jakkahyobhoe). Als 1989 ein Treffen von süd- und nordkoreanischen Schriftstellern vorbereitet wird, betrachten die Behörden Ko Un, der zu dieser Zeit Kopräsident des Verbandes ist, als den Hauptverantwortlichen; er wird vorübergehend festgenommen. Seit 1990 ist er Präsident des Verbandes. Seit Frühjahr 1992 lehrt er an der Kyonggi-Universität in Seoul als Professor für koreanische Sprache und Literatur.
Ko Un wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so 1986 mit dem 13. koreanischen Schriftstellerpreis und 1988 mit dem 3. Manhae-Literaturpreis. Sein 1991 erschienener buddhistischer Roman Hwaomkyong (Die Auslegung des Avatamsaka-Sutra) wurde im darauffolgenden Jahr verfilmt. 1993 wurde dieser Film auf dem Berliner Filmfestival preisgekrönt.
Zu seinen bekanntesten Gedichtbänden gehören Maninbo (Erzählgedichte über 10 000 Personen, 9 Bände) und Paekdu Berg (7 Bände), erschienen 1989 und 1994. Diese beiden Werke werden in Korea als Prototypen der koreanischen Volksliteratur verstanden und akzeptiert. Zuletzt veröffentlichte Ko Un den buddhistischen Roman Zen (2 Bände, 1995).
Als Vorlagen für die Übersetzung der Gedichte ins Deutsche benutzten wir die koreanischen Ausgaben Chogukui Byol (Sterne über dem Land der Väter) von Changjakkwa Bipyongsa (1993) und Chongha (1988), beide in Seoul, sowie die von Kim Hak-Hyon besorgte Übertragung ins Japanische, die unter dem Titel Sokoku no hoshi (Sterne über dem Land der Väter) im Verlag Shinkensha, Tokyo, 1989 erschien.

Woon-Jung Chei, Februar 1996

 

Inhalt

„Erinnertes und aus Empfindungen Imaginiertes, Durchblicke rückwärts bis in seine frühen Wanderjahre, in die Zeit der ersten Auflehnung gegen die Militärregime und wie selbstverständlich darin eingebettet die Utopie oder besser Hoffnung, es werde der Tag des ,Festes‘ kommen, der Wiedervereinigung des so lange in Süd und Nord zerstückten ,Landes der Väter‘ –: Daß dieser Koreaner weltweit zu den großen Engagierten gehört, ist das eine; wichtiger erscheint mir seine Begabung, Botschaften völlig aus dem Persönlichen zu vermitteln“, schreibt Siegfried Schaarschmidt über einen der bedeutendsten Dichter Koreas. 1933 wurde er als ältester Sohn einer Bauernfamilie in der Provinz Chollabukdo im Südwesten der koreanischen Halbinsel geboren, die auch die Heimat des Politikers Kim Dae-Jung und des Lyrikers Kim Chi-Ha ist. Mit Neunzehn trat er in ein zenbuddhistisches Kloster ein und verbrachte dort zehn Jahre. In dieser Zeit begann er Gedichte zu schreiben. Sein erster Gedichtband erschien 1960. Ko Un hat seither nahezu hundert Bücher veröffentlicht mit Gedichten, Romanen, Essays und Kritiken. Er wurde in Korea mit Literaturpreisen geehrt und ist inzwischen Professor für koreanische Literatur. Wegen seines politischen Engagements wurde er während der ersten Hälfte der achtziger Jahre politisch verfolgt, verhaftet und gefoltert.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

Asiatische Moderne

Den meisten mitteleuropäischen Lesern ist nicht bewusst, dass sich die Moderne nicht nur auf den Schauplätzen der europäischen und nordamerikanischen kulturellen Inszenierungen ereignete, sondern auch, zum Beispiel in Ostasien. Vertreter dieser Moderne ist der koreanische Dichter Yisang, der koreanische Rimbaud. Ganz anders dagegen Ko Un. Er schreibt eine eher programmatische Poesie. Von beiden Literaten sind nun deutsche Übersetzungen erschienen.

AN DIE DUNKELHEIT

Begrabe die abgenutzten Sinnbilder.
Bis morgen.
Wenn du diese Sinnbilder zu Grabe trägst, die bisher
Deine Seele ganz und gar
Verschlissen haben,
Dann erst
Ist die Nacht eine Nacht, in der erster Schnee fällt.

