Ludvík Kundera: el do Ra Da(da)

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ludvík Kundera: el do Ra Da(da)

Kundera/Kundera-el do Ra Da(da)

DER WELTREGEN
begann in der Nacht

Am Morgen war er endlos
am Mittag total
gegen Abend durchnagten die Mäuse
Halm für Halm
sämtlichen Speck
das Weltall Scheune

 

 

 

Eine Handvoll Mohn in die Träume

Ich sehe Pierre und weiß, daß es Jaques ist.
(Paul Valéry, Monsieur Teste)

I
Im Juni 1946 erfüllt sich für den 26-jährigen Kundera ein Traum, den alle jungen Künstler damals hatten – nach Paris, in die Stadt der Dichter, zu fahren. Er gehört zu einer Gruppe von Malern und Dichtern, die die junge tschechoslowakische Kunst nach dem Krieg in Paris repräsentieren soll. Die Zugreise von Prag durch das zerstörte Deutschland zahlt das Informationsministerium (dort arbeiteten Halas, Nezval und Biebl in wichtigen Funktionen), für das Auskommen am Ort ist allein zu sorgen.
Frankreich spielte für die tschechoslowakische Kultur seit jeher eine besondere Rolle, die dortigen avantgardistischen Strömungen wurden von allen Künsten gierig aufgenommen, besonders von Malerei und Dichtung. Bedeutende tschechische Künstler, wie die Maler František Kupka, Josef Šíma, Otakar Kubín (Coubine) oder der Komponist Bohuslav Martinů lebten gänzlich in Frankreich, andere hielten sich kürzer oder länger dort auf (Halas, Teige, Štyrský, Toyen, Zrzavý), studierten dort (zum Beispiel die Čapek-Brüder).
Nahezu mythenbildend für die jungen avantgardistischen tschechischen Dichter war die Reise Guillaume Apollinaires im Jahre 1902 nach Prag und Böhmen, und später sollte den Reisen der französischen Surrealisten (Soupault schon 1926, Breton und Eluard 1935) nach Prag und Brünn viel Aufmerksamkeit entgegengebracht werden.
Das alles wurde von den jungen Literaturadepten aufmerksam verfolgt. Sie waren aufgeladen von solchen Ereignissen, bald wurden auch neue avantgardistische Bücher aus Frankreich übersetzt – Apollinaires Zone in der Übertragung durch Karel Čapek erschien 1919 (dort faszinierte vor allem die freie Assoziation der Bilder und Metaphern), und 1920 gab er den berühmt gewordenen Band Französische Poesie der neuen Zeit heraus, der 1936 eine erweiterte Auflage erfuhr.
In jenem Jahr gab es eine das ganze Land erfassende Gedenkfeier – den 100. Todestag des Nationaldichters Karel Hynek Mácha, der 1836 in Leitmeritz kurz vor seinem 26. Geburtstag am Tag seiner geplanten Hochzeit an der Cholera gestorben war. Für die Surrealisten Anlaß, in der Anthologie Ani labut’ ani lůna (Weder Schwan noch Mond) dem bürgerlichen Kulturbetrieb das Recht auf den romantischen Dichter streitig zu machen und sein Poem „Máj“ als eine frühe Form automatischen Schreibens zu feiern.
Für den Gymnasiasten Ludvík K. und seine Freunde in Leitmeritz waren die Feiern eher ein Anlaß aufzustöhnen, als in den Jubel einzufallen.

Herr amanuensis Mácha
lief uns nur einmal über den Weg
das war im Mai 36

Wir verübelten ihm sehr
daß ihn rühmten Pseudopatrioten
schließlich sogar die Feuerwehr
Genug Mácha! Mácha reicht!
skandierten wir in eifriger Dummheit

Die Familie lebte damals in Leitmeritz, der Vater als hoher Offizier der tschechoslowakischen Armee beim Kommando der III. Division, der Sohn schrieb erste Verse und gab mit Klassenkameraden eine Schülerzeitschrift heraus, Anfänge, wie man sie kennt.

II
Schon vor Ende des 1. Weltkriegs und mit Gründung der Ersten Republik unter Präsident T.G. Masaryk, im Chaos der ersten Nachkriegsjahre, hatte in den tschechischen Ländern in der Kunst eine Entwicklung eingesetzt, die von gescheiterten Hoffnungen getragen war. Die reinigenden „Kunstgewitter“, wie sie als Expressionismus und Dadaismus über Deutschland, als Futurismus über Rußland und Italien oder als Surrealismus über Frankreich hinwegzogen, blieben hier aus. Eine junge gärende Dichterschar, teilweise mit den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, strebte danach, die überkommenen bürgerlichen Fesseln in Kunst und Leben abzustreifen, die Trennung von beidem zu überwinden. Die proletarische Poesie – die Mehrheit der jungen damaligen Dichter tendierte in ihrer Haltung nach links –, für viele der Ausgangspunkt ihres Schaffens, begann langsam in anderen Konzepten aufzugehen. Der Stern des jungen Jiří Wolker, der aus Mähren stammte und 1924, erst 24-jährig an Tuberkulose starb, bildete mit einer ganzen Reihe gleichaltriger Freunde jene wundersame Konstellation am tschechischen Dichterhimmel, die bald, als Kometen sichtbar, die kulturelle Atmosphäre jener Zeit bestimmten. Es waren Dichter und Maler, Bühnenbildner und Regisseure, Musiker und Schauspieler, Architekten und Kunsttheoretiker, oftmals auch in einer Person. Sie strebten ein Kunstkonzept an, das nicht mehr, wie zur Zeit der nationalen Wiedererweckung und dem Ringen um ein bewußtes Tschechentum innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie, von Trotz, Pathos und nationalen Mythen bestimmt war, sondern dem eine sich formierende demokratische Gesellschaft vielfältige Chancen zu einer fast schwebenden, seiltänzerischen Kunstausübung gestattete, die, ohne daß die sozialen Gegensätze verleugnet wurden, von einem freien Selbstbewußtsein geprägt war, von einem zivilisatorischen Anspruch, wie er vor dem Ersten Weltkrieg nie hätte formuliert werden können. In dieser „Manege des Lebens“ traten Personen auf, die allesamt für den jungen Kundera Bedeutung haben sollten, ja, zeitweilig zu seinen Leitfiguren wurden. Daß Nezval und Teige an einem Herbstabend 1922 den Poetismus erfanden, gehört natürlich zu den in Dichtung verwandelten Legenden, wie sie von allen künstlerischen Bewegungen, Gruppen, Ismen und in Manifesten irgendwann einmal „produziert“ werden. Aber Karel Teige, der exzellenteste Theoretiker – nicht nur des Poetismus, sondern der Künste in einem weit umfassenderen Verständnis – verkündete keinen Ausschließlichkeitsanspruch. Teige erklärte den Konstruktivismus – verstanden als Methode – zum Grundprinzip der Kunst, wobei Struktur und Ästhetik einander bedingen. Wenn er die Degeneration aller Ismen als Symptom der Degeneration der bisherigen Kunstgattungen ansah, so räumte er dennoch ein, daß daraus ein neuer Stil entsteht und „mit ihm eine neue Kunst, die aufgehört hat, Kunst zu sein“, die ohne Traditionsvorurteile jede vielversprechende Hypothese zuläßt, dem Experiment, das aus allen Lebensquellen reichlich sprudelt, Raum gibt. Vom Poetismus, als die Kunst zu leben und zu genießen, forderte er, sie solle „letztlich so selbstverständlich, entzückend und zugänglich sein wie Sport, Liebe, Wein und alle Delikatessen“. Also Poetismus als Lebensform. (Streift nicht Teige mit seinen Auffassungen von einer neuen Kunst erstaunlich bestimmte Vorstellungen des Postmodernismus?)
Aber natürlich keimen im tschechischen Poetismus Haltungen und Ausdrucksweisen anderer europäischer Avantgardebestrebungen, ohne daß er als Synthese all dieser Bestrebungen angesehen werden darf. In ihm finden sich sehr wohl Elemente des Dadaismus und schon sehr früh die Ausdrucks- und Sichtweisen des Surrealismus.

