Lina Atfah: Das Buch von der fehlenden Ankunft

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Lina Atfah: Das Buch von der fehlenden Ankunft

Atfah-Das Buch von der fehlenden Ankunft

DAS NAVI

„Nach zweihundert Metern biegen Sie rechts ab“
„nach fünfzig Metern biegen Sie rechts ab“
„bleiben Sie rechts“
„fahren Sie geradeaus bis Gerichtsstraße“
zu meinem neuen Leben leitet mich das Navi
es faltet mein Gedächtnis
alles wird zu einer Roboterstimme
die mich in Richtungen führt, die ich nicht kenne
das Navi geht mit mir nach oben
bis zur vierten Etage
es zeigt meinen Füßen die abwechselnde Bewegung des Aufstiegs
sagt mir, auf welcher Seite die Tür ist
„biegen Sie links ab“
hier ist die Küche
„biegen Sie rechts ab“
hier ist das Schlafzimmer
„geradeaus bleiben“
hier ist das Wohnzimmer
und ein Fenster mit einem Blick auf Metall
„Sie haben Ihr Ziel erreicht“

Übersetzung: Osman Yousufi & Hellmuth Opitz

 

 

 

Vorwort

Ich hatte gleich zu Beginn meiner Korrespondenz mit Lina das Gefühl, sie zu kennen. Ich maße mir nicht an, dass dieses Gefühl einigen Parallelen in unseren Biografien geschuldet ist. Dass wir beide Kinder der Achtziger sind, dass wir beide weggegangen sind aus dem Land unserer Kindheit, dass wir beide in der Literatur eine Heimat gefunden haben, dass wir beide unsere Sprachen wechseln, sie neu finden müssen, dass wir beide mit diesem etwas geheimnisvoll-nervigen Stempel „exotisch“ umgehen müssen, um jenseits der Klischees unsere Geschichten erzählen zu können, dass Deutschland uns zu einem zweiten, oder besser gesagt, zu einem anderen Zuhause geworden ist. Genauso wenig mag ich irgendwelche Parallelen in den Geschichten unserer Herkunftsländer suchen, die beide einen Reigen aus Krieg und Gewalt getanzt haben oder noch tanzen.

Es wäre falsch zu behaupten unsere Erfahrungen oder Erinnerungen wären ähnlich oder gar gleich, denn das wäre leicht zu widerlegen, würden wir Nachforschungen anstellen und die Fotoalben in unseren Köpfen durchblättern. Ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll ist, irgendwelche Überschneidungen des Leids zu suchen, denn das Land, aus dem ich komme, lebt heute – trotz der von Russland okkupierten Territorien – in Frieden. Das Land, aus dem Lina kommt, ist mittlerweile zum Sinnbild einer modernen Menschheitstragödie und allem voran des menschlichen Versagens geworden. Ich finde es falsch, eine künstliche Nähe zu behaupten, um eine plausible Erklärung dafür zu finden, was mich zu Lina oder viel mehr zu ihren Gedichten gebracht und in deren schaurig-schönen Bann gezogen hat.
Denn simpel gesagt verdanke ich Linas Entdeckung Annika Reich, einer Kollegin von mir, die unsere vorerst virtuelle Bekanntschaft ermöglicht hat. Sie fragte mich für „Weiter Schreiben“ an, ein wunderbares Projekt, das sie mit initiiert hatte und das es Autoren und Autorinnen aus Krisengebieten ermöglichen sollte, mit den Kollegen aus Deutschland in Verbindung zu treten bzw. ein Netzwerk aufzubauen. Lina und ich wurden einander zugewiesen, ohne viel voneinander zu wissen. Wir begannen mit dem Austausch von E-Mails. Ich hatte mir keine großen Gedanken darüber gemacht was daraus entstehen sollte oder könnte. Ich weiß noch, dass ich mich etwas unsicher gefühlt habe. Was könnte ich Lina anbieten, wie könnte ich ihr helfen, im literarischen Deutschland besser anzukommen? Ich wusste, dass sie seit einigen Jahren in Deutschland lebte, die Sprache lernte und Lyrik schrieb – die in ihrer Heimat nicht veröffentlicht werden durfte und die in Deutschland noch kein richtiges Zuhause gefunden hatte.

