Lothar Walsdorf: Im gläsernen Licht der Frühe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Lothar Walsdorf: Im gläsernen Licht der Frühe

Walsdorf/Niedlich-Im gläsernen Licht der Frühe

ABENDS/MORGENS
(ANBITTE)

sternlein
deine finger
worte dunkle
klumpen
es war ein
großes lumpen
zwischen dir
und zwischen mir
es war ein
andres wollen
es war ein
hüh und hott
sternlein
deine finger
dunkles wort
und klumpen
es war ein
großes lumpen
dunkles wort
und klumpen
zwischen dir
und zwischen mir

 

 

 

Lothar Walsdorf,

geboren 1951  in Zittau. Von 1961 – 1967 Aufenthalt in verschiedenen Kinderheimen. Erstes Gedicht nach Gagarins Weltraumflug (1961), damaliger Berufswunsch: Kosmonaut. Arbeit auf einem volkseigenen Gut, Chemiefacharbeiter, Armeedienst. Erste eigene Wohnung 1968: Bautzen, Messergasse 1 (Altstadt). Arbeit in verschiedenen Berufen: Beifahrer, Fensterputzer, Restaurator, Wasseruhrenableser. 1979 Kontakt zum Aufbau-Verlag, zu dieser Zeit mehr als vierzig Hefte Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen. Seit Ende 1979 ständiger Aufenthalt in Berlin: Untermieter im Stadtbezirk Mitte. Erster Gedichtband 1981: Der Wind ist auch ein Haus, erstes Kinderbuch 1982: Grün weht der Lärm ins Land. Fünf Hörspiele für Kinder. Inzwischen mehr als achtzig Hefte Tagebuch, Prosa und Lyrik. Seit Anfang 1982 Wohnung mit Blick auf freies Feld am Rande einer Kleinstadt bei Berlin.
Arbeitsmethode: unablässige literarische Anregung aus alltäglichen oder weltbewegenden, aus betroffen oder zufrieden machen Anlässen.

Aufbau Verlag, Klappentext, 1983

 

Im Kleefeld der Worte

Erstaunliches geschieht: Da schreibt einer vom „zweiglein herzlaub“, vom „spiegel unserer traurigen herzen“, beschwört eine „herzgeige“ und die „tore des herzens“, und das in aber Tausenden Gedichten und Schreibversuchen abgegriffene und vernutzte Wort gewinnt erneut Glanz und Aussagekraft. Die Rede ist von Lothar Walsdorfs zweitem Gedichtband Im gläsernen Licht der Frühe, der nach relativ kurzer Zeit dem Band Der Wind ist auch ein Haus folgte. Bereits die ersten Gedichtveröffentlichungen des 1951 geborenen Autors zeigten an, daß eine in ihrer Eigenart unverwechselbare Stimme Wesentliches in die Lyrik unseres Landes einzubringen suchte (Vergleichbares findet sich wohl nur bei Uwe Greßmann). Es ist nicht zuletzt die Gelöstheit und die Unangestrengtheit dieses lyrischen Sprechens, die Walsdorfs Texte von dem verkrampft-dozierenden Gestus, der in neuerer Lyrik gelegentlich begegnet, abheben.
Eine expressive und unkonventionelle Bildlichkeit, wie sie beispielsweise das Eingangsgedicht „Das Jahr“ aufweist, zeichnet viele Gedichte des streng komponierten Bandes aus:

… der herbst ist ein junge aus stürmen
trägt die drachen im arm davon
und die trauben im herz seiner wärme
füllen sich prall mit saft…

Die Metaphorik der Texte Lothar Walsdorfs biedert sich trotz einer gewissen Grelle nicht an, sie wirbt nicht um den Leser. Unspektakulär, fast murmelnd, mitunter auch etwas bramarbasierend ist der Ton der Gedichte, in denen ein zumeist recht überschaubarer Kreis von Weltbezügen ausgeschritten wird. Das lyrische Subjekt bewegt sich im Spannungsfeld zwischen dem Versuch, leidvolle, nachhaltig prägende Erfahrungen der Kindheit zu bewältigen (der Autor lebte von 1961 bis 1967 in verschiedenen Kinderheimen) und dem Bemühen, unverrückbare Positionen gegenwärtiger Existenz auszumachen, zu befestigen oder schon gewonnene „Brückenköpfe“ wieder in Frage zu stellen. Davon zeugen besonders die im Abschnitt „Gedichte im Spiegel“ versammelten Texte, die Titel tragen wie „Selbstporträt, unterwegs“, „Erweiterter Lebenslauf“ oder „Selbstporträt (Der Ichgott)“. Im letztgenannten, außerordentlich vielschichtigen Gedicht teilen sich die Verletzlichkeit des sprechenden Ichs, aber auch ein weitgreifender Anspruch mit:

… ich entblättre mich
zieh mich an mit grün
blüh auf und verwelke
in einer stunde
in einer minute gar
muß ich sterben und zeugen…
muß ich bräute heimführen
und gräber verschließen
muß ich wachsen und warten
und unruhig sein.

Statuarisches findet in den Bildervorrat Walsdorfs kaum Eingang. Gleichsam mühelos erfolgt zuweilen die Destruktion gängiger Sprachmünzen, gelingt eine verfremdende und aufschließende Sehweise, wie sie die meisten der Liebesgedichte im Abschnitt „Sieben Liebeslieder“ erkennen lassen:

deine Augen
flügellose vögel am abend…
im kleefeld meiner wortzeit…

(„Liebeslied, unterwegs“).

Die Musikalität der Walsdorfschen Sprache ermöglicht die Verbindung von vermeintlich Unvereinbarem: die unkonventionelle, stark expressive Metaphorik und gewagte Vergleiche („… und rühr um den blechnapf / meiner zweisamen tage / mit dem löffel meiner worte –“: „Kalenderblatt IV“) korrespondieren mit lose hingetuschten Impressionen. Die Verwendung der zahlreichen Farbsymbole, die in der Mehrzahl der Gedichte eine den Text organisierende Rolle spielen, macht dies besonders augenfällig. Die häufigen Bezüge auf das Erleben, Erahnen und Kombinieren von Farbzeichen sind zweifelsohne Kettfäden in diesem poetischen Gewebe. Die Sogwirkung dieser an Musikalität reichen lyrischen Sprache teilt sich dem Leser auch über die ausgesprochene Vorliebe Lothar Walsdorfs für wiederholende Formen im Satzbau und im Wortbestand mit, die zuweilen zur Manier gerät.
Freilich zeigen sich bald auch andere Gefahren, die mit dieser lyrischen Sprechweise verbunden sind; Lothar Walsdorf ist ihnen nicht immer entgangen. Auffallend ist, und dieser Eindruck verstärkt sich bei mehrmaligem Lesen mancher Gedichte, daß mitunter Farbzeichen („blauer helm abend“; „mittagsgelb“), aber auch Vokabeln wie „Frühling“, „Welt“ oder Winter“ durch fortwährenden Gebrauch zu bloßen Worthülsen werden, denen es an sinnlicher Qualität mangelt. Sie bekommen etwas Formelhaftes, werden zu beliebig arrangierbaren Versatzstücken. Einige wenig überzeugende Texte finden sich auch in den Abschnitten „Kleines Buch“ und „Wochentagslieder“. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht „Montag“:

… unser herbstfenster verschließt sich
recht bald schon am abend
um morgen im frühling
der sonne zu weichen
um blankgeputzt die spiegel
des schönen wetters zu rahmen

Das Gedicht läßt einen eigentümlichen Zug ins Ungeformte, Zerfließende erkennen. Es fehlt ihm jene unverzichtbare „Kunstarbeit“, die wiederholbare und beiläufige Sprachmuster von Äußerlichkeiten reinigt, den Text in Unruhe versetzt und in den Rang von Dichtung erhebt.
Das Wort Georg Maurers, das den „Ich-Gewinn“ und die Welthaltigkeit des lyrischen Textes in eine wechselseitige Beziehung setzt, ist oft zitiert worden. „Welt-Gewinn“ – er findet vor allem statt in den Gedichten des Abschnitts „Berlin und anderswo“. Das Erlebnis der großen Stadt (der Autor lebt seit 1979 in Berlin) wurde offenkundig zu einer Zäsur in dem Bemühen um eine schärfere Konturierung des lyrischen Subjekts. Weder ein euphorisches Feiern der die Lebensformen nachhaltig beeinflussenden Großstadt noch ein einseitiges Abschirmen gegenüber der Betriebsamkeit der Metropole signalisieren diese Gedichte. Eine ambivalente, zwischen Anziehendem und Abstoßendem oszillierende Beziehung teilt sich mit:

… zum himmel hoch
da komm ich her
da will ich hin
weg aus dieser hundestadt
mit ihren vielen weichen haufen
und dann doch wieder
hierher zurück
weil ich hier leben muß
weil ich nur hier leben kann
ganztags und halbnachts…
(„Selbstporträt, Alexanderplatz“).