Die Welt umgestalten, das Leben ändern, war seit Anbeginn die programmatische Absicht des Surrealismus, nur daß dies nicht mehr mit der ordnenden Hand eines durch Zwänge geformten Individuums geschehen kann, wie die französischen Surrealisten meinen.
Bretons Schriften – Kommunizierende Röhren erschienen in tschechischer Übersetzung schon 1934 (frz. 1932), Nadja 1935 (frz. 1928), Weise des Wassers und Was ist Surrealismus 1937 (frz. jeweils 1934) – wurden von dem jungen Kundera natürlich gelesen und mit Freunden debattiert.
Zudem hatte sich seit 1934 neben dem Poetismus, ihm nachfolgend und zeitweilig parallel zu ihm, eine Gruppierung tschechischer Surrealisten gebildet, zu der Nezval als der Spiritus rector, Biebl, der Maler, Dichter und Photograph Štyrský, die Malerin Toyen (eigentlich Marie Čermínová), der sich mit Psychoanalyse beschäftigende Biologe und Anthropologe Brouk, der Regisseur Honzl, der Komponist und Musiker Ježek, später auch der slowakische Dichter Laco Novomeský und andere gehörten. Teige, dessen Auffassungen vom Surrealismus etwas differenzierter waren, trat erst nach einiger Zeit der Gruppe bei. Eng an das Programm der französischen Surrealisten angelehnt, deren Bewegung allerdings schon zehn Jahre existierte, entwickelte die Gruppe eine atemberaubende Aktivität. Seit langem schon waren vor allem im Werk Nezvals, aber auch bei Konstantin Biebl, deutlich surrealistische Elemente aufgetaucht, und die Jahre 1936/37 kamen einer Explosion in Nezvals surrealistischem Schaffens gleich: drei Gedichtbände (Prag mit Regenfingern, Frau in der Mehrzahl, Der absolute Totengräber) und der Roman Glückskette. In dem Band Moderne poetische Richtungen stellt er die verschiedenen avantgardistischen Bestrebungen in der Poesie vor, ein Quasikompendium modernen Dichtens. Außerdem entdeckte er jetzt für sein Werk die Rolle des Psychologischen.
Die Unvoreingenommenheit und Begeisterung, mit der Nezval dem Programm der französischen Surrealisten folgte (sie wollten mit gewissen vernachlässigten Assoziationsformen zu einer höheren Wirklichkeit gelangen, bauten auf die Allmacht des Traums, bestanden auf dem zweckfreien Spiel des Denkens) fand nicht die ungeteilte Zustimmung Teiges, der Breton und seinen „absoluten Surrealisten“ vor allem vorwarf, unbewußte Seelentätigkeit mit schöpferischer Kreativität zu verwechseln. (Dies sollte später die Auffassung von einem andersgearteten Surrealismus der Gruppe Ra bestimmen.)
Der leichte und zugleich dichte Vers des Poetismus, der spielerisch-komödiantische, sinnenfreudige Ton, wie ihn Seifert, Biebl, Nezval, auch Halas pflegten, ändert sich in der surrealistischen Poesie tiefgreifend. Traum- und Halluzinationszustände werden zunehmend wichtig und drängen das agierende Subjekt in den Hintergrund, die ordnende Wirkung des Raums wird zugunsten willkürlicher wechselseitiger Beziehungen aufgegeben, Zusammenhänge werden verwischt, das Detail steht für ein Ganzes.
In einer Zeit zunehmender Unsicherheit und Bedrohung (München 1938 und schließlich die deutsche Okkupation am 15. März 1939) beginnt der kaum Zwanzigjährige nach seiner Individualität zu suchen. Künstlerisch hofft er sie auch in solchen literarischen Formen und Verfahren zu finden, mit denen eine aus den Fugen gehende Zeit, die um sich greifende Angst, die Vagheit persönlicher Beziehungen, die Absurdität des Alltags formuliert werden können. So ist erklärlich, daß der junge Kundera sich stark zu Texten der Surrealisten und auch zur Person Nezvals hingezogen fühlt.

Im März 1938 löste Nezval die Gruppe jedoch selbstherrlich auf, weil er, der parteioffiziellen Linie folgend, die Moskauer Prozesse für berechtigt hielt und dafür unter den Surrealisten keinen Rückhalt fand. Die linke künstlerische Öffentlichkeit war seit dem ab 1929 erfolgten Einschwenken der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei auf den Kurs Moskaus, als sieben der bekanntesten Schriftsteller unter Protest die KP verließen (unter anderem Seifert und Vančura), für die Vorgänge in der Sowjetunion ohnehin sensibilisiert. Zu Teige bestanden bereits einige Zeit politische Differenzen, da dieser konsequent gegen jede Art von Unterdrückung der Kunst auftrat und die Moskauer Prozesse öffentlich verurteilte. Die Gruppe blieb ohne Nezval bestehen, und Teige veröffentlichte wenige Wochen darauf seine Streitschrift Surrealismus gegen den Strom, eine scharfe Analyse des Stalinismus auf politischem und kulturellem Gebiet. Nezval, für Kundera nach Der absolute Totengräber noch der „König“ der Surrealisten, fällt tief; die Auseinandersetzungen innerhalb der Surrealistischen Gruppe sehen Kundera auf Teiges Seite, er wendet sich empört und enttäuscht von Nezval ab.
Doch nach der Abtrennung des Sudetengebiets und dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Tschechoslowakei befindet sich das Land in einem Schockzustand, mit dem man nach und nach lernen mußte, umzugehen. Die literarischen Debatten treten in den Hintergrund.

III
Ludvík Kundera gehört zu jenen Jahrgängen, deren Fortkommen, soweit man unter diesen Bedingungen davon reden konnte, von zwei Anordnungen betroffen wurde: die Schließung der Hochschulen im November 1939 und der Einsatz der Jahrgänge 1918–1922 als Fremdarbeiter im Deutschen Reich (später bis auf den Jahrgang 1924 ausgedehnt).
Nur wenige aus diesen Jahrgängen, wie Ivan Blatný, Jiří Orten, Josef Hiršal oder Zdeněk Rotrekl konnten noch während des Protektorats ein Buch veröffentlichen, teilweise unter einem Pseudonym – wie Jiří Orten – oder als bibliophiler Druck. Die deutschen Besaztungsbehörden ließen die Zensur nach ihren Bestimmungen von tschechischen Beamten im Ministerium für Schulwesen und Kultur ausüben, der Kulturbetrieb ging, wenn auch eingeschränkt, offenbar normal weiter, sofern man sich an die deutschen Gesetze hielt. (Über einen dieser Zensoren schreibt Jaroslav Seifert in seinen Erinnerungen.)
Noch im Herbst 38, das Sudetenland war bereits annektiert, überführte man die sterblichen Überreste Karel Hynek Máchas aus dem besetzten Litoměřice (Leitmeritz) nach Prag, eine der letzten großen Manifestationen nationaler tschechischer Kultur.
Nach dem Attentat vom Mai 1942 auf den Reichsprotektor Heydrich, der seit Herbst des vorangegangenen Jahres das Land mit einer schweren Repressionswelle überzogen hatte, verschärfte sich der Terror zusehends, er betraf das gesamte kulturelle Leben. Der Schriftsteller Vladislav Vančura wurde hingerichtet, František Halas entkam, versteckt in einem Sanatorium, der Verhaftung.
Alles das ist Hintergrund für Kunderas frühe Dichtung und die seiner Weggefährten.

Sein eigenes Dichten liegt während der ersten beiden Prager Semester, in denen ihn vor allem die Poetik-Vorlesungen Jan Mukařovskýs beeindrucken, noch im Schlummerzustand. Im Sommer 1939, Kundera war inzwischen an die Brünner Universität gewechselt, bricht eine Zeit von fast dreieinhalb Jahren ungebremsten Schreibens an: es entsteht fast täglich ein Gedicht nach „surrealistischer Rezeptur“, und Ende 1942 werden aus diesem Papierberg 19 Gedichte von ihm ausgewählt, die die Nezvalsche Technik und Intonation weitgehend verloren haben, denn wichtiger sind ihm jetzt Holans Záhřmotí, 1940 (Nachgrollen) und Křestný list, 1941 (Taufschein) von Jiří Kolář geworden.
In diese Zeit fallen Kunderas dadaistische Experimente, die Gedichte aus dem Hut gezogen, Textcollagen und erste Versuche mit graphischen Techniken, wie er sie in seinem „Roman“ beschreibt. Auch hier standen die Surrealisten Pate, Max Ernst mit seinen Frottagen und Nezval mit den Dekalks, die er im Absoluten Totengräber in seiner Dekalkomanie Revue passieren läßt. Es sind hybride Geschöpfe, die er gemäß der surrealistischen Doktrin, in einem assoziativen Automatismus hervorsprudeln läßt und auf dem Papier mit Schrecken entstehen sieht.
Kundera befindet sich mit seinen graphischen Arbeiten, denen er sich zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlicher Intensität zuwendet, ganz auf der Linie zahlreicher Doppelbegabungen in der tschechischen Kunst und Literatur, wie etwa Ladislav Novák oder Jiří Kolář, freilich ohne deren künstlerische Techniken zu imitieren, aber auch von entfernteren Beispielen, wie etwa Victor Hugo, läßt er sich anregen. Es sind freie Arbeiten, die gelegentlich von literarischen Gestalten, Figuren seiner Dichtung, inspiriert werden, wie im „Romanrisehen Zyklus“, doch oft auch regen seine graphischen Arbeiten Gedichte an.

In JENA irgendwo aus der Höhe
senkt sich Wüstenei herab:
ausgeblichenes Siena
den Faden des Horizonts verstärkt:
Ist es erlaubt
Gelb ein wenig zu verändern?

1942 stellen die Dichter Mizera, Kundera, Lorenc sowie Mirka Miškovská und Istler als Graphiker ihren Sammelband Roztrhané panenky (Zerfetzte Puppen) zusammen, der in wenigen Exemplaren vervielfältigt und als „Protektoratsschwarzdruck“ an Nezval, Teige und Holan geschickt wird. Die Jungen wollen von den „Meistern“ eine Reaktion erfahren, denn untereinander gibt es heftige Auseinandersetzungen darüber, was der Surrealismus sei. Um diesen programmatischen Sammelband der jungen Generation entsteht die spätere Gruppe Ra.

Nach dem November 1939 Halt und Verdienst in verschiedenen Tätigkeiten suchend und ab Januar 1943 als Fremdarbeiter in Berlin-Spandau (auch Skácel teilte dies Los), wird Kunderas Lebensgefühl deutlich und tiefgreifend von den veränderten Lebensumständen bedrängt.
Das Sterben seines Vaters wenige Tage vor dem Transport nach Berlin, die Trennung von der Familie auf unbestimmte Zeit, Abschiede von Freundinnen, von Freunden, die Ungewißheit kommender Monate – all das beunruhigt sein Denken und Fühlen.
Noch vor dem Transport nach Berlin hat er in Brünn an einem Manuskript zu arbeiten begonnen, dem er die Genrebezeichnung Roman, allerdings in Anführungszeichen, zuweist und das den Titel Stále se vracející (Ständig wiederkehrend) trägt. Die Unbestimmtheit des Titels läßt offen, was da ständig wiederkehrt: Züge, Frauen oder Städte. Dieses Manuskript, als Fragment in Brünn zurückgeblieben (er sorgte sich noch aus Berlin in einem Brief an Mutter und Schwester um das Manuskript, als er mit einer schweren Diphtherie in einem Notkrankenhaus Berlins lag und zu sterben fürchtete), beendet er nach seiner Rückkehr in Brünn.
Der bisher im Tschechischen unveröffentlichte Text ist das Psychogramm eines jungen Mannes in jenen angsterfüllten und wirr machenden Zeiten im Protektorat, der auf der Suche nach sich selbst, nach einer Lebensform und nach Liebe ist. Die Suche nach sich selbst ist vor allem Suche nach einer möglichen Art zu schreiben.
Der Text kann auch als das Herumstreifen junger Menschen im Wald des Surrealismus gelesen werden, mit den Verlockungen und Verirrungen, dem Hunger nach Abenteuer und Leben. Allein dies kommt dem Akt einer Revolte gleich und kann vor der Folie der Protektoratsverhältnisse als ein gewagter Balanceakt verstanden werden.