Ich bin mit Lyrik großgeworden. Hauptsächlich mit Russischer, Georgischer und Deutscher. Meine Großmutter konnte seitenweise Achmatowa und Jessenin rezitieren und stets glühten ihre Augen dabei, immerzu betonte sie die Schönheit der Sprache und wies mich auf die Feinheiten einzelner Wortkombinationen hin. Sie war in den 1930ern geboren, zur Zeit der Stalinistischen Repressionen, und wie jeder Sowjetmensch, war auch für sie die Lyrik eine Art Urgewalt, eine mächtige Waffe gegen das System, eine codierte, geheime Sprache, in der sich Millionen in einer Diktatur lebende Menschen verstehen und austauschen konnten. Man sprach gar vom poetischen Widerstand und von der „zweiten Kultur“.
Ich konnte diese Begeisterung, diese Aufruhr, mit der sie mir die Verse vortrug, nur bedingt nachvollziehen – die Zensur hatte in den 1980ern natürlich nachgelassen, auch war ich zu jung, um das ganze Ausmaß an politischer Dimension, die sich in diesen Zeilen verbargen, nachvollziehen zu können, aber mit der Zeit, als ich mich schon Jahre später auf die Spuren des russischen Symbolismus begab, begriff ich, was sie so entflammen ließ – es war die Möglichkeit das Unsagbare, das Verbotene, das Unterdrückte, das Schmerzliche einer ganzen Nation und somit auch eines jeden Einzelnen in Worte zu fassen. Vom Fabrikarbeiter bis hin zum Arzt – sie alle waren vereint in einem System aus Angst und Unterdrückung und sie alle waren auf eine Art gleich wortlos. Sicherlich besaßen manche mehr und manche weniger Privilegien, aber allen wurden die Flügel gleichermaßen beschnitten, alle waren gleichermaßen Gefangene in ihrem eigenen Land. Und einzelne Menschen, in dem Fall die Dichter, die ihre Zeilen nicht selten mit unsagbarem Leid oder gar mit dem Tod bezahlten, sprachen für all diese Sprachlosen. Sie fanden Worte dafür, wofür die anderen keine hatten. Sie fanden Umschreibungen und Übersetzungen für all die Gefühle, die die Menschen in diesem riesigen Reich in sich trugen und doch niemals offen zeigen durften.

Als ich Linas erstes Gedicht las, musste ich merkwürdigerweise an meine Großmutter und ihre glühenden Augen denken, wie sie die Zeilen verschiedener Dichter vortrug, als wolle sie mir mit ihrem Blick noch so viel mehr verraten als die Worte, die sie aufsagte, als verberge sich hinter ihnen noch ein viel tiefer gehender Sinn und ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher Boden. Ich konnte diese Böden nicht alle erfassen, aber ich ahnte, ich spürte sie. Trotz der Gegenwärtigkeit dieses Anblicks, den ich sofort vor Augen habe, wenn ich an meine Großmutter denke, erschien mir dieses Glühen, dieses Geheimnis, das sie mit so vielen aus ihrer Generation teilte und das mir nie ganz zugänglich war, als etwas sehr weit Zurückliegendes, wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche. Denn für mich, als eine in den letzten Atemzügen der Sowjetunion Geborene, war diese Art von Zensur und Angst nicht wirklich greifbar und vorstellbar. Als ich meine ersten literarischen Schritte unternahm, lebte ich zwar in einem bürgerkriegszerrütteten Land, in dem das tägliche Überleben einem Kreuzzug durch den Dschungel glich, aber dennoch war es bereits ein freies Land und niemand interessierte sich dafür, was ich da aufs Papier brachte. Die Menschen hatten damals ganz andere Sorgen. Später, nach meinem Umzug nach Deutschland und nach dem Wechsel der Sprache, war ich umso freier, als hätte mir die erlernte deutsche Sprache eine Distanz ermöglicht, die ich benötigte, um bestimmte Dinge aufs Papier zu bringen, die ich vielleicht in meiner Muttersprache nicht zu schreiben vermocht hätte. So oder so war für mich das Schreiben zwar immer eine Art Grenzüberschreitung, ein Zustand, als würde man durch ein Mikroskop auf das Leben schauen, aber es war niemals etwas, das ich mir erkämpfen musste, es war niemals etwas, was mich auch nur ansatzweise in so etwas wie Lebensgefahr brachte, niemals etwas, was einer Art codierter Geheimsprache glich – wie im Falle der Generation meiner Großeltern.