Hundert Jahre Politik und Literatur in diesem Land
Haben die Dunkelheit nur als Sinnbild gepredigt.
Für die dunklen Jahre des Feudalismus
Die dunklen Jahre des Faschismus
Die dunklen Jahre in der Arbeitslagern von Aoji
Die dunklen Jahre des Ausnahmezustandes
Und
Die dunklen Jahre irgendwo.

Wenn wir uns von diesen verordneten Bildern der Dunkelheit
Verabschieden
Du und ich
Können wie schon morgen feierlich
Das Ende dieses Alptraums
Den Sieg über den Tod empfangen.

Nur die unverschuldete Dunkelheit ist wahrhaftige Dunkelheit.

Der Dichter Ko Un wurde 1933 geboren, als die Japaner Korea besetzt hielten. Koreanisch durfte damals weder gesprochen noch geschrieben werden. Seine Muttersprache lernte Ko Un heimlich von einem Diener und nach der Befreiung war er der einzige seiner Familie, der sie noch sprach. Um die traumatischen Erlebnisse der japanischen Fremdherrschaft und des Bruderkriegs zwischen Nord- und Südkorea und zu verarbeiten, trat er mit 19 in ein buddhistisches Kloster ein.
Korea sei in diesem Krieg so stark bombardiert worden, dass es selbst die Berge an den Gipfeln abtrug, sagte Ko Un im Gespräch. Nach zehn Jahren verließ Ko Un aus Protest gegen die politische Haltung und innere Organisation der buddhistischen Orden das Kloster. Er gründete eine Schule für Kinder mittelloser Familien, verfiel dem Alkohol, unternahm einen Suizidversuch, ging nach Seoul, wurde Mitherausgeber einer Zeitschrift, veröffentlichte zunehmend Gedichte, trank erneut, unternahm einen weiteren Selbstmordversuch.
Der Koreakrieg habe ihn zu einem Nihilisten werden lassen. Im Winter 1979 brachte ihn jedoch der Selbstmord eines Arbeiters, der der gleichen Generation wie er selbst angehörte, zum Nachdenken: Wozu dieser Tod, müsste man nicht Respekt vor jeglichem Lebewesen besitzen? Sein Blick auf die Widersprüche der Diktatur, so Ko Un, habe sich von da ab verschärft und seine Dichtung wurde zunehmend politischer. 1974 wird Ko Un zu einer Haftstrafe verurteilt, weitere Inhaftierungen folgen, unter anderem wegen Kontaktaufnahme zu nordkoreanischen Schriftstellerkollegen.
In seinen Gedichten ist deshalb immer wieder von einem Wir, von gemeinsamer Hoffnung und von einem besseren Morgen die Rede.

In meinen Gedichten ist sehr häufig das Wort Morgen oder Zukunft zu finden, im Prinzip habe ich das auch zu häufig genutzt, […] Für mich hat das Wort Zukunft oder Morgen etwas schicksalhaftes, es ist etwas, was ich sehr ersehne, was ich sehr positiv empfinde und ich denke, es liegt an der Erinnerung an meinen Vater. Es war nämlich zur Zeit der japanischen Kolonialherrschaft, als wir weder koreanisch sprechen noch koreanische Schriftzeichen verwenden durften und das Land ausgebeutet wurde, so dass ich in der Kindheit häufig Hunger empfunden habe. Normalerweise isst man ja drei mal am Tag, aber zu der Zeit war es so, dass man meistens zwei Mal am Tag aß und wenn, dann auch nur ganz wenig. Und es gab Tage, wo man kein einziges Mal essen konnte und sich den Bauch mit Wasser füllen musste, mit kaltem Wasser füllen musste. Man hat sich aber auch dieses Hungers geschämt. Ich kann mich erinnern, dass mein Großvater häufig während der Essenzeit Feuer gemacht hat. Weil der Rauch aus dem Kamin bedeutet ja, das man genug zu essen hat, um zu kochen. Mein Großvater hat dann einen Kessel mit Wasser gefüllt und geheizt, damit die Leute sehen, es kommt Rauch aus unserem Kamin und wir gehören nicht zu denjenigen, die hungern müssen. Mein Vater kam dann immer sehr spät abends heim, er ist immer sehr weit gegangen, um etwas Essbares für uns zu besorgen. Wir haben immer warten müssen, bis mein Vater kam, in der Hoffnung, dass er uns dann Reis mitbringt. Und wenn dann mein Vater spät nachts heimkam mit leeren Händen, dann war die Enttäuschung sehr sehr groß, weil wir dann eben nichts essen konnten. Mein Vater stand dann immer im Hof und versuchte uns aufzumuntern und sagte dann: Morgen! Morgen ganz bestimmt bringe ich etwas mit! Und deshalb ist dieses Wort Morgen für mich fest in meinem Kopf verankert, also dass ich das in meinen Gedichten sehr häufig verwendet hab.