Ein unverkennbares Weiten des Blicks und ein Schärfen der Optik zeigt auch ein anderes Berlin-Gedicht an:

am morgen steht die stadt auf
brennt ihre lichter an
und niest dreimal gen mittag
durch ihre hohlen häuserhände
und wackelt in den tag
eisern verliebt…

(„Vierundzwanzig Stunden II“).

Die Sprachfiguren machen die Atmosphäre der großen Stadt transparent. Ihre situative Qualität erreichen sie vor allem durch ein stärker kontrolliertes, bewußter auswählendes lyrisches Sprechen, das zu einer übergreifenden Tendenz in der Schreibhaltung dieses Lyrikers werden könnte und sollte.

Rainer Zekert, neue deutsche Literatur, Heft 2, Februar 1985

Die poetischen Mitschriften einer furchtbaren Erinnerung

– Das Werk des Dichters Lothar Walsdorf harrt der Wiederentdeckung. –

Zehn Monate lang klingelte sein Handy und seine Stimme bat darum, nicht auf die Mailbox zu sprechen. Immer wieder versuchten Mitarbeiter des Berliner Henschel Verlages, Lothar Walsdorf zu erreichen – vergeblich. Der Dichter war bereits am 5. Juli 2004 unter bis heute ungeklärten Umständen im Alter von 52 Jahren gestorben. Sein Verlag erfuhr davon erst durch eine Nachfrage beim Einwohnermeldeamt Berlin-Pankow, dort war er – noch – Mieter einer kleinen Wohnung.
Walsdorf war ein Fall für das Sozialamt; aber das ist eine lange Geschichte, Die ehemaligen Genossen der Meldebehörden in Königs Wusterhausen und Berlin (DDR) werden sich vielleicht an den Problembürger erinnern. Keine Wohnung, keine „richtige“ Arbeit, Zuführungen durch die Volkspolizei, Aufenthaltsverbote für die Hauptstadt.
Walsdorf wurde 1951 in Zittau geboren, ist in Heimen aufgewachsen und schlug sich in DDR-Zeiten mit Gelegenheitsarbeiten durch. Anschluss an literarische Szenen hat er nie gefunden, aber auch nie gesucht. Sein Werk harrt der Neuentdeckung, denn er war ein großer Dichter, Franz Fühmann hat dies als erster erkannt und ihn Anfang der 80er Jahre in Sinn und Form vorgestellt. Neben Kinderbüchern, Dramatik und Hörspielen erschienen in dichter Folge Lyrikbände wie Der Wind ist auch ein Haus (1981), Im gläsernen Licht der Frühe (1983), Über die Berge kam ich (1987). Im Bändchen Grün weht der Lärm ins Land, das ausgerechnet in der Reihe der Trompeterbücher des Kinderbuchverlages erschien, heißt es in einem Gedicht:

Geh in die Welt
nimm deinen Stock und wandre
und hol dir ein Gesicht
das ein Leben lang reicht.

Ich habe Lothar Walsdorf Ende 1990 in Berlin kennen gelernt. Für einen kleinen Verlag in Freising suchte ich nach Manuskripten.
So kam es zu vielen Gesprächen im Henschel Verlag, denn Walsdorf besaß in dieser Zeit keine Wohnung. Aus einem chaotischen Textkonvolut entstand der Prosaband Geh und vergib nicht. Eine Erinnerung (1991). Beim Wiederlesen bleibt es dabei: Das ist ein großartiges Buch. In atemloser, beklemmender Sprache wird eine Kette von Demütigungen heraufgerufen. Das Heimkind Walsdorf hatte ein furchtbares Gedächtnis. Lutz Rathenow und Konrad Franke haben den Band zustimmend rezensiert. Das Buch ging – wie sein Verlag – in der Nachwendezeit verloren.
Heiner Müller erinnert sich im Gespräch mit Frank M. Raddatz an eine Szene, die Walsdorf auch in Geh und vergib nicht aufgenommen hat:

Auf einem Klo in Königs Wusterhausen bei Berlin wollte ein zwölfjähriger Junge pinkeln, hatte aber kein Geld. Da sagte die alte Klofrau: „Wenn du kein Geld hast, kannst du auch nicht pinkeln.“ Und er: „Ich muss aber.“ Darauf die Klofrau: „Das kann jeder sagen. Hier kann doch nicht jeder machen, was er will. Ich bin sechzig Jahre alt und habe noch nie getan, was ich wollte.“ Das ist die Basis des Faschismus, der totalitären, aber auch der demokratischen Systeme.

Traurige Legenden sind übrigens fehl am Platz: Holte sich Walsdorf die ihm zustehende Sozialhilfe ab, verschwand er oft umgehend zum Flughafen und dann zum Beispiel in den Bergen Kurdistans. So hat er fast die halbe Welt gesehen. Nach Wochen kann er dann abgerissen und abgemagert zurück; der Spruch der Toilettenfrau aus Königs Wusterhausen interessierte ihn nie mehr.

Klaus Pankow, Mitteldeutsche Zeitung, 22.12.2005

„Kommt alle her und schaut mich an“

– Lothar Walsdorf war Museumsgehilfe, Hilfsrestaurator, Wasseruhrenableser, Fensterputzer. Und ein Dichter in der DDR, den es wiederzuentdecken gilt. –

Im März 1979 zeichnet der Dichter Lothar Walsdorf mit Bleistift sein Selbstportrait. Es zeigt einen Langhaarigen, einen Hippie, wie er so bis weit in die achtziger Jahre in den Zügen der Deutschen Reichsbahn, auf den Landstraßen der DDR und den Blueskonzerten in den Landgasthäusern anzutreffen ist.
Lothar Walsdorf kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Veröffentlichung vorweisen, dabei hat er wenige Wochen vorher über sich Auskunft gegeben:

Ich bin 27 Jahre und schreibe seit meinem 10. Lebensjahr. Inzwischen habe ich etwas über dreitausend Gedichte in 40 handgeschriebenen Büchern im Schrank.

Der Brief ist aus Bautzen an einen gegangen, der Ende der 70-er Jahre als gestandener Schriftsteller gelten darf, der sich allerdings mit guten Gründen aus der offiziellen DDR-Kulturpolitik zurückgezogen hat und zu einem unsicheren Kantonisten geworden ist, der sich den Mythen und der Romantik zugewandt hat: Franz Fühmann.
Walsdorf sendet ihm auch das Selbstbildnis als Tramp, Fühmann antwortet ihm aus Märkisch-Buchholz:

Lieber Lothar Walsdorf, schönen Dank für Ihre Zeilen und das kleine Blatt, nun weiß ich, wie sie ausschauen, ich habe mir sie so ähnlich vorgestellt.

Es wird noch einige Briefe dauern, bis Fühmann zum „Du“ übergeht und sich von Walsdorf mit einem maschinengeschriebenen „Händedruck“ verabschiedet. Walsdorf bleibt bei „Lieber Herr Fühmann“. Der wird zum Förderer des Jüngeren, von dem er sagt, Walsdorf sei „endlich einer mit eignem Ton“. Er wird aber auch erfahren, dass es sich bei seinem Protegé um ein gebranntes Kind handelt.
Der in Zittau geborene Walsdorf ist Halbwaise, mit Mutter und Großmutter in einem Dorf bei Bautzen aufgewachsen. Sein erstes Gedicht ist auf den November 1961 datiert und formuliert einen Berufswunsch:

Gagarin und Titow
das ist mein Fall,
die flogen durchs Weltenall.