Lina aber, die 1989 in der syrischen Stadt Salamiyah zur Welt kam und im Kreis einer großen Familie aufwuchs, schreibt seit ihrer Kindheit Gedichte. Sie nahm an vielen Lesungen und verschiedenen literarischen Veranstaltungen teil, bis sie, damals 17-jährig, ein Gedicht vortrug, das sie wegen seines politischen und sozialen Inhalts mit dem Regime in Konflikt brachte. Sie wurde der Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldige. Und das war nicht 1937, sondern 2006. Den Lyrikband Am Rande der Rettung, den sie danach veröffentlichte, konnte sie nur außerhalb von Syrien verlegen. 2013 musste ihr Mann Syrien verlassen, während Lina ein Jahr in der Ungewissheit und unter dem ständig wachsenden Druck des Staates lebte. Sie wurde immer wieder zu verschiedenen Befragungen und Untersuchungen in Damaskus vorgeladen – „ich überlebte, aber mein Herz blieb dort“, schrieb sie mir.
2014 gelang auch ihr die Ausreise. Als ein neuer Osman und als eine neue Lina seien sie sich nach diesem Jahr der Trennung in Deutschland wiederbegegnet.

Die Erfahrung aus der Heimat fliehen zu müssen ist, so denke ich, in jeder menschlichen Biografie ein harter Schnitt, eine Zäsur, ein Teilen in Davor und Danach, aber für einen Autor ist es eine doppelte Entwurzelung, ein Verlust der Sprache und somit ein Sprung in die Unerträglichkeit des Ungewissen. Bei Lina hat es acht Jahre gedauert, bis sie in Deutschland, ihrer Wahlheimat, ihre Sprache wiederfand. Erst 2015 bekam sie die Möglichkeit in Köln an einer Lesung teilzunehmen. Eine Art Türöffner – denn sie erhielt daraufhin ein Angebot mit einem übersetzten Text von ihr in einer Anthologie publiziert zu werden. Ich denke, ein großer Schritt für jemanden, den Verbote, Flucht und eine fremde Sprache für acht Jahre zum Schweigen verdammt hatten. Auch schrieb sie mir, dass sie 2015 zum ersten Mal wieder eine Hoffnung hatte, als Autorin gehört und gelesen zu werden, eine Chance für sich. Sie nahm an einem Übersetzerworkshop teil, sie wurde Teil des Weiter-Schreiben-Projekts und ihre Gedichte wurden ins Deutsche übersetzt.

Kurz nachdem Lina und ich mit unserer Korrespondenz begonnen hatten, erhielt ich eine E-Mail: ihr Vater war verhaftet worden und es war ungewiss, ob und wenn ja, wann er wieder freikommen würde. Mittlerweile war Linas Familie, bis auf ihren Vater, ihr nach Deutschland gefolgt. Ohnmächtige, wütende, fassungslose E-Mails vom gesamten Weiter-Schreiben-Team wurden ausgetauscht, auch ich fühlte mich zutiefst betroffen und zugleich nutzlos. Man wollte Lina Trost spenden, ihr Hoffnung machen, aber man wusste, es waren doch nur Worte. Auf einmal war das ganze menschliche Drama des fast sieben Jahre andauernden syrischen Kriegs, den man über Fernseher- und Computerbildschirme verfolgte, von dem man in den Nachrichten las, personifiziert, auf einmal wirkte er nicht mehr so fern, sondern schien aus den Bildschirmen in unsere Realität zu kriechen. Ich fühlte mich ins Jahr 2008 zurückversetzt, als ich mich inmitten meines georgischen Urlaubs, von einem Tag auf den anderen, im Kriegsgeschehen zwischen Russland und Georgien wiederfand und wie verrückt E-Mails an Freunde schrieb – da sie durch mich auf einmal jemanden kannten, der Teil dieser Nachrichten war, mit denen sie überflutet wurden, und die, wie mittlerweile auch ich selbst, bei der Nachricht von Linas Vater, nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten.