Der „Roman“ hat keine Geschichte, es wird nicht erzählt. In der tagebuchartigen Struktur leuchtet selbstverständlich Bretons Nadja, auch Řetěz štěstí (Glückskette) von Nezval auf, der sich auf Breton beruft.
Es werden Situationen zueinandergestellt, dem Zufallsprinzip folgende tagebuchartige Eintragungen, oft sind es verblüffende Fügungen, Begegnungen, Nachrichten, Träume. Träume, und darin folgt Kundera bedenkenlos seinen surrealistischen Vorbildern, sind für ihn unerschöpfliches Rohmaterial. Dieses Schaffensprinzip begleitet ihn bis auf den heutigen Tag.
Innerhalb des Textes sind jegliche Genregrenzen außer Kraft gesetzt, assoziative registrierende Reihungen mischen sich mit Gedichten, gereimt oder ungereimt, mit Prosagedichten, mit Traumbeschreibungen, Beschreibungen von Bildern der Malerfreunde, mit Dialogen, mit Briefzitaten.
Gegen Ende wird spürbar, wie Kundera sich frei geschrieben hat, der unsichere, auch sehr am individuellen, noch unverarbeitetem Erleben orientierte Anfang wird überwunden, und eine Vielzahl surrealer Einfälle und Zufälle bestimmt das Geschehen. Die Exotik, die den Text durchzieht, oftmals der Jugendlektüre geschuldet, wie Kundera in seinen Erinnerungen bekennt, ist Fernweh, Flucht aus den oft ausweglosen Verstrickungen des Alltags oder der Liebe. Nicht zufällig ist die den gesamten Text durchziehende Metapher die des entschwindenden Zuges. Bewegung, Geschwindigkeit, Ortsveränderung üben einen unglaublichen Sog aus:

Erneut Züge, hochwehmütige Zufluchtsorte, die zum grausam rhythmischen Träumen zwingen.

Keine meiner erotischen Geschichten ist beendet. Ach ja, die Züge entschwinden.

Und selbst im konzentriert poetischen Beginn durch die Eingangsgedichte wird alles Geschehen mit Zügen in Zusammenhang gebracht:

Planetarische Pfeife
Distichon des Gebells
Rangieren gestrandeter Züge

Diese Metapher wird sich in der späteren Dichtung Kunderas verlieren. Die Bewegungsart verändert sich, und vor allem in den siebziger und achtziger Jahren erstarrt jegliche Bewegung, es dominieren oftmals Unwirtlichkeit und Kälte.

Haltepunkte für den jungen Mann, Ankerplätze seines Geistes und seiner Gefühle, sind anfänglich Tristan Tzara, später der Surrealist Vítězslav Nezval. Tzara, weil er einer damaligen Seelenlage entspricht, Nezval, weil er in Glückskette wohl am konsequentesten dem surrealistischen Prinzip des automatischen Schreibens folgt, mit dem auch Kundera und seine Freunde Lorenc und Zykmund damals experimentieren, um es jedoch bald wieder aufzugeben.
Wie eigenständig sich der „Roman“ behauptet, zeigt die Tatsache, daß der Totaleinsatz in Berlin-Spandau in diesem Text kaum eine Rolle spielt, obwohl jene Monate wie ein Keil in die Zeit der Niederschrift getrieben waren.

Das Erlebnis des Totaleinsatzes wird in der Novelle Berlin verarbeitet, ein hochartifizielles Gebilde (geschrieben im Mai 44), in überlegter Komposition und intensiv sprachlich geformt, eine lyrische Prosa in ähnlich assoziativen Reihungen wie sie aus surrealistischen Texten und auch aus seiner Poesie aufleuchten. Es sind nur noch Spuren einer Realität, die Kundera zuläßt, Fieberhalluzinationen, komprimierte Traumprotokolle, das Ich spaltet sich, ein Doppelgängermotiv zieht sich durch den gesamten Text.
Es sind nicht die „Schönheiten der Welt“, die bedichtet werden, es ist das Geworfensein des Menschen in die Zeit. Der existentialistische Ton, der hier spürbar wird, ist Ausdruck des Zeitgeistes einer jungen Generation, die versucht, mit ihrem tragischen Lebensgefühl zurechtzukommen. Halas mit dem Band Dokořán (Sperrangelweit) und Holan dürften dabei nicht ohne Einfluß auf ihn gewesen sein.
Hier nähert sich Kundera einer Einstellung zur Wirklichkeit, wie sie die Dichter der Gruppe 42 vertreten, die sich gegen eine Poesie der „ewigen Werte“ wenden. Der illusionslose Alltag, die Großstadt sind ihre Themen in Poesie, Malerei und Fotografie.
Auch hier wieder das Motiv der Bewegung, des Entschwindens, der davonfahrenden Züge – Geschwindigkeit und filmschnittartige Veränderung der Szene, die Wirklichkeit, die nur noch halluzinatorisch zu erfassen ist. Doch auch die Verkehrung brutal erlebter Wirklichkeit in einen Traum – und sei es nur für einen Moment, wenn Berlin zu Paris wird, wenn die zufällige Begegnung die Begegnung mit einer Französin ist, auch wenn die exotischen Augen einer Malaiin (eine ferne Erinnerung an Biebls Poem „Ikarus“) immer wieder aufblitzen.

Mit ähnlichem Material, ein Gemisch aus innerer Wirklichkeit und den brutalen Bildern des erlebten Krieges, mit den Metaphern, die auch seine Prosa durchziehen, arbeitet der 1944 entstandene Gedichtzyklus Živly v nás (Elemente in uns):

Züge die entschwanden
Frauen denen ich entschwand
hinausgebeugt aus Nacht in Nacht
Frauen die mir entschwanden
künftige
und mit schlafwandlerischen Gesten
als sie in Tunnel verschwanden die in uns münden

Von neuem erzittern wir
vor Begebenheiten die dröhnen
und uns in noch wehrloseres Seufzen verwandeln
von neuem erzittern wir
wenn in unsere innersten Labyrinthe
Explosion um Explosion hallt
und Rauch angebrannter Körper
Züge rangieren unter niedrigen Sternen
Schlamm fliegt auf

Ständig wiederkehrend auch hier Zugvögel, Züge, Wartesäle, Abfahrten.
Die drei Novellen Berlin, Kongo und Konstantinopolis (auch Kongo trägt deutliche surrealistische Spuren: das Interesse am Kriminalfall und schwarzen Humor), allesamt 1944 entstanden, bilden den Band Konstantina (1946), für den Kundera den Otakar-Theer-Preis erhält. Im selben Jahr erscheint der Gedichtzyklus Elemente in uns, von Miloš Koreček mit Fokalks, einer von ihm entwickelten graphischen Technik, ausgestattet.
Die damit eingeschlagene künstlerische Entwicklung endete, wie bei vielen Autoren seiner Generation, in einem schwarzen Loch. Es blieb nicht einmal Zeit zur Rezeption dieser Literatur, an eine Weiterführung unter dem bald einsetztenden Diktat vom sozialistischen Realismus war nicht zu denken, wie der Versuch eines Almanachs zeigte, den 1956 Josef Hiršal und Jiří Kolář, beide Mitglieder der Gruppe 42, unter dem Titel Život je všude (Das Leben ist überall) zusammengestellt hatten und der lediglich als vervielfältigtes Schreibmaschinenmanuskript heimlich kursieren konnte.

IV
In dieser frühen Phase folgt seine Poesie dem Prinzip, möglichst solche Objekte zueinander in Beziehung zu setzen, die so weit wie möglich voneinander entfernt sind. Das Gesetz der äußersten Verknappung als ein Grundprinzip der modernen Poesie begreifend, lenkt er seinen Blick auf Objekte, die, für sich genommen, oft uninteressant und banal erscheint, in der Kombination, dem Aufeinanderprallen mit anderen Objekten aber zu unerwartetem Glanz kommen.
Kundera folgt der surrealistischen Praxis, herkömmliche Sehweisen, die eingebürgerten Vorstellungen von Zeit und Raum zu negieren, eine neue rasende und schattenhafte Welt zu erschaffen.
Repliken auf erkennbare Situationen der Protektoratszeit sucht man allerdings in seinen Gedichten vergeblich, vielmehr ist nur ein Zittern unter der Oberfläche spürbar, eine Irritation, die übliche Ordnung der Dinge ist gestört.

Nichts Ungewöhnliches. Mitternachtsstädtchen, Haifischvollmond.
Folterkammern der Katzen, Selbstmorde, Zerbrechen am Kamin.
Hie und da ein Stück Hundezunge.

