Ko Un: Ein Tag voller Wind

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ko Un: Ein Tag voller Wind

Ko Un-Ein Tag voller Wind

KWANGJU

Es waren zehn Jahre seit dem Widerstandskampf
vergangen in der Stadt Kwangju.
Wir lebten weiter in Kwangju,
dann haben wir Kwangju verlassen.
Außerhalb von Kwangju,
wo man das überhaupt nicht weiß,
erst außerhalb von Kwangju,
wo man das verdrängt,
auch wenn wir von Kwangju singen,
auch wenn wir mit Nachdruck von Kwangju erzählen,
verstehen wir, was diese Zeit war.
Glassplitter glänzen auf der Straße,
von rücksichtslos weggeworfenen Schnaps- und Bierflaschen.
Nur mit Mühe verstehen wir,
woraus diese Zeit bestand.

 

 

 

Nachwort

− Leben als ständiger Wandel, Leben in der Zerbrechlichkeit. Ko Un und sein Werk. −

Im Jahr 1945 findet der zwölfjährige Ko Un auf dem Nachhauseweg von der Schule einen Gedichtband auf der Straße. Es ist eine Anthologie von Gedichten des bekannten, an Lepra erkrankten Dichters Han Ha-Un, die Ko Un in der folgenden Nacht verschlingt.

Meine Brust schien mit Gewalt aufgerissen zu sein von der Erschütterung, die diese Gedichte in mir auslösten.