Da habe ich begriffen, warum ich bei den Zeilen von Lina an die glühenden Augen meiner Großmutter denken musste. Ich begriff, dass diese Vergangenheit, von der ich immer annahm, dass sie zu meiner Großmutter gehört, aber nicht zu mir, niemals vergangen ist. Dass sie genauso zu meiner Gegenwart gehört wie der Glaube, ein freier Mensch zu sein. Dass diese Gegenwart, auch hier, im sicheren Deutschland, Bestand hat.

Lina ist jetzt. Lina macht das Dort zum Hier. Lina ist diejenige, die schreibt:

Sie kommen auf dem Land-, dem See- oder dem Luftweg
fliehen von Hauptstadt zu Hauptstadt,
von einer Grenze zur anderen
als seien die Landkarten Illusionen
und als sei ihr Anteil am Leben die Flucht
als ob das Land düstere Augen hätte, die im Nebel tränten…

Und ein paar Zeilen später:

Mir kam es so vor, als sei ich ein Lexikon meines Ortes
und wenn man mir sagte, oh Mädchen,
das Reden ist nicht gestattet
weinte ich um meine Sprache: Verhülle mich!

Lina ist das Glühen in den Augen meiner Großmutter. Sie findet Worte für die, die sie verloren haben. Sie sucht nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit. Sie macht für mich etwas greifbar, was in seiner ganzen Grausamkeit zur Abstraktion verkommen ist. Sie erzählt Geschichten von ihrer Welt, die zum Abschuss freigegeben worden ist. (Einmal wieder…)

Ich bin immer in Stücke zersprungen und alle meine Gedichte sind silberne Herzsplitter.

Dieser Satz stammt von meiner Lieblingsdichterin Marina Zweitajewa und auch Lina legt diese Herzsplitter bloß. Die Vergangenheit, von der ich annahm, sie wäre fort, ist niemals vergangen. Wir leben in einer Zeit, in der Nationalität wieder die stärkste Währung und die größte Identifikationsfläche wird. Wir bauen Stacheldrahtzäune auf und haben Angst vor Fremden, denn von denen heißt es unentwegt, sie seien so anders als wir. Es ist nahezu absurd, dass man sich am fremdenfeindlichsten in den Regionen zeigt, in denen die wenigsten Kulturen neben einander leben, in denen die wenigsten „Fremden“ zu Hause sind. Und je mehr Hass und Abschottung gepredigt wird, desto wichtiger ist es, zu erzählen, wer wir sind und woher wir kommen und wie viel wir doch gemeinsam haben. Desto wichtiger ist es, eine Sprache zu finden, die vielleicht nicht jedem zugänglich ist, die aber jeder mit seinen Sinnen ertasten kann, die einen genau dort erreicht, wo man niemals glaubt, entdeckt zu werden.
Diese Sprache heißt Menschlichkeit und Linas Gedichte sind in genau dieser Sprache verfasst. Sie klagen nicht an, sie werfen nichts vor, sie ersticken nicht in der eigenen Wut oder Trauer, sie erzählen einfach. Erzählen davon, wie es ihr und vielen Menschen aus ihrer Welt ergangen ist, und konfrontieren uns somit mit uns selbst und den Fragen unserer Gegenwart.

