Albert Ehrensteins Gedicht „Verlassen“

ALBERT EHRENSTEIN

Verlassen

Wo ich auch umgeh,
Tut mir das Herz weh,
Sie hat mich verlassen.

Wenn ich herumsteh,
Bald hier, bald da geh,
Ich kann es nicht fassen.

Mein Lieb, du mein Weh,
Du mein Kind, du mein Reh,
Hast mich wirklich verlassen?

nach 1914

aus Albert Ehrenstein: Werke Bd. 4/1, Gedichte I. Wallstein Verlag, Göttingen 1997

 

Konnotation

Bereits in der legendären Expressionismus-Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) wurde der aus Wien stammende Poet Albert Ehrenstein (1886–1950) als „der Dichter der bittersten Gedichte deutscher Sprache“ vorgestellt. Die Scham über eine verfehlte Existenz und die Trauer über das Leben als einer Krankheit zum Tode prägt schon seine erste Novelle „Tubutsch“ (1911) und auch viele seiner späteren Gedichte. Das Wort „Verlassen“ darf als Grundvokabel seiner Dichtung gelten.
Von allem Lebensmut „verlassen“ wurde Ehrenstein in dem Augenblick, als er spürte, dass er seine große Liebe, die Schauspielerin Elisabeth Bergner, deren Karriere er nach 1914 entscheidend befördert hatte, nicht mehr für sich gewinnen konnte. Auch erkannte er früh den Verrat der Ideale der deutschen Novemberrevolution 1918 durch die regierenden Parteien und den unaufhaltsamen Weg der Republik in die Diktatur. So ging er schon 1931 ins Exil, zunächst in die Schweiz, und nach einer langen Irrfahrt schließlich nach New York, wo er 1950 völlig vergessen in einem Armenhospital starb.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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