So beschreibt er später seine Reaktion auf das Buch.
Schon früh zeigte sich bei Ko Un eine besondere Verbindung mit der Literatur. So konnte er bereits im Alter von acht Jahren klassische chinesische Texte lesen. Diese Beziehung spiegelt sich dann auch trotz vieler Wandlungen in seinem Leben wieder.
Ko Un wurde 1933 in Kunsan, einer Stadt in der Provinz Cholla, geboren, als die Japaner Korea besetzt hielten. In den Nachkriegswirren des 2. Weltkriegs herrschte zwischen Nord- und Südkorea der grausame Bruderkrieg, der viele Opfer unter der Zivilbevölkerung forderte. Er stellte einen wichtigen und unauslöschlichen Einschnitt in der neueren Geschichte Koreas dar und führte zu der noch heute andauernden Teilung Koreas in zwei Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Auch auf Ko Un hatte der Krieg einen prägenden Einfluss. 1950 wurde er als 17jähriger zum Arbeitsdienst in der kommunistischen Volksarmee gezwungen und musste dort Aufräumungsarbeiten nach einem schweren Bombenangriff leisten. Diese schrecklichen Erfahrungen während des Bruderkriegs führten bei dem späteren Dichter zu einem Nervenzusammenbruch und schließlich zu einem Selbsttötungsversuch.
Wohl auch unter dem Einfluss der furchtbaren Kriegserfahrungen wurde Ko Un 1952 buddhistischer Mönch und ein anerkannter Schüler des großen Zen-Meisters Hyo Bong. Die folgenden zehn Jahre lebte er das typische Leben eines buddhistischen Mönchs: er wanderte durch ganz Südkorea von Kloster zu Kloster, bettelte um Almosen, meditierte und vertiefte sich in die buddhistischen Schriften.
1957 gründete er mit anderen Mönchen die Buddhistische Zeitung, in der seine ersten Gedichte und Essays erschienen. Die Veröffentlichung seines kurzen Gedichtes „Keylhaek“ („Tuberkulose“) auf Empfehlung des berühmten Dichters Cho Chi-hun in einer Ausgabe der Zeitschrift Hyundai-si („Moderne Poesie“) stellt sein eigentliches Debut in der literarischen Welt Koreas dar. Im ostasiatischen Kulturkreis ist für die Entwicklung einer literarischen Karriere die Anerkennung durch einen bedeutenden Dichter, im Falle Ko Uns durch Cho Chi-hun, von besonderer Wichtigkeit. Ko Uns erste Gedichtsammlung mit dem Titel Pian Gamsung („Jenseits der Gefühle“) wurde 1960 veröffentlicht.
Mittlerweile war der Name Ko Un in buddhistischen Kreisen schon recht bekannt geworden. Er war Prior des Chondung-Tempels, dann Erziehungsdirektor und stellvertretender Leiter des Haein-Tempels und schließlich Mitglied des Zentralkomitees der „Nationalen Mönchsvereinigung“. Umso überraschender war dann sein plötzlicher Rückzug aus der buddhistischen Mönchsgemeinde, den er in einem 1962 in der Tageszeitung Hankook veröffentlichten Rücktrittsmanifest bekannt gab.
In dieser Zeit hatte er Mikhail Sholokhovs Der stille Don in japanischer Übersetzung gelesen. Nach eigenen Aussagen hatte ihn dieser großartige russische Roman durch seine Komplexität und poetische Kraft so sehr beeindruckt und schockiert, dass er seine gesammelten Manuskripte verbrannte und in ein verzweifeltes dichterisches Schweigen verfiel. 1963 bis 1967 lebte er auf der Insel Cheju, wo er nahezu ohne Bezahlung eine Schule für arme Leute aufbaute und Koreanisch sowie Kunsterziehung unterrichtete. Hier begann er auch wieder zu schreiben und veröffentlichte seinen zweiten Gedichtband mit dem Titel Haebyun-ui Unmunzib („Gedichte am Meeresstrand“, 1963).
1967 zog Ko Un nach Seoul. Die folgenden Jahre verbrachte er in einem großen persönlichen Chaos, aber auch in großer Produktivität. Von Selbstzweifeln gequält, begann er zu trinken und unternahm 1970 einen weiteren Selbsttötungsversuch. Nachdem er Gift genommen hatte, fiel er für 30 Stunden ins Koma, bevor er wieder das Bewusstsein erlangte.