Walsdorf verspricht zu lernen, denn er möchte nicht weniger als den Kosmos besiegen. „Wenn ich einmal groß bin“ ist bereits im Kinderheim entstanden, in das Walsdorf gekommen ist, als die erblindete Mutter in Pflege musste. Zwanzig Jahre später schickt er die Zeilen an Franz Fühmann.
Die Texte, die Lothar Walsdorf nach Fühmanns Vermittlung an die Literaturzeitschrift Sinn und Form und den Aufbau-Verlag dort veröffentlicht, sind andere. In seinem 1981 erschienenen Lyrikband Der Wind ist auch ein Haus heißt es unter der Titel „Synonym“:

man sieht mir die katze an
diese krallen an den händen
und das grüne im blick
dieses gefauchegebuckele
dieses aalglatte gerutsche
und dieses zärtlichseinwollenverlangen…
man sieht mir die katze an

(die nachtkatze die regenkatze)
diese kleine großäugige
schmale öläugige gefürchtete
taubenschreckliche…
man sieht mir die katze an
und redet menschlich mit mir.

Sechs Jahre darauf, im dritten Gedichtband Über Berge kam ich, ist es ein „Altes Selbstporträt“, in dem zu erfahren ist:

Ich bin der Ur-sprung
Ich war vor dem Urei schon da.
Aus mir wurden Menschen aller Farben und Sorten
und Männer wie Frauen gleichermaßen und in großer
Zahl.
Die einen wurden gut, die andern böse, die nächsten
dumm,
diese schäbig, jene lustig, manche traurig,
einzelne
fleißig,
zufällige heiter, nicht zufällige vorlaut.
Und der Rest schließlich wurde zu ganz kleinen
Kindern,
denen das Erwachsenwerden noch immer droht.

Lothar Walsdorf ist dem Erwachsenwerden nicht entgangen, auch wenn sich seine überlieferte Biographie wie die eines Hakenschlagens liest. Aus dem Kinderheim ist er ausgerissen und in eines für Schwererziehbare gekommen, bis 1967 hat der Waldjunge Walsdorf mehrere Heime durchlaufen. Rastlosigkeit wird Grundzug nicht nur seiner Texte bleiben.
Zu ihr gehört, dass Walsdorf Fühmann in den vier Jahren ihrer Korrespondenz von drei Adressen schreibt: aus der Messergasse in Bautzen, der Swinemünder Straße in Berlin und vom Leninring in Königs Wusterhausen. Zu den Briefen und Osterpostkarten kommt ein Gruß aus Budapest, eine Reise, die Walsdorf sehr beeindruckt haben muss.
Zurück in der DDR schreibt er im Gedicht „Ankunft II“:

hier trägt man wieder bhs
und enge hosen
und karierte blusen
den kragen auf sturm
hier geht man wieder strenger
mit dem wort ins gericht
hier spielt keine harmonika
für die nichtige rede
hier sind wir zu hause
mein weitgereister kamm
und ich.

Was der Reisende unterwegs sucht, darauf gibt Walsdorf einen Hinweis, den man sich merken sollte. In „Tramper abends“ sagt er:

kommt alle her
und schaut mich an…
hier steht einer
der hält autos an
hier steht einer
der winkt bis er müde wird
hier steht einer
der will fahren in die finsternis.

Wovon lebt so einer? Interessant sind die Berufe, die in diesen Gedichten und ihrem Nachfolger, dem 1982 erschienenen Kinderbuch Grün weht der Lärm ins Land auftauchen. Es sind: der Schneidermeister, die Näherin, der Grünwarenhändler, die Verkäuferin, der Glaser, der Fensterputzer, die Tapezierer, die Waldarbeiter. Das Buch, freigegeben ab 8 Jahre, taugt nur bedingt zur anständigen Berufswahl und Lebensplanung. Später treten auf: der Polizist, die Bettlerin, die Spitzenhändlerin, der Straßenfeger, die Lehrlinge.
Lothar Walsdorf selbst hat eine erste Ausbildung in der Landwirtschaft ausgeschlagen und Chemiefacharbeiter gelernt. Der Henschel-Verlag, der für Walsdorfs Theater- und Hörspieltexte zuständig ist, listet an Berufen, die sein Autor ausgeübt hat, auf: Beifahrer, Museumsgehilfe, Hilfsrestaurator, Wasseruhrenableser, Fensterputzer, Bühnentechniker. Tätigkeiten, die in der DDR zu einer amtlichen Boheme-Laufbahn befähigen.
„Lothar Walsdorf wollte immer ein großes Fest“, erinnert sich die Dramaturgin Elisabeth Panknin, die an Walsdorfs Hörspiel Hochzeit vorübergehend gearbeitet hat. Es sind die Hörspiele, die dem Autor nach der Wende 1989 zur Einnahmequelle werden, und Panknin gehört zu dem Quartett, das Lothar Walsdorf, als es ihm wirklich schlecht geht, in und über die 90er-Jahre helfen: Da sind die Henschel-Verlagslektorin Andrea Czesienski, der Rundfunkregisseur Wolfgang Rindfleisch und der Hörspieldramaturg und Autor Matthias Thalheim.
Thalheim ist es auch, der von Walsdorf als „einem jener Ausnahmetalente, die man nicht nach dem Knigge-Maßstab messen kann“, spricht. Kaum hat Walsdorf das Geld vom Radio in der Tasche, zieht es ihn fort. Walsdorf muss nicht mehr trampen, er fliegt nach Mexiko oder Kurdistan. In einem der Texte im Nachlass in der Akademie der Künste Berlin heißt es „Antalya 2:30. Mein DDR-Pass ist hier unbekannt.“ Das könnte Walsdorf gefallen haben, Matthias Thalheim übrigens fügt an:

Der hat von der DDR enorm profitiert.

In der Akademie der Künste liegt ein unveröffentlichtes Manuskript Walsdorfs, das 1989 abgeschlossen und fertig lektoriert war: „Zwischen Ostermontag und Himmelfahrt“. Lyrik, Prosa, Texte, Erinnerungen: Traumnotizen, so eindringlich und genau wie die Beschreibungen des DDR-Alltags der späten 80er-Jahre, der „Neubaunachbarin“ oder der „müden Verkäuferin, Freitag 19:30“.
Mitte Januar 2022 wird der 100. Geburtstag von Lothar Walsdorfs Förderer Franz Fühmann begangen werden. Walsdorfs 70. Geburtstag wäre im Oktober 2021 gewesen. Im Frühjahr haben der Dramaturg Hermann Wündrich und der Regisseur Manfred Karge in ihrem im Ventil erschienenen Buch zum DDR-Theater Erstürmt die Höhen der Kultur! auch an Lothar Walsdorf, der 2004 tot in seiner Wohnung in einem Berliner Vorort gefunden wurde, erinnert. Es sollte nicht noch dreißig Jahre dauern, bis „Zwischen Ostermontag und Himmelsfahrt“ erschienen sein wird.

Robert Mießner, taz, 28.12.2021

 

„man sieht mir die katze an“ Lothar Walsdorf zum 70. Lesung, Präsentation mit Inés Burdow und Robert Mießner am 6.10.2021 im Literaturforum im Brecht-Haus

 

Lothar Walsdorf

Heimumrundung Nummer 13

„Schlappschwänze, Pavianärsche, Mistmaden!“ rief uns der Erzieher. „Rotkäppchen ist ein frohes Kind. Lothar los. Setz du die rote Kappe auf! Und wehe dir, man kann nicht lachen.“ Das Spiel hieß Knastschieben. Ich mußte mich niederhocken, der Rest im Kreise gehen. Wenn einer von uns nicht lachen konnte, mußten alle Omaschläft machen, das hieß Kniebeugen bis einer umfiel. Der Erzieher tobte vor lachen. „Oh ihr lieblichen Mastschweine!“ wieherte er. Wenn es echt gewesen wäre, und wirklich ein Märchen, ich hätte mich am besten gleich vom Jäger abknallen lassen wollen.
Dann wurden wir nacheinander adoptiert.
Ich baute mir ein Haus im Wald.

Peter Wawerzinek

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

2 Antworten : Lothar Walsdorf: Im gläsernen Licht der Frühe”

  1. Wachsmann sagt:

    Hallo ich bin eine ganz frühe Jugenfreundin von Lothar Walsdorf. 2016 erfuhr ich durch das Internet über seinen Tod 2004.
    Meine Frage ist: Weiss jemand wo er begraben liegt? Sicherlich hat er so ein billiges Sozialgrab (Urne), wo ihn keiner mehr findet…..Er hat schon damals gesagt …..eine Zigeunerin sagte ihm ein kurzes Leben vorraus….Freundliche Grüsse

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