Ko Un schreibt eine programmatische Poesie, die mit jeder Zeile Korrespondenz sucht, die von der Idee einer Verbesserung der Welt ausgeht und dynamische Veränderung, Bewegung bewirken will. Die Wirkung seiner Gedichte zielt auf die Vorstellung einer Gemeinschaft von Menschen, denen er sich zugehörig fühlt…

Cornelia Jentzsch, Deutschlandfunk, 12.10.2005

Die Sterne über dem Land der Väter

(…) Den einen Tag war’s ein Sarg für die Toten,
den anderen Tag wahrhaftig das Meer.
Denn seltsam: einige sind lebend hier herausgekommen.

Selbst ohne ein einziges Schiff mit geblähten Segeln:
Am Leben zu sein, das ist das Meer.

So lauten die letzten Zeilen des Gedichts „Sonnenstrahl“ aus dem Band Die Sterne über dem Land der Väter des koreanischen Lyrikers Ko Un. Schon diese 5 Zeilen drücken die Gedanken eines Häftlings im Gefängnis aus, dessen Leben voller Qualen ist, der aber immer eine Richtung verfolgt.
Ko Un kann heute auf ein Leben voller Brüche in einem gebrochenen Land zurückblicken. Er erlebt die japanische Besatzungsherrschaft, den Bürgerkrieg und schließlich das geteilte Korea – Themen, die stets sein Werk beeinflussten. Bereits mit acht Jahren kennt er klassische chinesische Texte, die selbst älteren Schülern Schwierigkeiten bereiten, worin sich seine frühe intellektuelle Reife zeigt. Er antwortet auf die Frage eines Lehrers, was er später einmal werden wolle, bereits in der dritten Klasse mit „Herrscher von Japan“, wofür er schwer bestraft wird. Mit 12 Jahren findet er die gesammelten Gedichte von Han Ha Un und verschlingt sie geradezu. In diesem Moment war ihm klar, welchen Weg er gehen wollte – nämlich Gedichte zu schreiben.
Nachdem er Zeuge wurde, wie Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde sowie seine erste Liebe ermordet werden, und er gezwungen wird, Leichen auf seinem Rücken zu transportieren, begeht er einen ersten Selbstmordversuch, der ihn einseitig das Gehör kostet. Ruhe sucht er 1952 im Kloster als buddhistischer Mönch. Während dieser Zeit werden im Buddhismus Konflikte ausgetragen und die Tradition des Zölibats erneuert, woraufhin verheiratete Mönche des Klosters verwiesen werden. Die gesuchte Ruhe kann er also auch hier nicht finden.
Ko Un arbeitet in dieser Zeit an einer buddhistischen Zeitung. Nach zehn Jahren im Kloster, kehrte er zurück ins weltliche Leben. Hier verfällt er dem Alkoholismus und entwickelt immer stärker nihilistische Gefühle. Lyrik aus dieser Zeit, wie beispielweise „Pian Gamsung“ (1967, Ü: Jenseits der Gefühle) spiegelt seine Gefühle von der Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit des Lebens wider. Diese Gefühle gipfeln in einem zweiten Selbstmordversuch im Jahr 1970. Danach beginnt Ko Un sich für die Wiedervereinigung Koreas zu interessieren. Er wird 1974 zum Generalsekretär des Verbands koreanischer Schriftsteller für die Verwirklichung der Freiheit ernannt. Immer wieder sitzt er im Gefängnis, wo er unter schweren Misshandlungen leidet; 1980 verurteilt man ihn sogar zum Tode. Aufgrund einer Amnestie wird er jedoch begnadigt und noch im selben Jahr aus der Haft entlassen. Ko Un heiratet und bekommt eine Tochter. Darauf folgt seine kreativste Phase, in der er sich ganz von den nihilistischen Gedanken der Vergangenheit abwendet.
In der Zeit seiner Haft verfasst er einen Gedichtzyklus, in dem er sich mit allen Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet sind, beschäftigt. Von Maninbo (1986, Ü: Zehntausend Leben) sind bis heute bereits 15 Bände erschienen. In den letzten beiden Monaten seiner Haft schrieb er den Großteil des Gedichtbandes Die Sterne über dem Land der Väter, der jetzt in der deutschsprachigen Übersetzung von Siegfried Schaarschmidt und Woon-Jung Chei in der Bibliothek Surkamp erschienen ist; eine Übersetzung, in der es gelungen ist mit naturgeladenen Metaphern Gefühle der Angst, Wut, Liebe und Hoffnung zu vermitteln. In diesem spiegeln sich all seine grausamen Erfahrungen wider, und dennoch klingt in fast jedem seiner Worte auch eine leise Hoffnung mit. Die große Verbundenheit mit der Natur, die der koreanischen Lyrik so eigen ist, wendet Ko Un kunstvoll an und schafft so Bilder, die den Leser in seine Welt eintauchen lassen. Man fühlt mit ihm und man spürt eine Ehrlichkeit in seinen Worten. So auch in dem folgenden Gedicht „Wolken“:

Nie mehr seit 1980 habe ich zu den Wolken gesprochen,
auch zu keinem geliebten Menschen;
so die Tage zu ertragen war das Schwerste.
Ah, all die Verlogenheiten!
Sie soll ich meine Mutter nennen, diese Welt?
Soll mich nach den eisigen Tagen des Ausnahmezustands sehnen?
Als ich zuerst einen Fetzen Wolke durch die Gitterstäbe sah,
hab ich der Wolke keine Liebesblicke geschickt,
hab der Wolke nach zum Südhimmel hin nicht um Mitleid gebettelt.
Ich fiel, ich stürzte, ich brach zusammen,
aber das Knie beugte ich nicht. Ob Nacht, ob Tag,
in düsterer Zelle hielt ich die Augen offen wie Sterne,
ich betete nicht, niemals betete ich für mich.

Zuviel hatte ich in vergangenen Tagen auf die Wolken gesetzt,
also dass ich die Geschichte der Wolken in der Geschichte begrub.

Scharschmidt fasst die Einzigartigkeit Ko Uns in folgende Worte: „(…) Daß dieser Koreaner zu den Engagierten gehört, ist das eine; wichtiger erscheint mir seine Begabung, Botschaften völlig aus dem Persönlichen zu vermitteln.“ Ko Un ermahnt, er motiviert und er glaubt an etwas. Ko Un gehört zu den älteren Lyrikern Koreas, die sich mit den Themen Tod und Verfolgung beschäftigen, die aber auch die jüngeren Dichter dazu aufrufen, das zu verwirklichen, woran sie so lange geglaubt haben – nämlich an die Wiedervereinigung und Einheit Süd- und Nordkoreas. Und diese Einheit muß nach Ko Un vor allem in den Köpfen der Menschen entstehen. Diese Gedichte lassen nicht nur Wut und Schmerz spüren, sondern auch Liebe für sein Land und sein Volk. In dem titelgebenden Gedicht „Sterne über dem Land der Väter“ schreibt er:

(…) sind es die Jungen: sie sind der Wahrheit am nächsten.
O ihr Menschen auf der Erde, seid jung!
In langer Nacht, mit beiden Augen, beiden tränengefüllt:
Das Land der Väter
Ist die zwischen den Sternen und mir unendlich fließende Freude.
(…)

Ein koreanischer Literaturkritiker sagte einmal über Ko Un: „Vielleicht atmet er seine Gedichte bevor er sie zu Papier bringt. Ich kann mir vorstellen, dass seine Gedichte eher seinem bezaubernden Atem entspringen als seinem Stift.“ Damit schildert er genau das, was Ko Uns Gedichte den Leser fühlen lassen. Er schreibt, als öffne er seine Seele und sein Herz so weit, dass der Leser geradewegs eintreten kann um ihn in seinem Ganzen zu begreifen.
Ko Un selbst sagt, er befreie sich kontinuierlich von den Gedichten, die er bereits geschrieben hat, und so lässt sich auch das weite Spektrum seines Schaffens erklären. Schmerz und Hoffnung, Hass und Liebe ebenso wie pure Gewalt und Brutalität eröffnen sich dem Leser dieser Lyrik, und es wird ein umfassendes, interessantes und anregendes Bild einer Kultur geschaffen über die man in diesem Land bisher reichlich wenig weiß.