1973 trat eine große Veränderung in Ko Uns Leben und sein literarisches Schaffen ein. Er lehnte es ab, als „führender nihilistischer Dichter“ bezeichnet zu werden. Stattdessen wurde er über Nacht zu einem radikal-demokratischen Dichter, der aktiv in die politische und soziale Entwicklung seines Landes einzugreifen versuchte. Er übernahm eine wichtige Rolle in der intellektuellen Opposition zu dem Plan des Präsidenten Park Chung-hee, der die Verfassung so ändern wollte, dass ihm eine weitere dritte Amtszeit zur Verfügung stehen sollte. Ko Un engagierte sich von nun an im scheinbar endlosen Kampf für Menschenrechte. Als 1974 der „Verband koreanischer Schriftsteller für die Verwirklichung der Freiheit“ gegründet wurde, ernannte man ihn zum ersten Generalsekretär. Häufig wurde er verhaftet und verbrachte längere Zeit im Gefängnis. Trotz des schwierigen Lebens und seiner vielen Aktivitäten als eine Hauptfigur in der koreanischen Demokratiebewegung blieb er weiter schriftstellerisch tätig und veröffentlichte die Gedichtsammlungen Munui Maul-e gaseo („Auf dem Weg zum Dorf Munui“, 1974), Ibsan („In die Berge zurückgezogen“, 1977), Saebyuk-kil („Aufbruch am frühen Morgen“, 1978), Choguk-ui Byol („Die Sterne über dem Land der Väter“, 1984), sowie Übersetzungen aus dem Chinesischen, Biographien von berühmten Dichtern und Essays.
1979 wurde Präsident Park Chung-hee von seinem eigenen Geheimdienstchef ermordet. Nach dem Tod des Diktators ertönte im ganzen Land der Ruf nach Demokratie und selbst ein Teil des Militärs schien diesem Ruf wohlwollend gegenüberzustehen. Doch eine der finstersten Gestalten in der Geschichte Südkoreas, General Chun Doo-whan, vereitelte durch einen blutigen Militärputsch die Demokratisierung des Landes. Die gesamte Opposition wurde verhaftet und in der Provinzstadt Kwangju fanden im Mai 1980 hunderte von Menschen bei einem Massaker des Militärs den Tod. Ko Un kam ins Gefängnis und wurde zum Tode verurteilt. Erst nach Monaten wurde er begnadigt und schließlich mit der Auflage eines Hausarrestes freigelassen.
1983 heiratete der 50jährige Ko Un Lee Sang-Hwa, eine Professorin für englische Literatur. Mit ihr begann er ein neues Leben auf dem Lande in Ansong, ungefähr anderthalb Stunden Autofahrt von Seoul entfernt. Ein Jahr später wurde seine Tochter geboren – der ehemalige Mönch war nun Vater. Nach seinem Umzug nach Ansong begann für Ko Un eine kreative Schaffensphase, so dass in den 80er Jahren eine Vielzahl von neuen Gedichtbänden erscheinen konnten, wie Junwon Sipyun („Idyllische Psalmen“, 1986), „Siyeo naragara („Himmelan steige die Poesie“, 1986), Ne Nundongza („Deine Augen“, 1989), Achim Isl („Morgentau, 1990), Nunmur-ul uyhayeo („Für deine Tränen“, 1991), Haekumkang“ („Haekumkang“, 1991), die 9 Bände von Maninbo („Zehntausend Leben“ ab 1986 ff.) und die ersten zwei Bücher des Epos Paektu-san („Der Berg Paektu“, ab 1991 ff.).
Ko Un gehört zu den bedeutendsten Dichtern Koreas des zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist ein Meister in einer Vielzahl von poetischen Ausdrucksweisen. Als einer der Höhepunkte seines Schaffens kann man das Dichten lyrischer Großformen (Maninbo, Paektu-san) ansehen. Sein Werk kann in unterschiedliche Schaffensperioden eingeteilt werden, die durch extreme innere Umbrüche wie auch äußere Schicksalsschläge geprägt sind. Die frühen Veröffentlichungen stehen zunächst deutlich unter dem Einfluss der buddhistischen Welt. Ko Uns versinnbildlichte Naturempfindungen bilden das wesentliche Charakteristikum der in dieser Zeit erschienenen Gedichte. Parallel dazu und vor allem nach dem Verlassen der buddhistischen Mönchsgemeinschaft, entsteht eine Lyrik, die durch eine hohe ästhetische Sensibilität gekennzeichnet ist und die sinnlose und vergängliche Natur des Lebens beschreibt. Dazu zählen seine Gedichtsammlungen wie Pian Gamsung („Jenseits der Gefühle“), Haebyun-ui Unmunzib („Gedichte am Meeresstrand“) und Sin Eoneo-ui Maul („Das Dorf der neuen Sprache“, 1967).
