Albert Ehrensteins Gedicht „Dämmerung“

ALBERT EHRENSTEIN

Dämmerung

Irgendwo scheint die Sonne,
ich spüre es nicht.
Irgendwo leben Menschen,
ich weiß es nicht.
Irgendwie lebe ich,
es kann wohl sein.
Irgendwann sterbe ich,
so wird es sein.

aus: Albert Ehrenstein: Werke Bd. 4/1, Gedichte I. Wallstein Verlag, Göttingen 1997

 

Konnotation

Die Perspektive der Heillosigkeit war seine Domäne. Der expressionistische Dichter Albert Ehrenstein (1887–1950), als Sohn ungarischer Eltern in Wien geboren, hatte schon in seine frühesten Prosatexte und Gedichte die Gewissheit eingeschrieben, dass das Erden-Leben in „Leere und Öde“ versinkt.
Vom „O Mensch“-Pathos in Kurt Pinthus’ legendärer expressionistischer Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) grenzten sich seine Gedichte durch die totale Fixierung auf die Verzweiflung ab. Das lyrische Ich scheint taub und fühllos geworden zu sein angesichts der metaphysischen Bitternis, in die es hinabgestürzt ist. In lapidarer Knappheit wird das Zurücksinken des Subjekts in absolute Gleichgültigkeit und Schicksalsverfallenheit protokolliert. Das nach 1910 entstandene Gedicht reiht furchteinflößende Existenzbefunde hintereinander. Gleichwohl beschränkt sich das Ich aufs Abwinken – was ihm bleibt, ist die Erwartung des eigenen Untergangs.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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