Kurt Klinger: Zu Franz Werfels Gedicht „Traumstadt eines Emigranten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Franz Werfels Gedicht „Traumstadt eines Emigranten“ aus Franz Werfel: Das lyrische Werk. –

 

 

 

 

FRANZ WERFEL

Traumstadt eines Emigranten

Ja, ich bin recht, es ist die alte Gasse.
Hier wohn ich dreißig Jahr ohn Unterlaß…
Bin ich hier recht?? Mich treibt ein Irgendwas,
Das mich nicht losläßt, mit der Menschenmasse.

Da, eine Sperre starrt… Eh ich mich fasse,
Packt’s meine Arme: „Bitte, Ihren Paß!“
Mein Paß? Wo ist mein Paß!? Von Hohn und Haß
Bin ich umzingelt, wanke und erblasse…

Kann soviel Angst ein Menschenmut ertragen?
Stahlruten pfeifen, die mich werden schlagen,
Ich fühl noch, daß ich in die Kniee brach…

Und während Unsichtbare mich bespeien:
„Ich hab ja nichts getan“, – hör ich mich schreien,
„Als daß ich eure, meine Sprache sprach.“

 

Heil geblieben und verletzt

Im Frühseptember 1939, Frankreich war eben in den Krieg eingetreten, wurde Franz Werfel auf dem Marktplatz seines Exilorts Sanary-sur-mer von einem Kriminalbeamten angehalten, durchsucht, als Kommunist beschimpft. „Viele schmutzige Hände hatten an ihm herumgetastet“, notierte Alma Mahler-Werfel; unter dem Hohn der Passanten wurde dem verdächtigen Ausländer die Jacke vom Leib gerissen. „Bleich wie der Tod und krank vor Wut“ sei Werfel nach Hause gekommen. Kurz darauf die Vorladung ins Polizeipräsidium von La Seyne. Das Verhör, die umständliche Kontrolle seiner Papiere, das Blättern in Fahndungslisten entsetzten Werfel derart, daß er „halb ohnmächtig“ aus dem Gebäude geführt werden mußte. Ein Albtraum, den er schon ein Jahr zuvor im Gedicht „Traumstadt eines Emigranten“ aufgezeichnet hatte, schien Gestalt angenommen zu haben – nicht mit jedem Detail, nicht (oder noch nicht?) mit lebensgefährlichen Konsequenzen, aber im Prinzip. Und nicht Nazis, hysterisierte Rassisten hatten ihm das angetan, sondern Menschen, die ihn scheinbar längst als Dauergast akzeptiert hatten, und „Ordnungshüter“ eines demokratischen Staates, in dem er sich vor der „Hitler-Bande“ sicher glaubte. Das in Berlin gezündete Lauffeuer des Völkerhasses breitete sich aus.
Im Gedicht träumt sich ein Vertriebener in seine Heimatstadt zurück. Sie ist nicht genau erkennbar – „Ja, ich bin recht…“, „Bin ich hier recht?“ Schon ist die Freude des Wiedererkennens besorgt, irritiert, doch nicht wachsam genug. Eine Menschenmasse ist in Bewegung, etwas treibt sie, ein „Irgendwas“, das ihr nur dumpf bewußt ist, etwas schicksalhaft Motorisches, eine Kraft, die zur Explosion drängt. Jeder will dazugehören, niemand kann sich entziehen, auch den geisterhaften Besucher treibt es mit. Doch statt in der Masse aufzugehen oder wenigstens in ihr unsichtbar zu bleiben, wird er als Fremder, der nicht dazugehört, als Störfaktor in dieser von sich selbst berauschten „Volksgemeinschaft“ immer sichtbarer.
Und dann bricht es über ihn herein. Er steht vor der Barriere, die ihn aussperrt, aussondert und die Jagd auf ihn auslöst. Er findet den Paß nicht, den man ihm abfordert, weil er schon fühlt, daß er verurteilt ist. Kein Dokument könnte ihn schützen, im Gegenteil: es würde ihn endgültig überführen. Vielleicht bietet die Anonymität noch eine Rettungsmöglichkeit? Auch sie nicht. Der Ring der Verfolger schließt sich, man schlägt auf ihn ein, er bricht unter Stahlruten zusammen, aber nicht nur unter der Gewalt der Schläge, auch unter dem Übermaß seiner Angst. Das erlegte Opfer wird fanatisch bespuckt, und das verzweifelte Argument, dieselbe Sprache zu sprechen könne doch keine Schuld sein, wird keiner Antwort gewürdigt – oder er hört sie nicht mehr, weil er bereits zu Tode getrampelt worden ist.
Wie sollte auch die Berufung auf das Wohnrecht in der Sprache, die Berufung auf die mitgeschaffene Kultur, bei Wahnsinnigen Gehör finden, die auf dem Marsch zur Zertrümmerung der Welt der Sprache gar nicht mehr mächtig waren, die ihre eigene Sprache zu fürchten hatten und sie niederbrüllen mußten, um von ihr nicht angeklagt und als Verbrecher bloßgestellt zu werden. Deshalb wird mit „Hohn und Haß“ mundtot gemacht, wer Sprache besitzt und sie als Instrument der Wahrheit zu gebrauchen versteht.
Werfel, den ein glücklicher Zufall davor bewahrt hatte, 1938 im aufgeputschten Wien in die Fänge der Gestapo zu geraten (er war nach Campanien und Capri gereist), spricht in seinem Gedicht so betroffen und einbezogen mit der Glaubwürdigkeit einer totalen Identifizierung, daß man meinen möchte, es gäbe tatsächlich so etwas wie poetische Bilokation. Die Dichter befinden sich eben nicht nur dort, wo sie gerade wohnen, Gespräche führen, essen, trinken, schreiben – sie befinden sich auch dort, wo Phantasie, Mitgefühl, psychische Konzentration sie hinversetzen, auch dort, wo das Gewissen sie hinbefiehlt. Man kann zu den Verschonten und zu den Aufgegriffenen gehören, zu den Heilgebliebenen und zu den Verletzten, man kann nicht nur, wie oft behauptet wird, in Ketten frei sein, man kann auch in Freiheit in Ketten liegen und sich kraft unauflöslicher Zugehörigkeit in der Mitte derer befinden, die den ungetrösteten Weg in die Auslöschung gehen mußten. Wer sich lesend in die „Traumstadt“ begibt, wird in solche doppelte Anwesenheit eingeführt und eingewiesen. Er wird den Feind, der gemeint ist, in jeder historischen und aktuellen Verkleidung erkennen und wissen, wessen der fähig ist.

Kurt Klingeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991

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