Seit Mitte der 70er Jahre sind die Gedichte von Ko Un geprägt von einer historischen Sichtweise, so in der Sammlung Munui Maul-e gaseo („Auf dem Weg zum Dorf Munui“), während die Bände, die in den späten 70er Jahren publiziert wurden, einen stark militanten und sehr politischen Ton aufweisen. Hierzu zählen Gedichtsammlungen wie Ibsan („In die Berge zurückgezogen“) und Saebyuk-kil („Aufbruch am frühen Morgen“).
Nach der Entlassung aus dem Gefängnis und dem Umzug mit seiner Familie nach Ansong tritt eine radikale Veränderung in seinem Werk auf, die in den Junwon Sipyun („Idyllische Psalmen“) und besonders in Choguk-ui Byol („Die Sterne über dem Land der Väter“) aus der Mitte der 80er Jahre sichtbar wird. Ihnen liegen die Erfahrung mit dem Kwangju-Aufstand im Mai 1980 zugrunde, bei dem der Dichter ins Gefängnis kam und mit dem Tod konfrontiert wurde. Tagtäglich musste Ko Un, gefangen in einem Sondertrakt des Militärgefängnisses, seine Hinrichtung befürchten. In dieser Lage spürte der Dichter die Zerbrechlichkeit des Lebens: Wie viele Jahre, wie viele große Anstrengungen und welch intensiver Fürsorge bedurfte es, damit sich ein Leben überhaupt entwickeln konnte und wie leicht konnte doch dieses Leben zerstört und ausgelöscht werden!
Die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins hatte das Bewusstsein Ko Uns von jeher begleitet und trieb den Dichter zu den beiden Selbsttötungsversuchen. Doch gerade dieses nihilistische Bewusstsein war für den Dichter auch der lebendigste Impuls in seiner früheren Schöpfungsphase. In den späteren Phasen war er zunächst noch von dem Gedanken der Flüchtigkeit des Lebens überzeugt. Die Erfahrung in der Todeszelle allerdings führte zu einem Wertewandel in seiner Lebensphilosophie. Im Angesicht des nahenden Todes erkannte der Dichter den eigentlichen Wert des menschlichen Daseins und distanzierte sich mit dieser Lebensbejahung nun von der frühen nihilistischen Verzweiflung an dem Sinn des Lebens.
Vor diesem Hintergrund ist Ko Uns Bemühen leichter zu verstehen, wenn er in dem noch nicht abgeschlossenen Zyklus Maninbo („Zehntausend Leben“) viele verschiedene, wertvolle Schicksale erhalten will – egal wie beeindruckend, edel, bewegt, oder auch beschwerlich, ermüdend, gewöhnlich oder bösartig sie sein mögen. Er möchte sie davor bewahren, im Nichts zu versinken. In seinen Gedichten beabsichtigt Ko Un, die Personen, denen er in seinem Leben begegnet ist, darzustellen und ihr Wesen dichterisch sichtbar zu machen. Uns begegnet eine Vielzahl von Charakteren und Begebenheiten, die den Leser mit dem alltäglichen Leben des koreanischen Volkes bis hin zur jüngsten Vergangenheit konfrontiert. Dabei sind die historischen Ereignisse und beschriebenen Charaktere weitaus mehr als eine bloß literarische Vorlage.
Maninbo liefert einmal mehr den Beweis für das künstlerische Potential, das in der Sprache der einfachen Leute zu finden ist, einer Sprache, die bisher von der koreanischen Literatur weitgehend vernachlässigt wurde. Zwar ist die Verwendung der Sprache der einfachen Leute nicht völlig neu, da sich viele Dichter in der zeitgenössischen koreanischen Lyrik um die Verwendung der Umgangssprache in der Literatur bemühen. Auch die Beschreibung der alltäglichen Arbeitswelt und ihrer Sprache ist heute in die koreanische Literatur eingeflossen. Aber gerade Ko Un gelingt es in Maninbo (Bände 1-15) auf besondere Weise die Alltagssprache als eigenständiges literarisches Mittel zu verwenden.
In den letzten Jahren sind von Ko Un die Gedichtsammlungen Zaha-rul neomoseo („Über das Ich hinaus“, 1997), Soksagim („Lispeln“, 1998), Nam-goa Buk („Nord und Süd“, 2000) und Sungan-ui Kott („Blumen des Augenblicks“, 2001) erschienen.
Der vorliegende Band ist die zweite Veröffentlichung Ko Uns in deutscher Sprache.
Für ihre Unterstützung dieses Übersetzungsprojektes danken die Übersetzer Herrn Prof. Franz Weniger, Wien und Herrn Prof. Dr. Pee Jong-Ho in Seoul.