Derweil schreibt Lina:

– Wo gehe ich mit meinen Gedichten hin?
Heb ein kleines Grab in deinem Kissen aus
und schlaf, damit deine Träume wahr werden…
– Was mache ich mit der Zeit?
Brich sie auseinander wie einen Granatapfel…
– Warum sterben die Tyrannen?
Damit die Völker leben

Und verteilt weiterhin ein paar von ihren Herzsplittern.

Nino Haratischwili, Vorwort

 

Lina Atfahs Gedichte

gleichen einem traumwandlerischen Tanz auf einer Rasierklinge: Hier Verse, die in präziser Bildhaftigkeit wie Schnappschüsse ihren Fokus auf die zerrissene Heimat Syrien richten, auf Flucht, Vertreibung und Verbrechen. Dort sinnliche Gedichte, die vollgesogen sind von allerlei arabischen Mythen und Geschichten. Und über alldem: eine junge poetische Stimme, die in ihrem Anspielungsreichtum ihresgleichen sucht.

Pendragon Verlag, Klappentext, 2019

 

In Syrien sitzt der Tod mit am Tisch

– Feinkost für Schöngeister – das gilt für Lyrik schon lange nicht mehr. Im Gegenteil: Die ins Exil getriebenen syrischen Dichterinnen und Dichter führen vor, wie facettenreich sich die Erfahrung von Krieg und Gewalt gerade in dieser Kunstform fassen und transformieren lässt. Drei von ihnen stellen wir vor. –

(…)

Als farbenreichste Stimme im Terzett tritt Lina Atfah an, die schon in Deine Angst – Dein Paradies, einer 2018 erschienenen Anthologie mit Gedichten aus Syrien, auf sich aufmerksam machte. Mit wunderbarer Selbstverständlichkeit bewegt sich die 1989 geborene Lyrikerin zwischen Internetzeitalter und vorislamischer Dichtung, zwischen brutaler Kriegsrealität, geistvollen Phantasiestücken und Texten, die exquisit sinnlich Liebe und Weiblichkeit umspielen.
Die in der Anthologie erschienenen Gedichte wurden im neuen Buch integral übernommen. Fünf davon figurieren in jeweils zwei von profilierten deutschen Literaturschaffenden besorgten Nachdichtungen, die zum Teil ganz unterschiedlich ausfallen; die arabischen Originale sind ebenfalls abgedruckt.
Auch Atfah wirft Schlaglichter auf die syrische Kriegslandschaft – im Wissen, dass „das Töten die Vollendung unserer Entwicklung ist“. Anderseits zeigt die seit 2014 in Deutschland lebende Lyrikerin, wie die Geflüchteten ihrer Sprache, ihrer Identität, ihrer Kompetenzen entkleidet werden. Im Deutschkurs nimmt sie nach aussen hin artig den Beifall entgegen, wenn sie korrekt um ein Glas Wasser oder einen Tee gebeten hat; im Innersten aber weiss sie:

Ich bin hier nichts, ausser dass ich vor dem Tod gerettet wurde.

Diesem „nichts“ setzt Atfah ihre hinreissenden Frauenfiguren entgegen. Eine umwirbt in Katzengestalt König Salomo und setzt ihm mit ihren Schmutzpfötchen „ein bisschen fröhliche Erde“ aufs kühle, reine Laken. „Obst auf Stoff“ spielt virtuos mit Licht, Form und Farbe, so dass man kaum mehr weiss, was in diesem bewegten Stillleben wohin gehört. Ist das Obst real, ist es als Dessin auf den Stoff gedruckt, der den Leib der Frau umschmeichelt, oder sind die Früchte, wie die Sprecherin behauptet, allesamt nur Metaphern für sie selbst?

Ich bin ein rollender Pfirsich
ich bin ein Apfel auf der Suche nach Lust und Sünde

ich bin Trauben, wenn alle Wege zum Meer führen
schwer beladen mit Zeit, gefärbt von Abendröte
und ich bin Datteln…

Ein armes, ein abgrundtief elendes Land, das solche Dichterinnen ins Exil verbannt.

Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 31.5.2019

Das Glühen in den Augen der Großmutter

– Wie trifft man den Ton der zeitgenössischen arabischen Poesie? Lina Atfahs Gedichte in verwirrend vielen deutschen Stimmen. –

Unter den Flüchtlingen aus den Kriegen in Syrien und dem Irak sind in den letzten Jahren auch zahlreiche Autorinnen und Autoren nach Deutschland gekommen. Sie sind nicht nur ihres Lebensumfelds und ihres Publikums beraubt; viele von ihnen haben vorher auch mit der Sprache ihr Brot verdient, sei es als Journalisten, Dozenten, Lehrerinnen. Für sie bedeutet das Exil einen noch größeren Bruch als für die anderen Geflüchteten.
An genau diesem Punkt setzt das inzwischen seit einigen Jahren bestehende Projekt ein, dass die Schriftstellerin Annika Reich zur Förderung geflüchteter Autoren gegründet hat. Es trägt den passenden Titel Weiterschreiben, funktioniert jedoch anders als die herkömmliche Autorenförderung. Im Kern geht es darum, die zugewanderten Autorinnen und Autoren mit der deutschen Literaturszene zu verknüpfen. Sie bilden Tandems, fördern sich wechselseitig, machen gemeinsame Publikationen. Vor allem jüngere arabische Schreibende sind in das Projekt eingestiegen, wobei die Bedingung war, dass sie in der Heimat zumindest ein Buch publiziert hatten.
Viele von ihnen können mittlerweile auch auf Deutsch eigene Bücher vorweisen, etwa der palästinensisch-syrische Lyriker Ramy Al-Asheq, die kurdisch-syrische Dichterin Widad Nabi oder der jemenitisch-saudische Dichter Gala Alahmadi. Jetzt gehört auch die 1989 geborene Lina Atfah dazu, die mit Nino Haratischwili ein Autorinnengespann bildet. Haratischwili teilt mit Atfah die Erfahrung, in Deutschland eine zweite Heimat gefunden zu haben. Sie sieht, wie sie im Vorwort zu dem Band schreibt, in Atfahs Gedichten das „Glühen“ in den Augen ihrer georgischen Großmutter, „wie sie die Zeilen verschiedener Dichter vortrug, als wolle sie mir mit ihrem Blick noch so viel mehr verraten als die Worte, die sie aufsagte, als verberge sich hinter ihnen ein noch viel tiefer gehender Sinn und ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher Boden“.
In der vorliegenden Ausgabe unter dem Titel Das Buch von der fehlenden Ankunft haben die Gedichte von Lina Atfah tatsächlich einen „doppelten, wenn nicht gar dreifachen Boden“, allerdings ganz unmetaphorisch: Das schön gestaltete Buch ist nicht nur zweisprachig, Arabisch und Deutsch, sondern viele Gedichte sind auch doppelt übersetzt, wobei die insgesamt zwölf Übersetzerinnen und Übersetzer, darunter zahlreiche bekannte Autoren, mit arabischen Muttersprachlern zusammengearbeitet haben.
Leider wird dieses Verfahren in dem Buch nicht eigens erläutert. Das scheint umso bedauerlicher, als es zwar ein interessantes Experiment, im Gesamtergebnis jedoch fragwürdig ist. Die Autorin bekommt im Deutschen keine eigene Stimme, keinen erkennbaren Ton, so unterschiedlich fallen die Ergebnisse aus. Für diejenigen Gedichte, die gleich in zwei Übersetzungsvarianten dargeboten werden, gilt dieser Eindruck verschärft.
So kommen Christoph Peters und Julia Trompeter, beide auf der Grundlage einer Interlinearübersetzung von Mahmoud Hassanein, zwar beide zu lesenswerten Fassungen; aber es scheinen zwei verschiedene Gedichte. In der Variante von Peters heißt es am Ende des Gedichts „Im Atelier von Youssef Abdelke“:

es bedeutet nichts, dass die Spatzen neben den Fangschlingen
liegen
und auch der Tod verweist nur auf sich selbst

(…)
denn die Wahrheit ist eins und hat keine Schatten

Julia Trompeter hingegen macht aus derselben Vorlage:

Es ist keine Metapher, dass die Spatzen tot neben dem Messer der
Mörder liegen
tot sein deutet nicht hin auf Gewalt, ist nur Tod
(…)
Denn die Wahrheit ist makellos, wirft keinen Schatten.

