Albrecht Goes’ Gedicht „Sieben Leben“

ALBRECHT GOES

Sieben Leben

Sieben Leben möcht ich haben:
Eins dem Geiste ganz ergeben,
So dem Zeichen, so der Schrift.
Eins den Wäldern, den Gestirnen
Angelobt, dem großen Schweigen.
Nackt am Meer zu liegen eines,
Jetzt im weißen Schaum der Wellen,
Jetzt im Sand, im Dünengrase.
Eins für Mozart. Für die milden,
Für die wilden Spiele eines.
Und für alles Erdenherzleid
Eines ganz. Und ich, ich habe –
Sieben Leben möcht ich haben! –
Hab ein einzig Leben nur.

um 1940

 

Konnotation

Der Wunsch nach Unvergänglichkeit und nach Verewigung der Existenz nimmt Gestalt an in der alten Utopie, „sieben Leben“ zu haben. Der fromme schwäbische Dichterpfarrer Albrecht Goes (1908–2000), sozialisiert in der Tradition des protestantischen Pfarrhauses und durch die idealistische Philosophie des Tübinger Stifts, artikuliert diesen Wunsch nach Dauer in der Form des lyrischen Gebets.
„Sprache ruft immer ins Geheimnis hinein“, hat Albrecht Goes in einer Erzählung verkündet. Von dem Geheimnis der notwendig schuldhaften Existenz des Menschen sprechen viele seiner Texte. Sein um 1940 entstandenes Gebet von den „sieben Leben“ verweist auf einen Lebenshunger, der ungestillt bleibt. Dem Geist, der rauschhaft erfahrenen Natur, dem Leid des Menschenlebens und nicht zuletzt der von Goes abgöttisch verehrten Musik von Mozart will das lyrische Ich je ein Leben widmen – um am Ende seufzend einzugestehen, dass man auf die Vergänglichkeit eines einzigen Lebens zurückgeworfen bleibt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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