Lim Jong-Dae, Nachwort

 

Ein Tag voller Wind

macht erstmals die aktuellen Gedichte eines der bedeutendsten koreanischen Lyriker deutschen Lesern zugänglich. KO Uns Gedichte sind voller Leichtigkeit und Leidenschaft und bergen gleichzeitig eine große Tiefe. Sie sind nicht nur die Vision einer Wiedervereinigung Nord- und Südkoreas, sondern auch ein Appell an die jungen Dichter sie zu verwirklichen: Ja, hör mir zu! Unsere Gespräche müssen sich nun häufiger mit einem anderen Land und den Nöten dieses anderen Landes beschäftigen. Warum sind wir nur so in uns selbst eingeschlossen!

Pendragon Verlag, Ankündigung

 

Ko Un – Ein Tag voller Wind

Die klassische Moderne, wie sie alle westlich orientierten Kulturen durchgemacht haben, hat – was die Lyrik betrifft – Hugo Friedrich in seinem immer noch gültigen Klassiker Die Struktur der modernen Lyrik beschrieben. Unsere Lektüregewohnheiten sind an dieser klassischen Moderne orientiert, und wenn ein Dichter seine lebenden oder toten Kollegen nicht rezipiert hat, schreibt er selbst meist Gedichte, die wir im besten Falle nicht lesen wollen.
Was aber mit Dichtern fremder Kulturen, zum Beispiel koreanischen? Seltsam unmodern wirken manche Texte von Ko Un, einem der bedeutendsten lebenden Lyriker aus Südkorea. So beschreibt er etwa eine Insel als „ein leerer Leib, der schon nicht mehr besitzt, / was er ersehnt“, er notiert über einen Baum: „Ist er nicht Leben und Tod / dieses Landes?“ – ein Vergleich, der im europäischen Sprachraum allzu verbraucht wäre. Konventionell erscheint vieles, was Ko Un schreibt, zumal oft nah an der Prosa. Doch wissen wir, die wir das Koreanische nicht beherrschen, wie formbewusst der Autor ist, wieviel von Rhythmus, Vieldeutigkeiten einzelner Begriffe, Anspielungen und Zitaten in der Übersetzung verloren gegangen sind?
Das Nachwort klärt nicht wirklich auf, denn es erzählt weitgehend die wechselvolle Biografie des Ko Uns und erläutert nur am Rande die Bedeutung seiner Texte für die koreanische Sprache. Ko Un wurde 1933 geboren, war lange Zeit buddhistischer Mönch und schrieb zunächst Naturlyrik. Später kämpfte er für die Rechte von Autoren und Intellektuellen, vor allem aber für Demokratie. Dafür mußte er Folter und Gefängnis ertragen, überwand aber auch seine Depression, die ihn in Selbstmordversuche trieb, weil er die Vergänglichkeit des Lebens nicht mehr zu ertragen verstand. Zwischen den Polen „Naturlyrik“ und „politsche Gedichte“ angesiedelt sind auch die Texte im Auswahlband des Pendragon-Verlages, zwischen Pathos und Alltagssprache variiert der Tonfall („Am Horizont meines Herzens / lasse ich Dich ruhen.“ vs. „Hallo, Ihr unsere Kunstmaler! / Warum kennt ihr diese Welt, erfasst diese Zeit nicht, / …“). Mal thematisiert der Autor einen Rausch, mal den Planeten Venus, mal die Mutter, mal die Waffenstillstandslinie.
Der Leser erfährt, dass die Gedichte aus zwei der vielen Gedichtbände Ko Uns zusammengestellt wurden. Was der Leser jedoch nicht erfährt, wann diese beiden Bände erschienen und in welchem Lebensabschnitt des Autors sie anzusiedeln sind, denn so wie es scheint, spielen biografische Erfahrungen im Werk Ko Uns eine wichtige Rolle. übrigens sind auch die Anmerkungen zu den einzelnen Gedichten mitunter wenig erhellend, bisweilen überflüssig, etwa wenn aus dem Gedicht selbst erkenntlich ist, dass „Hong-do“ ein Vorname ist und dies auch noch in einer Anmerkung notiert wird. Insgesamt also wird der deutsche Lyrik-Leser Ko Uns von den beiden Herausgebern und Kommentatoren im Stich gelassen.

Matthias Kehle, matthias-kehle.de

Kraftvolle Gedichte aus einem geteilten Land

Ko Un, einer der bedeutendsten koreanischen Lyriker, wurde 1933 in Kunsan geboren. Sein Leben war geprägt von Schicksalsschlägen, persönlichen Krisen und extremen biografischen Wandlungen, die eng verbunden sind mit der Geschichte Koreas. Einige Stationen seines Daseins: Kindheit im Bürgerkrieg; zwischen 1952 und 1962 buddhistischer Mönch; Nihilist; Alkoholprobleme; Selbsttötungsversuche; Aktivist für die Demokratiebewegung und die Menschenrechte; politisch Verfolgter; Mitgründer des koreanischen Schriftstellerverbandes; Familienvater; seit 1992 Professor für koreanische Sprache und Literatur in Seoul.
Das Sein in seiner vollkommenen Ganzheit, im konkreten Spannungsfeld zwischen erdachten wie erlebten Extremen, auf ästhetische Weise in dem aktiven Sprachschatz angehörende Worte zu fassen, ist des Dichters erkennbares Anliegen. Die Themen der für diesen Gedichtband ausgewählten Texte reichen von tief empfundener Heimatfreude, bildhaften, klangvollen, dichten Naturbeschreibungen, politischen Äußerungen – (der Wunsch nach der Wiedervereinigung Koreas ist spürbar) – über Rauschzustände und den Aufruhr der Gefühle, bis zu geradlinigen Darstellungen zwischenmenschlicher Verhältnisse wie der Menschen Umgang mit dem Geist der Schöpfung.
Ko Un unterstreicht die Bedeutung einer unversehrten (Um-)Welt, die Wertschätzung für das Leben an sich, er schreibt gegen Oberflächlichkeit und Technikhörigkeit an, nimmt eindeutige Standpunkte ein, beschönigt nichts. Einem selbstbewussten Maler gleich verleiht der Schriftsteller seinen Motiven klare Konturen, zeigt sie im unfehlbaren Licht des Unvergänglichen. Ko Uns Sprachmalkasten beinhaltet die Töne und Zwischentöne seiner Heimat, und seine in diesem Gedichtband versammelten Texte vermitteln dem Leser (keineswegs durchgehend exotische) feinfühlige Eindrücke von Korea, wobei eine latente gemäßigte Melancholie, wenn nicht gar abgeklärter Pessimismus, sämtlicher Gedichte Fundament darstellen dürfte. Ko Un appelliert eindringlich an jeden Einzelnen, sich seiner Verantwortung bewusst zu werden und dementsprechend zu leben.