Assoziativ werden einzelne Wörter und Sachverhalte aneinandergereiht, die allesamt einzeln interpretiert werden können, und aus jedem sind eine oder mehrere Bedeutungen herauszulesen. Zwischen ihnen wird ein Zusammenhang hergestellt, der unklar bleibt, ja unklar bleiben soll:

So rutsche ich zwischen Hohlwege führerloser Ballons
zwischen Hohlwege vor allem weiblicher

Je mehr zwei Objekte sich voneinander abstoßen, um so rücksichtsloser müssen sie zusammengebracht werden:

Sadistische Gärten
wo Rückenmark wie Weichseln hängt

Alles bleibt rätselhaft, unergründbar und unbegründbar. Und wie um all die Unwägbarkeiten abzuwiegeln, beginnt der Vers mit:

Nichts Ungewöhnliches

Diese surrealistischen Verfahren sind in allen Gedichten mehr oder weniger ausgeprägt, und nur in Einzelfällen ist der Zeithintergrund deutlicher ablesbar:

Ständiges Todesläuten
unter den Sternen

Angeschlossen an die monströsen Hebel
des nahenden Morgens
klaren die Umrisse unserer Köpft auf

Mit dem nachlassenden Druck durch die Zeitereignisse macht das poetische Grundmodell Wandlungen durch. Die nahe, von Bedrohung und Ungewißheit freie Zukunft, schafft leichtere, berauschendere und euphorischere Gedichte (etwa „Keilschriftschreibender Lampenanzünder“), einen surrealistischen Zaubertrank für die geduckte und gepeinigte Seele.
Die erlebten Erschütterungen jedoch bleiben, werden aber mehr und mehr in Bilder und Metaphern transponiert, aus denen alles naturalistische Erleben getilgt ist.
Als Kundera zum Jahreswechsel 45/46 das Gedicht „Tolik cejchú“ („Soviel Brandzeichen“), mit einer Kaltnadelradierung von Josef Istler versehen, als Neujahrsgruß auch an seinen Universitätslehrer Jan Mukařovský nach Prag geschickt hatte, schrieb dieser ihm, die Verse

Morgens und im Herbst
erhoben sich Skelette
ferne Ursachen
so bedingungslose Horizonte daß wir uns in den Sand wühlten
nur um nicht Zielscheibe zu sein

hätten eine so exakte Definition des „noetischen Anteils“ der vergangenen Jahre geliefert, wie er sie bisher noch nicht gelesen habe (im Brief an L. K. vom 10. Januar 1946).

Die gegen Ende des Krieges entstandene Sammlung Klínopisný lampář (Keilschriftschreibender Lampenanzünder) bringt ein Moment ins Spiel, das für Kundera zunehmend Bedeutung gewinnt: das Spiel mit der Sprache, das Spiel mit dem Wort. Man könnte von seinem dadaistischen Erbe sprechen. Einen, den er beerbt hat, auch indem er ihn übersetzte, ist Hans Arp, und Kundera hält jene „zufällige“ Begegnung mit Arp 1946 in Paris noch heute für schicksalhaft.
In diesem Zyklus beruht die Freude am Spiel und der erotische Untertext auf dem Doppelsinn des tschechischen Wortes klín, das sowohl Keil als auch Schoß bedeutet.

Auch dem Schoß
wollte ich eine hinreißende Ode widmen
deshalb studierte ich die Schoß-Keilschrift

In der tschechischen Poesie führt eine Linie des erotischen Gedichts von Vrchlický, über Gellner bis zu Nezval und Halas, aber auch die Gespräche der französischen Surrealisten zur Sexualität dürften von Bedeutung gewesen sein.
Der Zyklus, am Tag der Befreiung Brünns durch die Rote Armee beendet, zeugt von einer unglaublichen Euphorie, einer Atmosphäre, in der Eros und Thanatos dicht beieinander lagen. Nur wird Kundera nicht pathetisch, er überzieht das gesamte Geflecht dieser 30 Gedichte mit einem deutlichen Hauch Ironie:

Hähne schärfen ihre Säbel
Spatzen ihre Flügel
Für andere Tiere
ist der Tag nicht rein genug

oder

In Schokoladenhelmen
unterm Arm Sauerstoff
mit unüberwindlichen Schnappmessern auf denen Flecke abgekragelter Metaphysik rosten

Das sexuelle Spiel triumphiert über die Nervosität der Tage, über die Angst, über die Ungewißheit, und in keinem Vers ist etwas vom Pathos der Befreiung spürbar, von den Hochgesängen, vom Loblied auf die Soldaten der Roten Armee, von der erwartungsvollen Zukunft, wovon in Versen von Halas bis Holan, von Hrubín bis Nezval, von Seifert bis Biebl damals zu lesen war.
Ganz lapidar, aber hocherotisch gehen die Verse zu Ende:

Also auf bald
sagten beide sich ihre schwieligen Dichterhände drückend
währenddessen der Lampenanzünder den Großen Wagen anbrannte

Die Ironie bestand auch darin, daß es ein Tscheche war, Bedřich Hrozný, weltberühmter Assyriologe, erst an der Wiener, dann an der Prager Universität, der die Keilschrift der Hethiter, ein altorientalisches Volk, das im östlichen Kleinasien am Beginn des 2. Jahrtausend v.u.Z. lebte, entzifferte.
Erst 1948 erscheint der Band in einer Auflage von 1.000 Exemplaren in dem linksorientierten Verlag Svoboda (Freiheit) und erregt sofort Anstoß. Im Oktober 48 druckt das Parteiorgan der KP Rudé právo (Rotes Recht) unter der Überschrift „Ein literarischer Irrtum“ eine Rezension, in der „von einem schädlichen Experiment Kunderas“ gesprochen wird und in der es weiter heißt:

Heute, wo bei uns die Arbeiterklasse die Kräfte im Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde mobilisiert, muß auch die Literatur ihre Kampfaufgabe begreifen.

Der kurze Traum, in einer vorsichtig sich entwickelnden Demokratie den gezügelten, unterdrückten und geheimen Versuchen aus einer mehrjährigen Leidenszeit freien Lauflassen zu können, war offenbar ausgeträumt. Der sich stark formierenden kommunistischen Machtphalanx, von vielen Intellektuellen noch nicht als das erkannt, was sie alsbald sein sollte, war wiederum nur mit ähnlichen Mustern zu begegnen, die noch keine zehn Jahre zurücklagen: einer Spaltung der Literatur in eine offizielle, eine heimliche und eine im Exil, eine Situation, die sich nach 1968 abermals wiederholte und bis 1989 andauerte. Nach 48 verließen Ivan Blatný, Milada Součková, Ivan Jelínek und der junge, mit mehreren Gedichtbänden zwischen 1945 und 47 hervorgetretene František Listopad – um nur von den Dichtern zu sprechen – das Land. Für Kundera war der Exilgedanke auch einen Moment lang verlockend, zumal er 1947 ein Angebot bekam, in die Schweiz zu gehen, doch familiäre Bindungen waren stärker. Deshalb kam auch nach 1968 ein solcher Weg nicht in Betracht.

V
Nach dem Mai 45 war es wiederum die Poesie, die Zeitströmungen, Atmosphäre und Gefühle, am entschiedensten und klarsten artikulierte. Die aus der Zeit des Poetismus und später des Surrealismus überkommene Symbiose zwischen Dichtung und Malerei (berühmt die vielen Buchgestaltungen und Illustrationen, die zunächst stark vom Kubismus, später vom Surrealismus geprägt waren) setzte sich fort, war sogar während des Protektorats oft als Trojanisches Pferd die einzige Möglichkeit, Texte zu drucken und bestimmte auch nach 1945 die künstlerische Szene. Es nimmt nicht Wunder, daß in allen sich um diese Zeit formierenden Gruppierungen, wie der Gruppe 42 oder der Gruppe Ra, stets Dichter mit Malern und Photographen zusammengingen.

Die Gruppe Ra gehörte damals zu den vielen existierenden losen Gruppen, Zirkeln, Kreisen, deren Grenzen fließend waren, die nicht – wie es Kunsttheoretiker gerne hätten – auf Gründungsmanifeste und Mitgliederlisten verweisen konnten. Als Surrealisten verstanden sich neben dem Torso der 1934 gegründeten Surrealistischen Gruppe (in der lediglich Teige, Toyen und der hinzugekommene Heisler noch aktiv waren) allein in Prag drei solcher Zirkel, die sich nach Prager Stadtteilen benannten (Žižkov, Spořilov, Michle), es gab eine Gruppe in Louny, einer Stadt etwa 70 km nordwestlich Prags (wahrscheinlich durch Biebl inspiriert), und auch in der Slowakei, in Bratislava, hatte sich ein Kreis gebildet. Nach 1939 war die Arbeit nur noch in der Illegalität möglich, dennoch bestanden untereinander viele Kontakte.
Die Ra-Wurzeln gingen bis auf die von Zykmund begründete Edition Ra zurück, deren erste Nummer (Bretons Weise des Wassers) 1937 in Rakovník erschien und die es auf sieben Ausgaben brachte.
In der Gruppe – sie verstanden sich als die „jüngeren Surrealisten“ (im Unterschied und zur Abgrenzung von der Surrealistischen Gruppe, aber auch als eine andere, neue Generation) – fanden sich Künstler aus Brünn und Prag zusammen (Istler, Koreček, Lacina, Reichmann, Tikal, Zykmund). Sie stellten gemeinsam aus, veranstalteten Aktionen, die spätere Happenings vorwegnahmen, die Katalogtexte wurden von den Dichtern verfaßt (Kundera, Lorenc).
Vor allem Václav Zykmund war es, der die Debatte um eine neue inhaltliche Bestimmung des Surrealismus forcierte und in der Auseinandersetzung mit Teige als dem Vertreter des Vorkriegssurrealismus in der ČSR klären wollte, wie man zusammenarbeiten könne. Doch die gemachten Erfahrungen und wohl auch die Erwartungen differierten zu stark, so daß man auf keinen gemeinsamen Standpunkt kam.
Kundera, der für den Sammelband A zatimco válka (Und unterdessen Krieg), der verspätet als 3. Edition der Gruppe Ra im Sommer 1946 erschien, die Einführung schreibt, konstatiert, daß die zehn vertretenen Künstler weder eine einheitliche Gruppe noch eine neue Richtung manifestieren wollen. Im Kreis der Gruppe Ra gingen inzwischen die Debatten weiter.

