Ludwig Steinherr: Medusen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Ludwig Steinherr: Medusen

Steinherr-Medusen

MEDUSEN

Nach dem Sturm angespült
finden wir fünf – sechs am Strand –
gewaltig wabernde Portionen
Alien-Pudding –

Mythischer Ursprung des Lebens – schaumgeboren
aaaaavom Urozean
vor Jahrmillionen –
und dabei ultra-schriller Futurismus

Neon-violette Party-Gimmicks –
Silikon-Implantate –
Sex-Spielzeug – geplatzte Götter-Kondome –

Gleißende Gehirne ohne Gehirn –
ganz durchdrungen von Licht und Verlangen –

Giftpfeile verschießend – Leben verschlingend –

Was auch immer Evolution und Schöpfer
mit dir vorhaben –

hier glibbert der erste Entwurf
vor dir im Sand –

gummiartig wabbelnd
phosphoreszierend in gleißendem Licht –

eine Art von Lobpreis und Tanz

obszön bis zur mystischen Entrückung –

da draußen im Meer
müssen noch Tausende dieser Wahnsinnsdinger treiben

organisch zuckende Satellitenschüsseln

yeah – yeah – yeah

in explodierendem Jubel

 

 

 

Schneekristall auf dem Ärmel – mitten im Sommer

– Eichstätter Gastdozent Ludwig Steinherr präsentiert mit Medusen neuen Gedichtband. –

Unter einer Meduse versteht man laut Lexikon ein Lebensstadium einer Qualle; in der Mythologie ist die Medusa eine der drei Gorgonen-Schwestern, die durch eine Göttin in ein Monster mit Schlangenhaaren, Schweinshauern, Schuppenpanzer, glühenden Augen und heraushängender Zunge verwandelt wurde, deren Anblick Betrachter zu Stein erstarren lässt.
Beide Bedeutungen klingen an im Titel des Gedichtbandes, den der Lyriker Ludwig Steinherr nun vorlegte: Medusen.
Mit schöner Regelmäßigkeit legt Steinherr neue Gedichte vor, zuletzt machte der langjährige Lehrbeauftragte an der Katholischen Universität (KU) für das Fach Philosophie allerdings zwei Ausnahmen: Bücher mit Gedichten zu Gemälden Vermeers wie zur Geburt eines Kindes publizierte er außer der Reihe. Medusen setzt die lange Reihe der in gleicher Ausstattung erscheinenden Bände fort, in der zuletzt die Titel Lichtgesang und Alpenüberquerung erschienen waren. Damit rundet sich die Sammlung dieser Bände des 1962 in München geborenen Autors schon auf rund 20 Titel, für die er auch bereits etliche Auszeichnung erhielt.
Die 76 Gedichte des neuen Bandes sind in zwölf Kapitel unterteilt, eine symbolische Zahl, die ebenso für die Jünger Jesu wie für die Ritter der Tafelrunde des Königs Artus gilt, hier aber am ehesten an den Jahreslauf erinnern könnte, zumal es im zwölften Kapitel um Silvester, im elften um „Christmas Crackers“ und zuvor im Jahreskreis ebenfalls halbwegs passend um den Valentinstag, das „Sommerloch“ (Kapitel 6) oder „Herbst-Etüden“ (Kapitel 8) geht. Etliche der versammelten Texte haben, was die vordergründige Deutung des Titels nahelegt, Tiere zum Thema: Es geht um Tiefseefische und Frösche, Vögel und Rochen, auch um einen „sehr alten Hund“. Facettenreich präsentiert sich das Titelgedicht „Medusen“, das von einem Urlaubserlebnis ausgeht („Nach dem Sturm angespült / finden wir fünf – sechs am Strand / gewaltig wabernde Portionen / Alien-Pudding“), dann aber den Blick auf mythologische Hintergründe wie auf den Beginn der Evolution hin erweitert und „diese Wahnsinnsdinger“ in originellen Bildern spiegelt, die Assoziationen des Betrachters abbilden: Von „Gleißenden Gehirnen ohne Gehirn“ und „organisch zuckenden Satellitenschüsseln“ ist die Rede.
Das lyrische Ich betrachtet nicht nur Medusen, es besucht auch Museen: Steinherrs Faible für die bildende Kunst zieht sich wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk; auch in diesem Band werden wieder Bilder beschrieben, geht es um Jan Vermeer, Botticelli, de Goya und andere Künstler, insbesondere im ersten Kapitel, dessen Auftakt-Gedicht „Anweisung in einer Galerie“ halb ironisch, halb ernst Vorgaben zur angemessenen Bildbetrachtung gibt:

Wenn Farben sprechen halten Erwachsene den Mund!
Werden Sie erst ein Neugeborenes!
Ein Hund! Ein Goldfisch! Eine Museumsfliege!
Warten Sie!
Bis das Bild das Wort an Sie richtet –
und wenn es die Ewigkeit dauert!
Schauen Sie!

Es zeigt ein Charakteristikum der Lyrik Ludwig Steinherrs, die überraschende Pointe und Wendung am Schluss des Textes.
Auch das Thema des Alterns klingt in einigen Texten an; Das Erleben des Todes spielte schon in vorigen Bänden eine Rolle. Das lyrische Ich kleidet das Erleben des Älterwerdens sensibel in zärtliche Bilder wie in dem Gedicht „Kristalle“. Darin heißt es:

Ich brauche noch immer keine Brille
um in der Gebets-Dämmerung den weißen Faden
vom schwarzen zu unterscheiden
Nur ab und zu winzige Gedächtnislücken
mikroskopische Vergesslichkeiten
die ich bestaune wie Schneekristalle
auf meinem Ärmel – mitten im Sommer.

Diesem neuen Band darf man wieder viele Leser wünschen: Seine Lektüre kann Momente der Ruhe, der Kontemplation und des Staunens vermitteln.

buk, Eichstätter Kurier, 27.3.2020

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Timo Brandt: Die Sinnlichkeit, die sich nicht verliert
signaturen-magazin.de

Helga Arend: Medusen
literaturkritik.de, September 2018

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Ludwig Steinherr liest sein Gedicht „Sekunde“.

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