Zum Abschluss das titelgebende Gedicht:

EIN TAG VOLLER WIND

Zu sterben an einem Tag voller Wind,
ist die allergrößte Auflehnung.
Den ganzen Tag über
bauschen sich Flaggen im Wind
und alle Menschen werden zu Flaggen,
die über dem ganzen Land sich bauschen.
Eben an diesem Tag muss ich sterben!
Steh auf!
Steh auf!
Gib den Mut nicht auf!
Auch Du, gestürztes Pferd. Steh auf!

Am hellsten leuchtet in dieser Welt
ein Tag voller Wind.

kre, sandammeer.at, 12/2002

Neue Lyrik aus Südkorea. Ein Radiofeature

Wenn man von der Spitze des Berges Chiri
Herabsteigt, erreicht man den Eingang zu jenem Markt,
zu dem die Guräer aus der Provinz Cholla
und die Santschunger aus Kyungsang
hinaufsteigen, um Tauschhandel miteinander zu treiben,
jenen Eingang zum Markt,
wo die Leute von ihren Dörfern erzählen…

Wie schön es doch war!
Mit all diesen Leuten bei uns,
wie schön es doch war,
unsere Dörfer, auf die wir vom Gipfel herunter blicken können…
Wie schön!

Die Biografie des südkoreanischen Dichters Ko Un beginnt eigentlich mit einem Traum: geboren und aufgewachsen in einem Dorf in der Provinz Cholla träumte er davon, aus ihm würde einmal ein Maler werden. Auf seinem täglichen Weg zur Schule im benachbarten Dorf schwelgte die Phantasie des Kindes in den Bildern der Landschaft und der wechselnden Jahreszeiten. Bis es auf diesem Weg eines Tages von einem grellen Licht geblendet wurde. Er ging näher. Und im Zentrum dieses grellen Lichts entdeckte er zu seinen Füßen ein Buch. Es war ein Buch mit den Gedichten des damals in ganz Korea gefeierten aber schwer an Lepra erkrankten Dichters Han Ha-Un. Und da verstand Ko Un: aus ihm soll einmal ein Dichter werden.
Doch bevor es dazu kommt, fallen am 25. Juni 1950 nordkoreanische Truppen in Südkorea ein. Drei Tage später erobern sie Seoul und können die südkoreanische Armee bis auf das Gebiet um die weit im Süden liegende Hafenstadt Pusan zurück drängen. Die inzwischen in Inchon gelandeten Amerikaner schlagen den Angriff zurück. Die Nordkoreaner müssen sich bis an die Grenzen Chinas zurück ziehen. Im November schlagen sie mit Hilfe hunderttausender chinesischer Freiwilliger zurück. Wieder verlagert sich die Front nach Süden. Und auch das Dorf, in dem der damals 17-jährige Ko Un lebt, wird zum Schauplatz tragischer und Auseinandersetzungen und Kämpfe.

Als der Krieg begann und die nordkoreanischen Truppen in unser Dorf kamen, zerfiel die Dorfgemeinschaft in zwei Lager. Und alle ,Linken‘ fielen über alle vermeintlich ,Nicht-Linken‘ her. Sie waren davon beseelt, möglichst viele ihrer ,Feinde‘ zu töten. Ich war noch sehr jung – siebzehn. Mit siebzehn fühlt man sich in der Welt noch aufgehoben wie ein Kind. Und von einem Tag zum anderen gab es um mich herum nur noch Tote. Tagelang lagen die Leichen im Dorf, ohne daß sie bestattet wurden. Der Geruch lag wie eine Wolke über dem Dorf. Und egal wie oft ich mich wusch: ich konnte diesen Geruch nicht von meinem Körper los werden. Er hing an mir wie eine zweite Haut. Und darüber bin ich verrückt geworden.

