Ludvík Kundera: Quer durch Phantomasien

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ludvík Kundera: Quer durch Phantomasien

Kundera-Quer durch Phantomasien

QUER DURCH PHANTOMASIEN

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Endlos landschaft. Wo man neun, acht zählt, nur pfeifen, wo man auf sieben hofft, wo sechs und fünf wie eine tat klingen und vier, drei wieder wie ein aufruf, bevor zwei und eins heransirren, und die welt als null sich wölbt und runden wird im nichts. Doch nichts passiert, neugierig kündigt sich verlangen an, den zwischenraum zu tilgen, wieder im wortfluss ab der eins zu zählen. Entfernte punkte, wahrscheinlich menschen. Jemand wie vogelbeeren aufgefädelt. Dunkelheit formt helle, helle formt schatten. Phantomasien hinter uns. Aber in sichtweite.

 

 

 

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Aus den Fieberträumen einer Berliner Krankenbaracke kehrte der junge Ludvík Kundera im Herbst 1943 nach Brünn zurück. Ein Dreivierteljahr zuvor war er als Zwangsarbeiter aus der von den Deutschen zum Protektorat Böhmen und Mähren erklärten Tschechoslowakei nach Berlin zum „Totaleinsatz“ bei Siemens in Spandau transportiert worden. Die Berliner Nächte mit Fliegerangriffen, Explosionen, Einschlägen, Kolonnen von Fremdarbeitern hatten sich tief in sein Gedächtnis gegraben. Schwer an Diphtherie erkrankt wurde er schließlich nach Brünn zurückgeschickt. Hier lebte er bis zur Befreiung der Stadt im April 1945 halblegal, stets mit der Angst, erneut ins „Reich“ geholt zu werden.
Die Anfänge des Surrealismus in der ČSR hatte er noch als Jugendlicher aufmerksam begleitet, Bretons Nadja oder Die kommunizierenden Röhren waren Mitte der 30er Jahre, teilweise von Vítězslav Nezval, dem tschechischen „Surrealismuspapst“, selbst mit übersetzt, in Prag erschienen, Breton und Eluard hatten 1935 Prag und Brünn besucht und Vorträge gehalten. Das Prinzip der écriture automatique faszinierte auch den jungen Kundera. Als Nezval die tschechische Surrealistengruppe, dem Diktat der sowjetischen Kunstauffassung folgend, 1938 eigenmächtig auflöste, ging Kundera auf Distanz zu seinem poetischen Vorbild und wandte sich František Halas zu.
In der Folge bildeten sich verschiedene surrealistische Gruppen, im Sommer 1942, auf 1937 vordatiert, erschien der illegale Sammelband Zerfetzte Puppen (Roztrhané panenky) der Gruppe RA, in der sich Maler, Fotografen, Autoren zusammengefunden hatten. Neben Kundera zählten u.a. Josef Istler, Miloš Koreček, Bohdan Lacina, Zdeněk Lorenc und Vilém Reichmann dazu, die oft gemeinsam veröffentlichten.
Die Monate nach der Rückkehr aus Berlin waren von fieberhafter Aktivität bestimmt. Kundera arbeitete an mehreren Projekten, auch an Prosatexten. Sein Freund Istler, der im Badezimmer seiner Prager Wohnung ein kleines Atelier eingerichtet hatte, arbeitete mit Kundera an den Zyklen Lawinen (Laviny), Todesfurche (Rýha smrti) und Köpfe und Jahre (Hlavy a léta) – der letztere erschien im April 1945 in zehn Exemplaren mit Frottagen von Istler. Die Texte Kunderas sind deutlich von dessen Frottagen beeinflusst. Malerei inspirierte ihn generell zum Vers. Die Bilder, die er sieht, sind Bilder aus der Traumwelt (in jener Zeit begann Kundera den Roman Die andere Seite von Alfred Kubin ins Tschechische zu übersetzen).
Auch der Zyklus Quer durch Phantomasien (Napříč Fantomázií) ist von Bildern geprägt. Er entstand nach Fokalks von Miloš Koreček (eine Weiterentwicklung des Dekalks, einer graphischen Technik, bei der mit Farbe bestrichene Fotoplatten aufeinandergelegt und abgezogen werden).
Phantomasien ist eine Urlandschaft, in der sich Phantome bewegen, Kunderas Lieblingsgestalten. So scheinen in diesen Texten die noch nicht so fernen Echos surrealer Bilderwelten auf. Phantomasien läßt viele Deutungen zu, aber selbst in diesen Ende der 70er Jahre entstandenen Texten sind Nachklänge der Berliner Zeit nicht auszuschließen, allerdings versetzt mit Kunderas Ironie, denn „am zweiundzwanzigsten morgens, am zweiten frühlingstag, kratzt ein fragwürdiger held mit der schaufel schnee zusammen“, womit sich der Dichter an seinem Geburtstag zu erkennen gibt.
Quer durch Phantomasien erschien 1980 in einer Auflage von 5 Exemplaren. 

Radonitzer, Nachwort

 

Ludvík Kundera,

der zu den bedeutendsten tschechischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt, hätte dieses Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert. Sein Werk ist geprägt durch die Erfahrungen von Krieg und Diktatur. Unter dem Einfluss französischer Surrealisten wurden Träume zu einer unerschöpflichen Quelle seiner Dichtung; phantastische Elemente grundieren seine Verse, ausgedrückt in einer Sprache, die in überraschenden Wendungen die Risse in der Wirklichkeit benennt und die Verhaue der Zeit durchbricht: „Durch wolkenspalten tastet ein busch / durch mondspalten dringt selbst das geringste lächeln“.
Nach Überwintern (1971–1989) (2014), einem dichterischen Zeugnis des Durchhaltens, des (Über-)Lebens in schwierigen Zeiten, erscheinen bei hochroth im Jubiläumsjahr zwei Gedichtzyklen Kunderas, die vertiefende Einblicke in die surrealistische Poetik des Autors geben.

hochroth, Ankündigung

 

Beitrag zu diesem Buch:

Volker Strebel: Es antworteten Hagelschläge
literaturkritik.de, April 2021

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + IMDb

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDbInternet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK

 

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ludvík Kundera

 

Ludvík Kundera-Fragment eines Gesprächs 2007 zur Ausstellung Dada East.

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