Claudia Wollenweber, Li[li:]

Gedichte aus einem Scherbenhaufen

− Der koreanische Schriftsteller Ko Un eröffnet heute Abend die Frankfurter Buchmesse. −

Hangukmunhakchagkasan. Das heißt „Schriftstellerpreis für die koreanische Literatur“ und ist die höchste Ehrung für Autoren in diesem Land. Es ist nur einer von allen möglichen Preisen, die Ko Un erhielt, der als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gilt.
Hierzulande wurde das Werk des 72-Jährigen bislang weniger zur Kenntnis genommen; von der 36-bändigen Gesamtausgabe sind gerade mal drei Bücher ins Deutsche übersetzt. Woher kommt diese Zurückhaltung? Nach Ko Uns Auffassung lassen sich die Einflüsse des Schamanismus in der koreanischen Dichtung nur schwer mit westlichen Kategorien erfassen. Fremd klingt uns vielleicht auch das Pathos, mit dem Ko Un immer wieder nach gemeinsamen Traditionen in Nord- und Südkorea fragt; für ihn heißen sie „Volk“ und „Vaterland“.
Ko Un verweist gern darauf, dass er selbst mit Kim Jong Il („Ich glaube, der ist in Deutschland nicht so beliebt.“) schon öfter mal einen trinken war. Er will, dass die friedliche Nutzung der Atomenergie in Nordkorea zugelassen wird; seit den 80er Jahren setzte er sich für einen gemeinsamen Kongress von nord- und südkoreanischen Schriftstellern ein, ging dafür sogar ins Gefängnis. Für ihn verbindet Nord und Süd vor allem ein Feindbild: „Das Böse ist Bush“. Erschreckend schmal werden die Lippen und kämpferisch die Gesten dieses radikalen Demokraten und Pazifisten, wenn es um amerikanische Koreapolitik geht.
Geboren wurde er 1933 in Kunsan; damals hielten die Japaner Korea besetzt. In einem seiner Gedichte heißt es: „Der Dichter muss viele Tage geweint haben, bevor er zum Dichter wird. / Als Dreijähriger schon / muss der Dichter geweint haben für andere.“ 1945, da war er zwölf, wollte er Kaiser des koreanischen Reiches werden. Sein mit den Japanern kollaborierender Schuldirektor fand das nicht lustig und bestrafte ihn streng. Siebzehnjährig erschütterte ihn der Koreakrieg; er wollte sich umbringen, fand zehn Jahre lang Trost in einem buddhistischen Kloster und schrieb erste Gedichte.
Seine Literatur sei aus einem Scherbenhaufen entstanden, sagt er heute; die politische Situation im Land der Morgenstille ist ihr Nährboden. Geprägt hat ihn auch ein Ereignis aus der Zeit der Militärdiktatur unter Park Chung Hee: Die öffentliche Selbstverbrennung des Textilarbeiters Chon Tae Il in Seoul im November 1970 aus Protest gegen die Verhinderung eines Arbeitsgesetzes durch die Regierung.
Als sich Ko Un 1979 an Demonstrationen gegen den Koreabesuch Carters beteiligte, wurde er gefoltert, seither ist er auf einem Ohr taub. 1980, nach dem Volksaufstand von Kwangju, verurteilte ihn ein Militärgericht als angeblichen Rädelsführer zu lebenslanger Haft.
Ko Un macht kein Hehl daraus, dass er in solch finsteren Lebensphasen im Alkohol Trost fand; um so bewundernswerter die Selbstironie, mit der er bei Veranstaltungen die schönsten Alkoholikerwitze reißt. In „Ein Tag voller Wind“ mahnt er: „Denke nicht gedankenlos / daran dich zu betrinken“. Vielleicht fällt ihm ja auch heute Abend wieder etwas zu diesem Thema ein.