In einem im Dezember 1946 von Lorenc und Kundera in der Brünner Zeitschrift BLOK (Kundera war deren Redakteur) veröffentlichten Artikel stellten sie die Gruppe Ra als junge aufstrebende Surrealisten vor, deren Ziel es ist, die „latenten revolutionären Kräfte der Kunst“ zu verfolgen, wobei sie mit den jungen französischen und belgischen „Revolutionären Surrealisten“ sympathisierten, die sich gegen ihre „Vaterfigur“ Breton auflehnten, auch den psychischen Automatismus im Kunstschaffen in Zweifel zogen.
Sie bauten allerdings zu sehr auf Möglichkeiten, die ihnen die kulturpolitische Propaganda der KP suggerierte. Im Januar 1947, als die Gruppe in Brünn ausstellte, hieß es im zweiten Sammelband Skupina Ra (Gruppe Ra) in ihrer programmatischen Erklärung, daß für sie die Frage, ob sie Surrealisten seien oder nicht, ungelöst bleibe, was der Literaturhistoriker und Theoretiker Václav Černý mit dem Satz kommentierte, daß die Gruppe Ra Lust habe auf den Surrealismus, aber auch wieder nicht.
Karel Teige hielt die in dieser Erklärung verkündeten Grundsätze für so konfus, daß er darin keine Möglichkeit mehr zu einer Zusammenarbeit sah. Aus ihrer Unentschiedenheit innerhalb der Kunstszene, dem Bekenntnis zum „revolutionären Surrealismus“, falls notwendig auch zum Verzicht auf surrealistische Positionen, sprachen bereits die immer mehr beschnittenen Freiheiten und der einsetzende Druck der Kommunistischen Partei, die im Februar 1948 die Macht an sich riß. So löste sich denn im Herbst 48 die Gruppe auf (Lorenc wurde später sogar verhaftet und saß ein Jahr im Gefängnis), einzelne Mitglieder beteiligten sich weiterhin an den immer seltener werdenden Ausstellungen. Auch der Spielraum der übrigen Gruppierungen verengte sich rigoros, bis auch sie zum Erliegen kamen.
Zeitschriften wurden eingestellt, Verlage geschlossen, Bibliotheken „gesäubert“, das Schriftstellersyndikat aufgelöst und ein neuer Schriftstellerverband gebildet, in den Kundera wegen „mangelnder Berufserfahrung“ nicht aufgenommen wurde, aber auch Halas, Holan, Seifert, Zahradníček und Teige gehörten dem neuen Verband nicht an. Was bis jetzt nicht gedruckt war, blieb unveröffentlicht.
Erst 1961 konnte der Band Tolik cejchů (Soviel Brandzeichen) mit Texten, die in den Protektoratsjahren und kurz danach entstanden waren, erscheinen – es war die Stimme eines Dichters, die für eine andere Zeit bestimmt war, für andere Leser, ein Phänomen, das auf eine ganze Reihe tschechischer Dichter in dreimaliger Folge zutraf.

VI
Noch am Ende der dreißiger Jahre löst sich Kundera vom „Magnetgebirge“ Nezval. Zunehmend wird der Dichter František Halas für ihn wichtig, dessen Poetik sich nur in wenigen Gedichten in vorsichtiger Nähe zum Surrealismus befand und für Kundera ein anderes Modell darstellte.
Halas, der Solitär unter den tschechischen Dichtern, hielt zu allen Richtungen und Tendenzen immer einen gewissen Abstand, blickte illusionslos, manchmal düster, voller Skepsis und oft auch tiefer Verzweiflung auf das Leben. Seine Dichtung meidet assoziativen Reihen, bevorzugt eine genaue sprachschöpferische Arbeit am Wort, hat Freude am unverbrauchten Ausdruck, ist knapp und erschließt sich erst bei intensivem Lesen. In Kunštát hielt Halas sich schon während des Protektorats auf (aus der Gegend kommen alle seine Vorfahren), und Kunštáts Ruf als Ort der Dichter hat darin seinen Ausgangspunkt. Es verwundert nicht, daß Kundera schon bald einer der jungen Leute aus Brünn war, die sich um Halas scharten. Nach dem Abschluß seines Studiums hatte er vor, Halas nach dessen Poetik auszufragen und über einen noch lebenden Dichter seine Doktorarbeit zu schreiben. So fand Halas in Kundera seinen profundesten Kenner. Der Tod von Halas 1949 und die bald darauf einsetzende Verdammung durch die kommunistischen Parteiideologen verhinderten nicht nur den Abschluß der Arbeit, sondern auch das Erscheinen eines Nachlaßbandes (A co? – Und was?), den Kundera erst 1957 herausbringen konnte. Die Herausgabe der Werke von Halas, im wesentlichen die Arbeit Kunderas, verzögerte sich endlos (Band I kam 1968 heraus, Band VI endlich im Jahr 2001).
Nach 1948 schwieg Kundera lange, denn Vilém Závada hatte ihn davor gewarnt, etwas zu veröffentlichen, das den „Anforderungen der Zeit“ entsprach.
Schon 1947 war in Kunderas Übersetzung der Roman Die andere Seite von Alfred Kubin erschienen, diese Arbeit nahm er aus Existenzgründen wieder auf, übersetzte zunächst Romane aus dem Deutschen, aber mehr und öfter übertrug er Dichtung. Und auch da gab es jenen Anfang, der einem Zufall geschuldet war – die Übertragung von Hans Arps weißt du, schwarzt du (1943). Seine sehr frühen Freundschaften zu deutschen Dichtern wie Huchel, Arendt, Fühmann, Kunze, Kunert, seine Bekanntschaft mit Brecht – immer führten sie zu umfangreichen Übersetzungsprojekten, deren Ergebnisse oft erst nach Jahren vorlagen. Trakl, Heine, Georg Heym, Celan, Benn, Morgenstern, Kirsten und viele andere kamen hinzu, heute ein Konvolut von mehreren tausend aus dem Deutschen, aber auch aus anderen Sprachen übertragenen Gedichten.

1956 startet Kundera ein Experiment, das weitreichende Folgen haben sollte. Aus Gedichten und Liedtexten, einschließlich „dokumentarischer Beilagen“, beginnt er ein Stück zu montieren: Historie Velikého Kýžala (Geschichte vom Großen Kýžal), das 1962 in Brünn uraufgeführt wurde und dem bis heute 30 dramatische Arbeiten folgen sollten – Theaterstücke, Hörspiele, Fernsehspiele, Opern- und Ballettlibretti.
Die Geschichte vom Großen Kýžal ist eine bitterböse satirische Farce über einen Funktionär und seine Trabanten. In der Form knüpft Kundera an Traditionen der tschechischen Theateravantgarde, vor allem bei Voskovec und Werich, an.
Die Zensur verbot das Stück. Die Erklärung des Autors, es handele sich lediglich um einen „kleinen Kreisfunktionär“ und nicht um einen Hochgestellten, um der Satire die Spitze zu nehmen, konnte die Zensoren natürlich nicht überzeugen.

Auch auf die Zeit des Totaleinsatzes in Berlin-Spandau kommt Kundera noch einmal zurück, als Totální kuropěni (Totaler Hahnenschrei) auf Anregung des Dichters Peter Huchel entsteht, dem er das Stück auch widmet. Es wurde 1961 in Brünn uraufgeführt, wiederum deutlich an die tschechischen Theatertraditionen aus den dreißiger Jahren angelehnt, ein Stück mit „vielen Personen und einem Jazzorchester“. Seine Erfahrungen als Autor kann Kundera für kurze Zeit in die Arbeit des Brünner Mahen-Theaters einbringen, als er dort von 1968 bis Anfang 1970 Chefdramaturg ist, bevor er zur persona non grata wurde.

VII
Die aufkeimenden Hoffnungen in den sechziger Jahren enden in einem jähen Sturz.
Kundera reagiert darauf mit dem Zyklus Spád věcí, 1968 (Fall der Dinge), doch ist das in seiner Dichtung eine durch Wut und Erschütterung ausgelöste Ausnahme. Es gibt in seiner Poesie keine vordergründig politischen Texte. Verallgemeinerungen zum großen Weltentwurf fehlen gänzlich, dies ist nicht seine Sache, für ihn ist die Welt konkret, sinnlich, überschaubar, ein Konzept, das ihm vor allem in den dunklen Zeiten der siebziger und beginnenden achtziger Jahre die Möglichkeit gibt, überhaupt weiter schreiben zu können. Die Sammlung Malé radosti (Kleine Freuden) ist ein Beispiel, wie die Dinge des Alltags durch Kundera wieder ihre ursprüngliche Bedeutung erhalten, liebevolle Minituren aus einem „reduzierten Leben“.
Doch schon ganz am Ende der fünfziger Jahre tauchen in dem Band Letní kniha přání a stiznosti (Sommerbuch der Wünsche und Beschwerden), erschienen erst 1962, ganz andere Töne auf, als bisher:

Von kindheit an verbinde mit dem heu ich
das wort traum.
Nie schlief, nie träumte ich im heu.
Doch jahr für jahr
erregt es mich.

heißt es im Gedicht „Grummetwunsch“, Jan Skácel gewidmet und in Altes Dorfmotiv, seinem Freund František Hrubín zugeeignet:

Späte Mittagsschwüle. Stille, Stille.
Von fern nur sehnsuchtsvoll das Flügelhorn,

Das lyrische Subjekt ist wieder gegenwärtig, die Metaphorik zu entspannter Bildlichkeit zurückgekehrt, die Traumata der Kriegszeit scheinen überwunden, doch die Idyllik trügt:

Um die Grube tiefer jetzt die Stille.
Unsichtbare Schollen dröhnen.
Und über der Schwüle
unsichtbar ein Bomber

Nach 1970 und dem über Kundera verhängten Publikationsverbot wird er zunehmend isoliert, um zu überleben – seit 1955 ist er freischaffend – übersetzt er unter einem falschen Namen. Ab 1976 mit der Familie ständig in Kunštát lebend, vertieft er sich wieder mehr und mehr in die Sprache und beginnt am Zyklus über die tschechischen Fälle zu arbeiten, ohne jemals an eine Veröffentlichung denken zu können. Pády (Die Fälle) erscheint erst 1992 mit einem Nachwort seines Freundes Emil Juliš, der ebenfalls seit 1970 mit einem Publikationsverbot belegt war. In einzelnen Gedichten läßt Kundera die großen, auch versteckten und vergessenen Möglichkeiten der tschechischen Sprache aufklingen, die besonders im wunderbaren Instrumental – dem siebten Fall – und im Genitiv aufleuchten:

Nicht einmal dessen kann ich also tun…
Denn es gehört sich nicht der Welt zu frönen
wenn die Welt doch so voll des Unflats ist
War dessen früher nicht?