Zwar erläutern sich die beiden Übersetzungen wechselseitig, kommen aber auch nur im Abgleich dem Original wirklich nah. Am besten hätte man sie zu einer dritten Fassung miteinander verschnitten. Dabei ist die Aussage klar: Der Tod lässt sich nicht überhöhen, und die Wahrheit ist, anders als in Platons Höhlengleichnis, immer nur das, was man konkret sieht. Das Ende der Metaphysik ist aber zugleich das Ende des Trosts. Wäre es aber nicht auch das Ende der Kunst?
Nur dann freilich, wenn man sie bloß für Kunst hält! Lina Atfahs Gedichte wollen jedoch mehr sein: Interventionen, Anrufe, Befehle, Warnungen. Die dichterische Tradition schultert die Dichterin wie eine Verkleidung, ein Kostüm. Aus ihm heraus lässt sich sprechen, wie früher die Dichter es taten; aber es bleibt ein Kostüm, das die Dichterin am Ende ablegt, es als solches entlarvt und die Leser dabei zu Zeugen macht. Man muss diese Gedichte deshalb vom Ende her lesen:

In einer Zeile nach der anderen,
suchte ich nach dem Gedicht
vom Anfang unserer Träume bis zum Ende des Zitats

Immerhin kann Lina Atfah uns auch erklären, warum die Dichter sterben. Nämlich (in der Nachdichtung Jan Wagners) „um die Unsterblichkeit ihrer Namen zu prüfen“. Auf die abschließende Frage, warum die Tyrannen sterben, gibt dagegen Joachim Sartorius in seiner Fassung die beste Antwort: „Damit die Völker leben“ (Wagner ergänzt: „können“). Unter der Hand der vielen Übersetzer mutieren die Texte zu Versuchskaninchen, wobei die Forschungsfrage vermutlich lautete, wie der Ton der zeitgenössischen arabischen Poesie am besten getroffen werden kann – oder ob überhaupt.
Dieses Verfahren verschleiert zudem, dass manche Irritation des Lesers gar nicht auf das Konto der Übersetzer, sondern der Dichterin geht. Die Texte überzeugen, wo sie sich an die Außenwelt, ans Konkrete halten; in der Regel auch dann, wenn sie – jüngste Mode der arabischen Poesie – ins Aphoristische ausweichen. Wenn sie Gefühle ausdrücken wollen oder persönlich klingen, autobiographisch, verläuft die Grenze zum Poesiealbum fließend.
Dabei hat Lina Atfah, das zeigen die arabischen Originale, die ganze Klaviatur der arabischen Dichtung seit alter Zeit zu ihrer Verfügung. Die Versuchung, diese Klaviatur in Gänze zu bespielen – oder sich an ihr auszutesten –, muss groß sein. Wenn es ihr gelingt, sich zu beschränken, und sie demnächst vielleicht einen Übersetzer findet, der ihr eine klare, eindeutige Stimme verleiht, werden wir mit dem vorliegenden Buch die ersten deutschen Texte einer großen Dichterin gelesen haben.

Stefan Weidner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2019

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Marina Büttner: Lina Atfah: Das Buch von der fehlenden Ankunft
literaturleuchtet.wordpress.com, 30.6.2019

Birgit Böllinger: Lina Atfah: Das Buch von der fehlenden Ankunft
saetzeundschaetze.com, 18.3.2019

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Facebook
Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts

 

Lina Atfah liest ihr Gedicht „القطارات تمرّ – علي الجندي“.

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