Ko Un flieht und findet Zuflucht in einem buddhistischen Kloster in den Bergen. Traumatisiert von den Erlebnissen in seinem Dorf, kann er in der streng und klar umrissenen Welt des Klosters genesen. Er wird Mönch, später Prior eines Tempels und später berufen als Sekretär in die nationale Vereinigung der buddhistischen Mönche.
Doch am 19. April 1960 wird Südkorea ein weiteres Mal von schweren Unruhen erschüttert: Hunderttausende Studenten und Arbeiter gehen im ganzen Land auf die Straße, um gegen das brutale Regime des von den Amerikanern nach dem Waffenstillstand von 1953 ins Amt gehievten Präsidenten Syngman-Rhe zu protestieren. Es geht um elementare Grundrechte wie die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Und um die Unabhängigkeit von den Amerikanern. Auf den Straßen stehen sich die zu allem entschlossene Jugend eines Landes und deren bis an die Zähne bewaffnete Armee gegenüber. Ko Un beschließt, das Kloster zu verlassen. Er will unter den Menschen leben – und ein Dichter werden.

EIN TAG VOLLER WIND

Zu sterben an einem Tag voller Wind,
ist die allergrößte Auflehnung. Den ganzen Tag über
Bauschen sich Flaggen im Wind
Und alle Menschen werden zu Flaggen,
die über dem ganzen Land sich bauschen.
Eben an diesem Tag muss ich sterben! Steh auf!
Steh auf!
Gib den Mut nicht auf!
Auch Du, gestürztes Pferd. Steh auf!
Am hellsten leuchtet in dieser Welt
Ein Tag voller Wind