Brigitte Preissler, Berliner Zeitung, 18.10.2005

Mystik und Mogelperspektive

− Die moderne Lyrik aus Korea gleicht einem Streifzug durch leere Paradiese. −

Für Ostasien-Reisende hat sich der Dichter Matthias Politycki vor einigen Jahren eine pikante Mutprobe ausgedacht. Im Titelgedicht seines Gedichtbandes Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe (2003) kokettiert er mit einem exotischen Ess-Ritual. Mutig tritt hier ein deutscher Dichter an einen Kochtopf in der südkoreanischen Stadt Pusan heran, wo in einem „dunkelbraun brodelnden Sud“ zu Hunderten die Seidenraupen köcheln. Indes: Der Dichter bleibt tapfer und verzehrt ein dunkel gesottenes Kleintier. Ob mit solchen bizarren Details der kulturelle Appetit auf Korea geweckt werden kann, ist eher zweifelhaft.
Insofern ist es sehr zutreffend, wenn Politycki seine lyrischen Korea-Impressionen unter die Überschrift Westöstliche Konfusionen stellt. Denn es herrscht im hiesigen Literaturbetrieb meist eine aus Unkenntnis gespeiste Konfusion, wenn die Rede auf das „Land der Morgenstille“ kommt. Gäbe es nicht den Bielefelder Pendragon-Verlag und die im ostfriesischen Thunum erscheinende Edition Peperkorn, würde die Bilanz der deutsch-koreanischen Literaturbeziehungen äußerst blamabel ausfallen. Beim aktuellen Buchmesseauftritt Koreas ist man vorwiegend auf Bücher aus diesen eigensinnigen Kleinverlagen angewiesen, denn das Interesse der Branchenführer am Gastland ist doch ausgesprochen matt.
Mancher Verlag beschränkt sich auf das Minimalprogramm bloßer Neuauflagen: Den famosen Gedichtband Die Sterne über dem Land der Väter von Ko Un, der erstmals 1996 erschien, hat die Bibliothek Suhrkamp unverändert nachgedruckt; noch älter ist die von der Koreanistik-Professorin Marion Eggert bei dtv herausgegebene Lyrik-Anthologie Wind und Gras. Gerade bei der Vermittlung von Ko Un zeigt sich, dass der Aufbau des deutsch-koreanischen Literaturdialogs noch in den Kinderschuhen steckt. Die Suhrkamp-Ausgabe der Ko Un-Gedichte wurde von dem bedeutenden Japanologen Siegfried Schaarschmidt übersetzt, der die Gedichte aber erst über den Umweg des Japanischen kennen gelernt hat.
Trotz des übersetzerischen Umwegs liest man diese Gedichte mit angehaltenem Atem. Denn Ko Un hat hier etwas realisiert, was man im deutschen Sprachraum nur noch selten findet: eine direkte, der Umgangssprache verpflichtete, gestische Poesie, in der der Autor die elementaren Mythen und Traumata seines Landes heraufruft. Schon rein biografisch verkörpert der 1933 geborene Ko Un die blutigen Zerrissenheiten der koreanischen Geschichte. Nach seiner ersten Gedichtveröffentlichung verschwand er zehn Jahre lang in einem buddhistischen Kloster und brachte es zum hohen Würdenträger in der Nationalen Mönchsvereinigung, bevor er sich 1962 von seiner Gemeinde abwandte und sich in einen radikaldemokratisch gesinnten politischen Dichter verwandelte.
Nach dem Volksaufstand in der Provinzstadt Kwangju warf man Ko Un 1980 als angeblichen Rädelsführer ins Gefängnis und bedrohte ihn mit der Todesstrafe. Nur weil er sich in der Demokratiebewegung exponiert und damit die Aufmerksamkeit des Westens auf sich gezogen hatte, wurde er 1982 amnestiert. Der Band Die Sterne über dem Land der Väter ist in dieser Zeit des Aktivismus entstanden und enthält eine Menge dezidiert politischer Gedichte, in denen die Trauer über die Teilung des Landes in grimmige Sottisen auf die „Regierungsscheiße“ umschlägt und das Ich keinen Zweifel lässt an den Defiziten der Intellektuellen: „Uns fehlt die Wissenschaft vom Hass“…

Michael Braun, der Freitag, 21.10.2005

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Friedhelm Bertulies: Sterne des Vaterlandes
literaturkritik.de, Oktober 2005

Timo Brandt: Ko Un und Die Sterne über dem Land der Väter
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, 2.12.2013

 

 

KO UN

Abends saßen aßen wir
Zusammen hörten sahen
Uns nicht satt an dieser
Hauchend summenden
Geburt der Poesie im
Munde eines alten
Dichters aus Korea
Um dem Flackern
Seiner angsterfüllten
Seele aufzuhelfen trank
Der Weise Rotwein
Flackernd taten wirs
Ihm nach

Wolfgang Heidenreich

 

 

Fakten und Vermutungen zu Siegfried Schaarschmidt

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Andreas Platthaus: Ständiger Kandidat für den Nobelpreis
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.8.2023

Fakten und Vermutungen zum Autor + Internet Archive
Porträtgalerie: Galerie Foto Gezett + Dirk Skiba Autorenporträts +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Ko Un (mit Richard Silberg) liest beim Dodge Poetry Festival 2006.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00