Er stellt sich damit in eine Tradition der tschechischen Dichtung, die sich in Momenten der Finsternis immer auf ihre Wurzeln besinnt, Halas ist ihm dabei sein engster Anverwandter. In diesem Zyklus zeigen sich sogar wieder die surrealistischen Anfänge, und ab und zu hallt auch ein dadaistisches Echo herauf (zum Beispiel in Gorizia 1966). Dieses Echo wird in el do Ra Da(da), zwischen 1974 und 1978 entstanden, zu einer Stimme, die seinen Freunden in der damaligen DDR huldigt.
Natürlich verlassen ihn nicht die Träume – er kommt wieder auf Nezval zurück, hat er sich mit ihm ausgesöhnt? – und er schreibt mit steter Regelmäßigkeit von nächtlichen Phantomen, die ihn im Traum heimsuchen, von Städten, in die er reist, von Begegnungen, die ihn peinigen (Sny, Träume, entstanden 1979). Aus Tiefen werden immer wieder Bewußtseinsbruchstücke heraufgeholt:

TRAUM HALBJÄHRLICH WIEDERKEHREND
Du taumelst
in Kulissen zwischen Schauspielern und Technikern
im festgesetzten Augenblick stößt irgendwer dich
auf die Bühne wo man spielt
im Licht der Scheinwerfer
triffst du auf unbekannte Leute in Kostümen
siehst vor dir
den bodenlosen Saalabgrund

Zu Beginn der neunziger Jahre hat sich seine Traumwelt gewandelt. Im Poem „Počátek románu“ („RomanAnfang“) aus dem Band Sny též (Auch Träume) erscheinen andere Gestalten. Es sind Figuren einer untergegangenen Welt wie die Baronin Dubská, bekannt unter dem Namen Marie von Ebner-Eschenbach, und Ferdinand von Saar, österreichische Erzähler, Graf Salm, die auf Schlössern und Herrensitzen ganz in Kunderas Nähe lebten und die erinnerungsgetränkt, mit einer bunten Schar realer und fiktiver Gestalten durchmischt, zusammenkommen, um mährischen Wein zu trinken (Kundera, der Weintrinker und Kundera, der Teekenner, worüber er viele Gedichte schrieb) und um sich ihre Träume zu erzählen. Natürlich fehlt Jakub Deml nicht, dessen in seine Prosa eingefügten Träume schon die Prager Surrealisten hinrissen.
Mit einem ganz und gar nicht nostalgischen Erinnern lebt das untergegangene k.u.k. Österreich auf, eher ist es ein großes surreales Palavern, in dem die dämonischen und hybriden Traumphantome von einst ihre Macht eingebüßt haben; der Autor hat ein durchaus kooperatives Verhältnis zu ihnen gewonnen:

Jedoch da
tauchte in der letzten Biegung ein nicht ganz junger Mann mit dunkler
Brille auf. Beim Knarren, Quietschen, Krachen dieses Leiterwagens
und im Geschrei das in Gejohle überging
verhörten alle seinen Namen
Bereitwillig half er dem Helden auf die Fuhre
gewandt ahmte den Peitschenknall er nach
verbeugte sich dann und war fort.

Nur für die laute Schar die zog war er verschwunden
in Wirklichkeit half er die Fuhre hinten schieben
der Ludvík Kundera.

Mähren als „Schauplatz“, Mähren auch als Anker. Von dort die Reisen im Geist, wie die in den Jahren der „Kälte“ in „Städte, wo ich niemals war“ (Vzpomínky na města / mista kde jsem nikdy nebyl / Erinnerungen an Städte / Stätten wo ich niemals war). Erstaunlich, in welchen Varianten die Metapher der Kälte auftaucht, das Bild unwirtlicher Weltgegenden, natürlich gepaart mit einem ironischen unterkühlten Blick (die Möglichkeiten der Ironie, wie sie seit der deutschen Romantik sichtbar wird, hat Kundera genau studiert), da bekommt selbst Prag seinen Hieb, von dem er vorgibt, niemals dort gewesen zu sein.

An die Seite dieser„ Traumerinnerungen“ traten seit Anfang der neunziger Jahre wirkliche Erinnerungen. Es sind Erinnerungen an Freunde und an die Familie, wobei die enge Beziehung Kunderas zu bildenden Künstlern auffällig ist, auch die zu den Theaterleuten.

Wenn Halas bekennt, „mein Heimatland ist Mähren, geboren bin ich in Brünn, doch mein Herz und meine Sinne sind… dort bei Kunštát“, so gilt das auch für Kundera.
Aus Brünn und Mähren kommen viele Berühmtheiten, manche zog es nach Prag (wie Nezval oder Hrabal), andere, wie Skácel oder Mikulasek blieben. Mähren ist eine Daseinsform, auch in der Poesie – unglücklich glücklich.

Radonitzer, Nachwort

 

Ludvík Kundera

zählt zu den bedeutendsten tschechischen Autoren. Diese Auswahl stellt den Dichter, Erzähler, Essayisten und bildenden Künstler erstmals angemessen vor.
Das Spektrum reicht von früher surrealistischer Lyrik und Prosa wie der Novelle „Berlin“ bis zum Spätwerk aus den letzten Jahren. Der Erstabdruck von wiederaufgefundenen Texten macht Kundera als Vertreter einer literarischen Moderne erfahrbar, die während der Besatzung durch die Deutschen und nach 1948 – aus ideologischen Gründen – keine Gelegenheit zur Entfaltung bekam. Der Band spiegelt Kunderas Position als unangepaßter Künstler und seine überragende Rolle als Vermittler zwischen tschechischer und deutscher Literatur.

Arco Verlag, Klappentext, 2007

 

Bitte nicht kommentieren

– Eduard Schreiber entwirft ein Lebensbild Ludvík Kunderas. –

Mit Band 6 der BIBLIOTHEK DER BÖHMISCHEN LÄNDER legt Eduard Schreiber, profunder Kenner der tschechischen Literatur, Übersetzer und Nachdichter, einen, historisch gesehen, Gewinn bringenden Band vor, in dem am Beispiel eines bewegten Lebens die außerordentliche Leistung der tschechischen Literatur der letzten hundert Jahre vor dem Hintergrund europäischer Geistesentwicklung beleuchtet wird. Der Band – Ludvík Kundera, el do Ra Da (da) – umfaßt authentische Schriften, Reflexionen, poetische Texte, Bilder, Fotografien. Neben der deutschen finden sich auch einige Texte in Originalsprache. Der abschließende Essay „Eine Handvoll Mohn in die Träume“ von Radonitzer (augenscheinlich identisch mit dem Herausgeber) positioniert sich als Abriß tschechischer Literaturgeschichte. Versehen ist der Band mit einem reichhaltigen Anhang, Anmerkungen, Worterklärungen und einer umfassenden Biobibliographie.
Ausgehend von der besonderen Rolle, die Prag und die tschechische Literatur in der europäischen Moderne mit Jiří Wolker, Vítézslav Nezval, František Halas spielen, wird der Weg eines Autors nachvollzogen, dessen Werk an den neuralgischen Punkten der vertrackten Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der Stalindiktatur, des Prager Frühlings, der durch die Opposition mit Václav Havel an der Spitze eingeleiteten Wende und Nachwende – vernehmbare Zeichen setzt.
Ludvík Kundera, Zeitzeuge und Autor von beispielgebender Integrität durchläuft die Phasen tschechischer und eigentlich auch europäischer Literatur- und Kunstentwicklung vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kataklysmen als unmittelbar Betroffener und sensitiv reagierender Beobachter, indem er mit seiner Poesie, selbst in den Phasen befohlenen Schweigens, seiner Generation und der Generation jüngerer tschechischer und selbst deutschsprachiger Dichter Orientierung bot.
Seine grundlegenden Erfahrungen sammelt er offenkundig im Zweiten Weltkrieg. Von den expressiven Methoden künstlerischen Schaffens angeregt, beginnt er mit adäquaten Gedichten:

Und während sie spielten
kollerte dein stranguliertes haupt
in meine arme

Wir richteten auf am scheideweg
die neue totenmaske

(„drohender Kompass“, 1944),

Im surreal gestalteten Einstiegstext, „Berlin“ (1944), gelangt er zu „komprimierten Traumprotokollen“. Hier gestaltet sich ein gespaltenes Ich, der junge Autor reiht die wirren Eindrücke einer Jugend in Berlin aneinander, verarbeitet die Erlebnisse seines Zwangseinsatzes als Tscheche im nazistischen Deutschland: „Schneckenhaus, Stadt, zerbrochene und blutende Tore. Schlüpfriges Pflaster…“ – „Ich trat ein zwischen Fels und Wald und sperrte mit dem Schlüssel zu. Eine riesige Trommel schlug. Im heißen Luftzug peitschten mir die Haare in die Augen. Ich schloß sie nicht.“ Daß es Kundera vorrangig darum ging, seine Integrität als dichtender Tscheche nicht aufzugeben, beweist seine Abkehr vom Haupt der surrealistischen Bewegung, Vítézslav Nezval, dem er künstlerisch zunächst sehr nahe stand, in den dreißiger Jahren. Da sich Nezval zur Richtigkeit der stalinistischen Schauprozesse bekennt, reagiert Kundera u.a. mit einem Gedicht, „Magnetgebirge“ „Oh himmelragendes Ei! // Die Windmühlen der Imagination / rumpeln auf vollen Touren… Reim kopuliert mit Reim!“
Das Kürzel „Ra“, Bestandteil des den Buchtitel gebenden Gedichts, verweist u.a. auf die „Edition Ra“ und deren Begründer, Václav Zymund, ebenso auf die „Gruppe Ra“, die im Krieg zueinander fand. In seinem Gedicht „el do ra Da (Da)“ beschwört Kundera diese seltsame Formel herauf, die, im tschechischen Original ohne diakritische Zeichen, ein dadaistisches Spiel ist, „ohne Ringlein Strich und verbissene Häkchen / mit richtigen häufigen Tippfehlern / große Kiepen / große Kisten aus denen springt / der große // el do ra Da (Da)“, „ersehnte Unwohllaute“, Zeichen, nicht konform mit dem, was offiziell war und in seinem Anspruch plakativ.
In der Zeit des Publikationsverbotes nach der Beseitigung der Dubček-Regierung solidarisieren sich oppositionelle Schriftsteller der DDR mit dem Verfemten, besuchen ihn und sorgen für einen Transport seines Denkens und Dichtens in die DDR, Autoren wie Franz Fühmann, Reiner Kunze, Günther Kunert, Heinz Czechowski, Wulf Kirsten, Uwe Grüning. Wie stark sich Kunderas Einfluß auswirkte, dürfte folgendes Beispiel belegen. Der Dichter verfaßte einige für die Situation bezeichnende Gedichte unter dem Titel „Überwintern“. In Reiner Kunzes provokantem Text von der Stadt als Fisch taucht die Metapher wieder auf:

Überwintern, das Maul am Grund.

Authentisch wird der Band auch durch poetische Reminiszenzen zu Hans Arp, Franz Fühmann, Emil Juliš, František Listopad, Peter Huchel, Jan Skácel, František Halas u.a. Im Bezug auf den Freundeskreis ist im Grunde genommen eine Geschichte der Solidarität zu entdecken. In der Erinnerung an Erich Arendt findet sich folgende Notiz:

Nach der Abreise fand ich auf der Tischdecke ein Kuvert mit der Chiffre L. Darin lagen einige größere Banknoten und ein Zettelchen: „Bitte nicht kommentieren. Erich.“

Peter Gehrisch, Ostragehege, Heft 48, 2007

Sommerbuch der kleinen Wünsche

– Surrealist ohne Manifest: Poesie und Prosa des tschechischen Dichters Ludvík Kundera. –

Auf dem Deckblatt steht neben seinem Namen auch ein rätselhafter Titel. Was, um Himmels willen, bedeutet „el do Ra Da(da)“? Klar, dass es irgendwas mit Dada zu tun haben muss. Tatsächlich lernte Ludvík Kundera, der heute zu den bekanntesten tschechischen Gegenwartsdichtern zählt, den von ihm hochgeschätzten dadaistischen Künstler Hans Arp 1946 in Paris anlässlich einer Ausstellung kennen: „Ich war von der Gesetzmäßigkeit dieses surrealistischen Zufalls überzeugt“, schreibt er später über diese denkwürdige Begegnung. Weniger als das Dada im Titel dürfte aber das kleine Wörtchen „Ra“ zu entschlüsseln sein, denn hier verästelt sich der europäische Surrealismus ins Spezielle hinein.
Zwar war der Surrealismus ein europäisches Phänomen; sonst gäbe es einen Dichter wie den Rumänen Gellu Naum nicht, dessen Werk inzwischen in einer profunden Ausgabe im Verlag Urs Engeler Editor auch auf Deutsch vorliegt. In Tschechien waren es aber zunächst die Dichter Nezval und Teige, die 1922, „an einem Herbstabend“, der Avantgarde einen Grundstein legten, indem sie eine Bewegung namens „Poetismus“ erfanden. Eine „Anthologie des Poetismus“ gab Kundera, der Cousin von Milan Kundera und Neffe des Pianisten Ludvík Kundera im Rahmen der Tschechischen Bibliothek bei der DVA mit heraus.
Die tschechische surrealistische Gruppe um Nezval gründete sich erst im Jahr 1934. In dieser Linie muss man auch die Künstlergruppe Ra sehen, der sich bald auch Kundera anschloss. Ra war eine typische Nachkriegsgründung, deren Ausgangspunkt der Surrealismus der Vorkriegszeit blieb, auch wenn man sich später gegen die „reine Lehre“ eines André Breton abzugrenzen begann. Manifeste und Mitgliederlisten gab es bei Ra nicht. Man dachte und schrieb innerhalb der Gruppe wohl aber surrealistisch. Auch an Kunderas Gedichten aus dieser Zeit ist das nicht spurlos vorübergegangen:

Du sagst kompass
und das ist
als segle ankerlos der mund

Aber Ludvík Kundera ein Surrealist? Diese Zuordnung greift zu kurz.
Spätestens seit den 80er Jahren ist sein Ton mehr ironisch-lakonisch als irgendwie surrealistisch. Kunderas Entwicklung ist an dieser von Eduard Schreiber vorzüglich besorgten Auswahl, die auch Erstabdrucke wiederaufgefundener Texte enthält, ebenso nachzuvollziehen wie das Ringen um eine eigene Sprache in den Zeiten des Protektorats. Damals wurde der gerade einmal 23-Jährige als Fremdarbeiter nach Berlin-Spandau geschickt. Dort schrieb er an einem Manuskript mit dem lakonischen Titel „Roman“, doch ein Romancier ist Kundera nie geworden. Auf Deutsch trägt der Text den schlichten Titel Berlin (VDG Verlag, Weimar 2000) und die Gattungsbezeichnung Erzählung.
Vielmaschig ist das Netz zwischen dem 1920 in Brünn geborenen und Litomerice aufgewachsenen Kundera und seinen (lebenden und toten) deutschen Freunden und Kollegen, die er fast alle ins Tschechische übersetzt hat: Peter Huchel, Franz Fühmann, Günter Kunert, Heinz Czechowski, Erich Arendt, Hanns Cibulka und viele andere. Dem in märkischer Abgeschiedenheit lebenden Peter Huchel ist in el do a Da(da) ein schöner Text gewidmet, ein anderer dem großen tschechischen Dichter Jan Skácel, der wie Kundera eine Zeitlang als Zeitungsredakteur arbeitete. Oder den beiden hierzulande so gut wie unbekannten Lyrikern Emil Julis und Frantisek Listopad.
Viele Texte der Sammlung, die zuvor nur in Zeitschriften erschienen sind, hat Herausgeber Eduard Schreiber selbst übersetzt. Eine Perle ist Reiner Kunzes Nachdichtung von „Grummetwunsch“, einem Gedicht aus Kunderas Sommerbuch der Wünsche und Beschwerden aus dem Jahr 1962.
Zu Ehren kam Ludvik Kundera spät. 2002 wurde ihm auf der Leipziger Buchmesse der Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass dieser Dichter zwischen 1948 und 1961 fast nichts und ab 1970 überhaupt nichts mehr veröffentlichen durfte. Da galt es für ihn schlicht zu „Überwintern“, wie es die Titel einer ganzen Serie von Gedichten, deren Motiv alljährlich wiederaufgenommen wurde, empfehlen:

ich deklinierte Bitterkeit mir wiederholt und mit Gefallen
Voll Furcht schlug ich ein paar berühmte Nummern auf
Mit diesem Volk, so rein, so klar?
(das Fragezeichen ist von mir)

heißt es in „Überwintern 1975“, und nur Wassertonne, Nussbäume und Holunder erweisen sich über die Jahre hin als einigermaßen beständig.
Einen besonderen Platz im Werk Kunderas nehmen seit je, anknüpfend an Nezvals Äußerung, dass das „dichterische Werk im Grunde genommen die Struktur des Traums“ habe, die Träume ein. 1979 wird ein ganzes Buch daraus, Sny, Träume. In späteren Träumen – 1995 erscheint ein Sny tez (Auch Träume) betitelter Band – erscheinen ihm immer öfter Gestalten aus einer untergegangenen Welt, wie die Baronin Dubska alias Marie von Ebner-Eschenbach oder der österreichische Erzähler Ferdinand von Saar.
Dass der leidenschaftliche Teetrinker und Weinkenner Ludvík Kundera stets für Überraschungen gut ist und alle Ismen hinter sich lässt, zeigen nicht zuletzt die 2003 im Band XI seiner tschechischen Werkausgabe erschienenen dreizeiligen „Teeporträts“, die mit der Form des japanischen Haiku spielen und manchmal in einer Frage enden:

Am Pass blieb stecken ein Karren.
Vergeblich knallt der Knabe die Peitsche.
Naht Sturm oder will uns nur Dämmerung narren?
(„Darjeeling“).