Ingo Colbow, Deutschlandfunk, 17.1.2003

Das Land, die Existenz, die Lehre

− Gedichte koreanischer Autoren. −

So übertrieben es wäre, Korea als Land der Lyrik zu bezeichnen – die Lyrik hat dort noch einen gesicherten Status im literarischen Leben und eine breitere Leserschaft als in Deutschland. Schon deshalb ist Kenntnis koreanischer Lyrik für eine Kenntnis der koreanischen Literatur überhaupt erforderlich.
Gleichzeitig ist Lyrik schwieriger zu übertragen als andere Gattungen. Wo beim Drama, beim Roman und bei der Erzählung Handlung und Charaktere eine Übereinstimmung von Original und Übersetzung gewährleisten, besteht Lyrik zu einem größeren Teil aus jener Arbeit an der Sprache, die in einer anderen Sprache nur annährungsweise zu erfassen ist; hinzukommt, dass koreanische Gedichte kaum je von europäischer Metrik geprägt sind. Die Schwierigkeit adäquater Vermittlung stellt sich zudem stofflich gerade bei älteren Autoren, deren Jugend noch ländlich, vor der späten und rapiden Verstädterung des koreanischen Südens, bestimmt war. Drei von ihnen sind hier mit eigenen Gedichtbänden vorgestellt.
Am bekanntesten in Südkorea ist Ko Un, geboren 1933. Sein Leben ist wechselvoll. Als junger Mann mit den Schrecken des Korea-Krieges konfrontiert, wurde er 1952 buddhistischer Mönch. Ein Jahrzehnt später wandte er sich, nach raschem Aufstieg in der Klosterhierarchie und einem ersten Gedichtband, von der Religion ab, arbeitete fast ohne Bezahlung als Lehrer auf einer abgelegenen Insel und lebte dann in der Hauptstadt Seoul. Die krisenhafte Konfrontation mit der Großstadt führte 1970 zu einem zweiten Suizidversuch – nachdem er bereits im Krieg versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Wenig später änderte Ko seine Poetik erneut radikal, setzte sich 1973 vom Nihilismus des vorangegangenen Jahrzehnts ab und wurde zum politisch gegen die Militärdiktatur Park Chung-Hees engagierten Autor. Diese Entscheidung führte zu Inhaftierung und Folter und nach dem Militärputsch des Generals Chun Doo-Hwan zu einem Todesurteil, das erst nach vielen Monaten des Bangens aufgehoben wurde. Seit 1983 lebt Ko auf dem Land, etwa 60 Kilometer südlich von Seoul, und schreibt äußerst produktiv. Neben zahlreichen Einzelbänden entstehen die zyklischen Dichtungen „Zehntausend Leben“ (9 Bände) und, noch unvollendet, „Der Berg Peaktu“ (seit 1991).
Freilich weckt ein solcher Ausstoß auch Skepsis. Wer pro Jahr mindestens einen Gedichtband auf den Markt wirft, hält nur schwer ein hohes Niveau; übrigens ein Problem südkoreanischer Literatur überhaupt. „Er hat in fünfzehn Jahren zehn Romane, sieben Novellen und drei Essays geschrieben. […] Das bedeutet, daß er nicht sehr viel veröffentlicht hat“, heißt es über einen fiktiven Schriftsteller in Lee Sung-Us Roman „Die Rückseite des Lebens“. In Deutschland wäre jener Park Bugil zu Recht als Vielschreiber verrufen. Wenn Ko Un in seinen neueren Werken, wie das Nachwort zum vorliegenden Band Ein Tag voller Wind verrät, sich der Sprache der „einfachen Leute“ zuwendet, kann dies gerade zum Vorwand für oberflächliche Durcharbeitung werden.
Die Zusammenstellung, eine Auswahl aus zwei Lyrikbänden von 1992 und 1994 bestätigt den Verdacht nicht. Meist führt Ko seine Motive konsequent durch, statt unter dem Vorwand, dem Volk aufs Maul zu schauen, beliebig zu schwätzen. Freilich sind jene Motive selbst solche einer ländlichen Vergangenheit. Ko schreibt eine Naturlyrik wie kein deutscher Autor, der in den Kanon will, es seit sechzig Jahren wagen würde. Mond- und Sternenlicht, Schilfrohr und Gerstenfeld erscheinen ohne jedwede Ironisierung. Kos lyrisches Ich ist auch da, wo es sich selbst zu vergewissern sucht, ungebrochen. Im besten Fall – wo Ko Naturnähe mit der Betrachtung von Vergänglichkeit zu koppeln weiß – vermag das noch einmal anzurühren. Doch führt ein Weg in diese Welt zurück? Von Paris und Manhattan, die wohl als Metropolen für das 19. und des 20. Jahrhunderts stehen, will Ko jedenfalls nur die Abwasserkanäle beachtet sehen; in Seoul könne man sogar „das Ende der Menschheit besichtigen“.
Das scheint ein wenig übertrieben; und die Moderne überwindet man nicht durch Ablehnung, sondern indem man sie durcharbeitet. Ko dagegen lobt eine Welt, die ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung der Originale schon vergangen wirkt. Nur so kann man heute die Sammlung lesen: als Denkmal für etwas, das nicht mehr ist. Und aus dem Verlorenen schöpft Ko das Beste: keine starre konfuzianistische Ethik, sondern eine am individuellen Bedürfnis orientierte Lebenslust und eine Auflehnung noch im Tod, wie sie das Titelgedicht formuliert:

Zu sterben an einem Tag voller Wind
ist die allergrößte Auflehnung.
[…] Am hellsten leuchtet in dieser Welt
ein Tag voller Wind.

[…]

Kai Köhler, literaturkritik.de, September 2004

 

KO UN LESEN

Seit einigen Tagen lese ich Ko Un.
Ich bin noch lange nicht zu Ende damit.
Vielleicht wenn es wieder zu schneien beginnt vielleicht.

Ich empfehle Im Birkenwald um unser Zeitalter zur Aufrichtigkeit zu ermutigen
oder Die Mahlzeit am Feld unter Einbeziehung des gestillten Hungers
oder Das Lied vom Begreifen, daß ihr es endlich begreift.

81 Seiten zum Preis von DM 40,–
Und der Wunsch neu geboren zu werden.

Elisabeth Borchers

 

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Andreas Platthaus: Ständiger Kandidat für den Nobelpreis
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.8.2023

Fakten und Vermutungen zum Autor + Internet Archive
Porträtgalerie: Galerie Foto Gezett + Dirk Skiba Autorenporträts +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Ko Un (mit Richard Silberg) liest beim Dodge Poetry Festival 2006.

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