Volker Sielaff, Der Tagesspiegel, 17.5.2009

Ein Leben für die Literatur

– Gedichte, Erzählungen und Erinnerungen von Ludvík Kundera. –

– Sein Schaffen ist vielseitig und seine Vermittlertätigkeit stupend: Ludvík Kundera, 1920 in Brünn geboren und seit Jahrzehnten in der mährischen Kleinstadt Kuntát lebend, gilt als namhafter Lyriker, Dramatiker und Essayist, vor allem aber als einer der bedeutendsten Übersetzer deutschsprachiger und französischer Literatur ins Tschechische sowie tschechischer Literatur ins Deutsche. Hierzulande wird er in erster Linie als Vermittler wahrgenommen; nun ist es an der Zeit, den Autor zu würdigen. –

Kundera, ein Cousin des Schriftstellers Milan Kundera, studierte Germanistik und Bohemistik in Prag und Brünn, debütierte 1942 in einer surrealistischen Zeitschrift mit Gedichten und wurde 1943 zur Zwangsarbeit nach Berlin-Spandau verschickt, wo er an Diphtherie erkrankte. Nach seiner Entlassung lebte er halblegal in Brünn, schrieb und widmete sich seiner zweiten Begabung, der bildenden Kunst. Seine Interessen führten ihn 1946 nach Paris (wo er Hans Arp begegnete), bald darauf wurde er zum Mitbegründer der tschechischen surrealistischen Gruppe Ra. Künstlerfreundschaften und -kooperationen bestimmten in der Folge nicht nur die Tätigkeiten des Dichters, sondern auch des Zeitschriftenredaktors Kundera, nach dem avantgardistischen Grundsatz, das Leben zur Kunst zu machen und die Kunst zum Leben.
Als folgenreich erwies sich die Bekanntschaft mit Brecht, 1954. Bereits 1959 startete Kundera eine tschechische Brecht-Ausgabe, um wenig später mit eigenen Stücken an die Öffentlichkeit zu treten. Doch seine Karriere als Dramatiker und Chefdramaturg am Schauspielhaus Brünn überlebte den „Prager Frühling“ nicht lange. 1970 erhielt Kundera Publikationsverbot; selbst Übersetzungen konnte er zum Teil nur unter Pseudonym veröffentlichen. Dazu gehört eine umfangreiche Anthologie des deutschen Expressionismus, gehören Nachdichtungen von Georg Büchner und Paul Celan, von Trakl, Rilke, Benn und Huchel. – Vieles, was Kundera in schwierigen Zeiten als Autor, Übersetzer und Herausgeber schuf, machte ihm nach der Wende alle Ehre.
In seiner Heimat wurden seine literarischen Werke in Einzel- und Gesamtausgaben sorgfältig ediert, ebenso seine Monografien über Brecht und František Halas sowie seine Studien zur deutschen Romantik. In Deutschland erschienen seine repräsentativen Anthologien tschechischer Lyrik. Verdienterweise erhielt Kundera zahlreiche Preise, vom Österreichischen Staatspreis (1993) bis zum Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung (2002).
Der Autor Ludvík Kundera ist nun in dem 400 Seiten starken Band el do Ra Da(da) zu entdecken, den Eduard Schreiber mit Kompetenz zusammengestellt und übertragen hat. Es handelt sich um die bisher umfangreichste Kundera-Auswahl in deutscher Sprache; sie umfasst Lyrik, Prosa und Erinnerungstexte aus verschiedenen Schaffensphasen und gibt illustrative Kostproben des grafischen Werks.
Ein Grossteil von Kunderas literarischem Œuvre der frühen und mittleren Jahre steht in der Tradition des tschechischen Poetismus und des französischen Surrealismus, wird beherrscht von Traumbildern und kühnen Metaphern („wie Hypermangan färbte mich Gefühl in Lila“). Dies gilt für die Poesie ebenso wie für die Prosa (z.B. „Züge, Züge“), die nie zu epischen Formen finden sollte. Nach 1968 setzt sich ein ruhigerer, bisweilen sogar elegischer Ton durch, wobei Kundera von seinen Verspieltheiten nie wirklich ablässt. Anders als in seinen satirisch-politisch gefärbten Stücken, die Experiment mit Regimekritik zu verbinden versuchten, schweift er in seinen Gedichten lieber durch „Phantomasien“ oder durch mährische Landschaften, betreibt Kasus-Exerzitien (im Zyklus „Die Fälle“) und Buchstabenspiele (im Zyklus „el do Ra Da[da]“).
Ab 1980 sind es dann die „kleinen Freuden“ des Alltags, die thematisch überhandnehmen, sowie Erinnerungen – darunter auch „Erinnerungen an Städte/Stätten, wo ich niemals war“. Diese bilden ein originelles poetisch-fiktives „Wanderbüchlein“, das nach Lissabon und St. Gallen, Woronesh und Bir el Abbas und last, not least in die Stadt „lendrian“ führt, der Kundera mit feinem Humor seine Reverenz erweist. Überhaupt drückt das Persönliche in dieser Schaffensphase ungezwungen durch. Zu den evokativsten Texten des Bandes gehören Kunderas Erinnerungen an Verwandte und Bekannte, an Dichter- und Malerfreunde wie Peter Huchel, Jan Skácel und Bohdan Lacina. Die sinnlich-einfühlsamen Porträts zeigen Kundera als feinen Menschenbeobachter, der Schreiben nicht als Selbstzweck, sondern als Medium versteht. Es ist dieser vermittelnde Eros, der den Schriftsteller mit dem Übersetzer verbindet, auf bewundernswerte Art.

Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 11.12.2007

So nah und doch so fern

– Surreal: das Werk von Milans Cousin Ludvík Kundera. –

Ludvík Kundera, der ältere Cousin von Milan Kundera, hat unter anderem Goethe und Schiller, Heine und Büchner, Rilke und Trakl, Benn und Brecht, Seghers und Böll, Celan und Huchel ins Tschechische sowie etwa Vítezslav Nezval und František Halas ins Deutsche übertragen. Dafür erhielt er 1993 den Österreichischen Staatspreis für Übersetzungen. In den vergangenen 65 Jahren hat er Dutzende Werke lyrischer, epischer und dramatischer Art veröffentlicht. Aber wer kennt bei uns Ludvík Kundera?
Die Ignoranz gegenüber der künstlerischen Produktion unserer unmittelbaren Nachbarn ist beschämend. Zu kulturellem Hochmut gibt es keinen Anlass, wo man jeden inländischen Rülpser für bedeutsamer hält als die Weltliteratur, die nur wenige Kilometer jenseits der Staatsgrenze entsteht. Ludvík Kundera hat seine Wurzeln im tschechischen Poetismus der Zwanzigerjahre und im Surrealismus, der in der Dichtung und der Malerei der Tschechischen Republik eine lange und diversifizierte Tradition hat. Zu den Autoren, die Kundera übersetzt hat, gehören charakteristischerweise auch Arp, Apollinaire, Eluard und Chlebnikov.
In Kunderas Gedichten kommt sehr oft ein „Ich“ vor, aber es macht sich nicht zum Gegenstand, es besingt nicht seine Gefühle und Sehnsüchte, sondern bezeichnet den subjektiven Standpunkt, von dem aus eine poetische Welt entworfen wird. Ein paar Gedichte wirken konventioneller, es tauchen Landschaften, Städte, Dichterkollegen auf. Einige Gedichte scheinen herbeifantasieren zu wollen, was eine restriktive Umgebung nicht als Reales erleben ließ. Zwei Gedichte, die unmittelbar nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 1968 geschrieben wurden, sind gar politisch so unmissverständlich, dass sie erst 1992 veröffentlicht werden konnten.
Wenn eine Häufung von gewagten Bildern ein Kennzeichen der Lyrik ist, dann muss man auch Kunderas erzählender Prosa eine Affinität zur Lyrik attestieren. In dem längeren, teils autobiografischen, teils poetologischen Text „Züge Züge“, der ursprünglich die Gattungsbezeichnung „Roman“ trug, geht die Prosa immer wieder unvermittelt in Verse über. Andererseits enthalten Gedichtsammlungen, so der Zyklus „el do Ra Da(da)“, der dem Auswahlband den Titel gab, auch Prosagedichte. Das Nebeneinander von scheinbar Unvereinbarem, die Aufhebung unserer Alltagsvernunft zugunsten einer Traumlogik, die ihre eigenen Zeitfolgen und Kausalitäten kennt, bestimmen Kunderas Schriften, vergleichbar der surrealistischen Malerei. Ludvík Kundera hat sich auch als bildender Künstler einen Namen gemacht.
Der letzte Abschnitt des Bandes enthält Erinnerungen, unter anderem an Erich Arendt, an Hans Arp, an Franz Fühmann und an Peter Huchel, sowie eine Art Manifest der Maler- und Dichter-Gruppe Ra, der Ludvík Kundera angehörte, aus dem Jahr 1948. Es skizziert die Gemeinsamkeiten mit und die Abgrenzungen gegenüber anderen europäischen Spielarten des Surrealismus, thematisiert die veränderte Situation nach dem Zweiten Weltkrieg und balanciert geschickt zwischen den sich ankündigenden Dogmen in der Kulturpolitik und einem grundlegenden Bekenntnis zur „experimentellen Linie“.

Thomas Rothschild, diepresse.com, 28.9.2007

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Volker Strebel: Gesetzmäßigkeit des surrealistischen Zufalls
literaturkritik.de, Juli 2007

Martin Hagemeyer: Traum und wacher Blick
martinhagemeyer.npage.de, 13.4.2011

 

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für Ludvík Kundera 

Kunštát! Ich grüße dich, halasisch,
ich altes Hradec. Selbst auf Entfernung höre ich,
was du dir dort aus deiner weißen Kanne
in die Teeschälchen für Gedichte abgießt.

In einer Nacht, so tief wie einst Schneewehen,
lass ich die Taufglocke klingen:
Ehre dem Dichter! Möge sie ihm den Dampf seines Tees
im Lampenlicht zum Erbeben bringen.

*

Abkühlung. Schafskälte, Wolfsfrost.
Schreib ein Gedicht ich ans Fenster. Ihnen mein Dichter,
verbirgt es nichts. Und dennoch schweigt es.
Es war wahrscheinlich immer schon stumm. 

Vít Slíva
Übersetzung Kathrin Janka

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + IMDb

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDbInternet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ludvík Kundera

 

Ludvík Kundera – Fragment eines Gesprächs 2007 zur Ausstellung Dada East.

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